Mit Freud fing es an

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Welche Rolle spielte die Psychoanalyse im Fall Woody Allen? Was wussten die Analytiker von Allen über den Missbrauch seiner Quasi-Tochter Soon-Yi und vielleicht sogar seiner Kinder? EMMA bat den amerikanischen Ex-Analytiker Jeffrey M. Masson, der aus Protest aus seiner Zunft ausgetreten ist, um seine Meinung. Masson erregte erstmals international Aufsehen, als er nach Studium des Freud-Nachlasses dem Vater der Psychoanalyse vorwarf, sein Wissen um den sexuellen Missbrauch geleugnet zu haben, um seine Karriere nicht zu gefährden ("Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie") Massons letztes Buch in Deutschland trägt den Titel: "Die Abschaffung der Psychotherapie".

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Es heißt, dass Woody Allen 23 Jahre lang in Analyse war. Das erklärt, meine ich, warum er nicht verstehen konnte, dass seine sogenannte Affäre mit der Tochter seiner Lebensgefährtin nichts anderes als Inzest war. Denn die Psychoanalyse leugnet seit jeher die Existenz sexuellen Missbrauchs an Kindern: Nämlich seit 1905 Freud seine Meinung änderte und wider besseren Wissens behauptete, Frauen würden sich nicht an tatsächliche Inzesterlebnisse erinnern, sondern an ihr Verlangen nach Inzest. Die Erlebnisse wären eingebildet, phantasiert, erfunden, alles - nur nicht wirklich geschehen.

Das war damals ein dunkler Moment in der bereits reichlich dunklen Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Denn wurde von nun an ein Mann des sexuellen Missbrauchs an einem Mädchen bezichtigt, konterten die Gerichte flugs mit der "hysterischen Verlogenheit"; dem Begriff, den Freud selbst geprägt hatte. Es hieß, das Mädchen habe alles nur erfunden und lüge aufgrund ihres eigenen sexuellen Begehrens, ihres Bedürfnisses, den eigenen Vater zu verführen.

Den Männern gefiel diese Formulierung, Freud wurde zum Helden der sexuellen Revolution des 20. Jahrhunderts. Das Problem war nur, dass das, was Freud dachte, nicht stimmte. Und Freud wusste das, wie Dokumente, die ich während meiner Zeit als Projektleiter des Freud-Archivs studiert habe, eindeutig beweisen. Kein Wunder also, dass sich die führenden Köpfe der Psychoanalyse gegen eine Veröffentlichung dieser Dokumente gesperrt haben.

Alle Männer haben Schwierigkeiten, zuzugeben, dass Inzest vorkommt. Nicht, weil sie es nicht glauben können, sondern weil sie die Wahrheit nur allzu gut kennen. Entweder aus direkter eigener Erfahrung oder aus Gefühlsanwandlungen, die sie kaum unter Kontrolle haben. Als Freud seine Entdeckungen über sexuellen Missbrauch der Fachwelt mitteilte, lachten ihn die Kollegen aus: Es sei paranoid, den Frauen Glauben zu schenken. Dieses Gelächter war Politik. Denn viele dieser Kollegen gehörten selber zu den Tätern.

Das ist auch der Grund, warum es 50 Jahre gedauert hat, bis Sandor Ferenczis Tagebuch veröffentlicht werden konnte. Denn Ferenczi, Freuds Lieblingsschüler und der bedeutendste Analytiker nach Freud, hatte seinem Lehrer in einem unglücklich verlaufenen Gespräch unter vier Augen erklärt, dass es falsch war, den Frauen nicht zu glauben, denn sie hatten Ferenczi dasselbe gesagt. Sie waren als Kinder missbraucht worden. Ferenczi wusste das, weil es ihm nicht nur seine weiblichen Patienten erzählt hatten, sondern weil auch ein paar Männer, die bei ihm in Analyse waren, den Mut aufbrachten, ihm zu gestehen, dass sie tatsächlich ihre Töchter und andere Mädchen missbraucht hatten.

Doch was hat das alles mit Woody Allen zu tun? Ganz einfach: Die Psychoanalytiker haben soviel Angst, ihrem Meister zu widersprechen, dass sie auch weiterhin die Augen vor der Wahrheit verschließen, trotz der vielen tausend Frauen, die ihren Analytikern erzählen, oder es zumindest versuchen, dass sie als Kind missbraucht worden sind. Die Analytiker glauben ihnen einfach nicht. Sie behaupten, es wäre pure Phantasie oder nur Wunschdenken.

Da Inzest für Analytiker nicht existiert, wie könnte Woody Allen sich dessen dann schuldig gemacht haben? So mancher Analytiker wäre ohne Zweifel bereit, aus Soon-Yi Previns Verlangen nach Woody Allen eine Inzestphantasie zu konstruieren. Das aber, was Woody Allen seiner sozialen Tochter tatsächlich angetan hat, würde derselbe Analytiker als unwichtig abtun, da für einen Analytiker reale Ereignisse niemals so interessant sind wie solche, die der Phantasie entspringen.

Bei amerikanischen Männern sind Inzestwitze beliebt. Woody Allen ist ihr Held. Doch sexueller Missbrauch an Kindern ist kein Witz, dort, wo er geschieht und er geschieht überall. Nur in den Vereinigten Staaten aber gibt es bisher verlässliche Statistiken darüber: Danach wurden 38 Prozent aller Frauen sexuell missbraucht, bevor sie das 18. Lebensjahr erreichten, entweder von einem Familienmitglied (Vater, Onkel, Großvater usw.) oder einem Außenstehenden (Stiefvater, Freund der Familie usw.). Eines Tages werden wir auch die Zahlen für Deutschland wissen, und ich bin sicher, sie werden sich kaum von den amerikanischen unterscheiden. Europa hinkt den Vereinigten Staaten in solcher Art Untersuchungen im allgemeinen um etwa zehn Jahre nach.

Doch vielleicht möchte Europa den Missbrauch an Kindern lieber stillschweigend übergehen und sich gleich dem nächsten amerikanischen Schritt anzuschließen: dem Gegenschlag. Manche Eltern, die des sexuellen Missbrauchs an ihren Kindern bezichtigt werden, wehren sich im Medizinerjargon gegen diesen Vorwurf: Sie behaupten, Amerika leide unter dem "False Memory Syndrome", einer Art Erinnerungsfälschung. Sie werfen ausgerechnet den kritischen Therapeuten (deren Berufsgruppe doch seit Freuds Zeiten am vehementesten die reale Existenz sexuellen Missbrauchs leugnet) vor. Diese würden ihre Patienten zwingen, sich an Szenen zu erinnern, die in Wahrheit nie passiert sind. Diese Therapeuten würden Erinnerungen erfinden, verdrängte Ereignisse hervorholen, die nie stattgefunden haben und auch nie stattfinden konnten. Die Presse stürzte sich natürlich begeistert auf diese Gegenargumente.

Zweifellos gibt es auch solche Therapeuten. Solche, die, nachdem sie die letzten hundert Jahre die Existenz sexuellen Missbrauchs leugnen mussten, jetzt nur allzu bereit sind, seine Existenz anzuerkennen oder ihren Klienten sogar den Inzest aufzuzwingen. Denn jetzt ist Geld damit zu machen und berufliches Prestige zu erlangen. Aber auch für solche skrupellosen Therapeuten ist es nicht leicht, jemanden dazu zu bringen, an etwas zu glauben, was nie stattgefunden hat. Da ist es viel leichter, jemanden davon zu überzeugen, etwas tatsächlich Geschehenes wäre nicht passiert.

Und merkwürdig, während New Yorks Intelligenzia, vor allem die Männer, Woody Allen eifrig ihre Sympathie bezeugte, wusste die "Frau auf der Straße" nur zu genau, was er getan hatte. "Der Drecksack" war ihr einziger Kommentar. Diese Frauen wussten, dass es Inzest war, egal, was die Gerichte sagten oder das New Yorker Psychoanalytische Institut. Und am besten drückte es Woody Allens 14-jähriger Sohn aus. Er sagte: "Jeder weiß doch, dass man nicht mit der Schwester seines Sohnes schläft."

Das Wesentliche an einer inzestuösen Beziehung, besser gesagt, am sexuellen Missbrauch, ist die Dynamik der Macht. Existiert ein starkes Machtgefälle zwischen zwei Menschen, besteht keine Chance zur Gegenseitigkeit und zum Ausgleich, ist alles, was zwischen diesen zwei Menschen sexuell geschieht, zwangsläufig Missbrauch, das heißt, das Benutzen des einen durch den anderen. Ein Mädchen von 18, 19 oder 20 Jahren, das immer noch zur Schule geht, weiß noch nicht wirklich, was "Zustimmung" oder "Einwilligung" ist. Ihr fehlt die Erfahrung.

Wer hätte Soon-Yi denn auch erklären sollen, dass diese Art von Liebe Ausbeutung bedeuten kann, sie zur Pornografie für Woody Allen oder für andere Männer macht? Woody Allen bat seine "Freundin" sofort, "Mösenbilder" von ihr machen zu dürfen: Fotos ihrer Genitalien, die angeblich ihre "Karriere als Fotomodell" fördern würden. Da Woody Allen das junge Mädchen, wenn er nur gewollt hätte, in der Tat ohne weiteres beim Film hätte unterbringen oder ihr einen Job als Modell hätte verschaffen können, wie hätte sie Nein sagen können? Aber seit wann müssen Fotomodelle ihre Genitalien zur Schau stellen, um einen Job zu bekommen? Wer weiß, vielleicht müssen sie das tatsächlich, doch in dem Fall sollte nicht auch noch ihr "Vater" sie in einen Job drängen, der der Prostitution gleichkommt.

Natürlich verteidigte Woody Allen das, was er getan hat, als "Kunst" oder als "Freiheit" (Freiheit des Ausdrucks, Freiheit der Partnerwahl, seine Freiheit, ihre Freiheit). Doch Männer neigen stets zur Selbstherrlichkeit, wenn es um die Verteidigung von Pornografie geht, und nur Gleichgültigkeit dem wahren Leiden der Frauen gegenüber. Bei der Herstellung von Pornografie ebenso wie bei ihrer Konsumierung.

Man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu wissen, dass erwachsene Männer keinen Sex mit Kindern haben sollten, besonders nicht mit ihren eigenen. "Eigene" Kinder sind alle Kinder, die den betreffenden Mann als ihren Beschützer begreifen. Blutsverwandtschaft ist hierbei kein Kriterium. Frauen wissen dies mit Sicherheit und haben es immer gewusst. Nur hat man ihnen bis vor kurzem nicht erlaubt, öffentlich darüber zu sprechen.

Zu Freuds Zeiten gab es keine EMMA. Die Frauen waren darauf angewiesen, von ihm ihre Wahrheit bestätigt zu bekommen, aber er war nicht bereit, dafür seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Freud versuchte das nur ein einziges Mal und das lehrte ihn, auf wessen Seite die Macht steht. Es mussten 50 Jahre vergehen, bis Ferenczi den Mut hatte, Freud auf seinen Fehler aufmerksam zu machen.

Und zur Belohnung wandten sich die Analytiker von Ferenczi ab. Er konnte seine Inzestbeobachtungen erst in allerjüngster Zeit, nach weiteren 50 Jahren, veröffentlichen. Männer wissen, dass Frauen sexuell missbraucht werden, weil sie die Missbraucher sind. Sie geben es nicht zu, weil das nicht in ihrem politischen Interesse liegt. Die Frauen selbst wussten stets Bescheid. Doch sie wurden zum Schweigen gebracht.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Susanne Aeckerle

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