Alice Schwarzer schreibt

Die Richterin der Richter

Artikel teilen

Es war eine Geschichte, wie sie die Stärke des Hamburger Nachrichtenmagazins sein kann: Fünf Reporter und eine Reporterin erzählten nur wenige Tage nach der Tat unter dem Titel "Eigentum des Mannes" die Story. Sie berichteten vom Leben und Tod der 16-jährigen Morsal Obeidi, die auf einem Parkplatz von ihrem älteren Bruder Ahmad mit 23 Messerstichen ermordet worden war. Die – relativ emanzipierte aber entwurzelte – afghanische Familie lebte seit 13 Jahren in Deutschland, die Geschwister verband eine Art Hassliebe. Sie hatten sich, wie so oft die Jungen und Mädchen im Migrantenmilieu, gegenteilig entwickelt: Während Ahmad, der Schulabbrecher, schon als Jugendlicher von der Polizei als "Intensivtäter" geführt wurde, flüchtete Morsal immer öfter vor den Schlägen von Vater und Bruder zum Kindernotdienst und ins Frauenhaus. Der Spiegel im Mai 2008: "Morsal wollte nur frei sein, Ahmad dagegen war kriminell (…). Er brüllte Morsal an, die Ehre der Familie nicht zu verletzen. Seine Schwester kleide sich wie eine verdammte Schlampe, sagte Ahmad den Polizisten."

Anzeige

Nur neun Monate später liest sich das bei der Gerichtsreporterin desselben Blattes ganz anders. Gisela Friedrichsen, 64, behauptet: "Die Tat stand am Ende eines lange schwelenden Geschwisterkonflikts." Und sie fährt fort: "Es gibt Worte, die wirken wie ein Funke. Wie der eine Funke, der die tödliche Explosion auslöst." Die Ermordete hatte also ein falsches Wort gesagt. Selber schuld. Doch was hatte sie gesagt? "Das geht dich einen Scheißdreck an!" Mit diesen Worten soll die 16-jährige Morsal ihrem 24-jährigen Bruder auf die Frage geantwortet haben, ob sie auf den Strich gehe (was sie nicht tat). Das zumindest behauptet der Täter.

Friedrichsen nimmt die Behauptungen des Täters als objektiven Tatbestand, das macht sie oft so. Sie reportiert: "Da sticht er zu." 23 mal. Und sodann lässt er sich "ziellos von einem Taxi umherfahren", ist "außer sich". Der Arme. Scheint ihn echt verwirrt zu haben, dass er seine Schwester erstochen hat.

Doch Ahmad hat Glück. Glück, dass Frau Friedrichsen sich seiner annimmt. Und dann gibt es da noch eine zweite Frau: die Gutachterin Marianne Röhl. Die fiel zuletzt auf, als sie es schaffte, einen Räuber, der eine Aldi-Kassiererin und einen Kunden zu Krüppeln schoss, vor lebenslanger Haft zu bewahren mit dem Hinweis, der Ballermann habe "eigentlich seine Mutter treffen wollen". Und vor allem: Er hätte "einen inneren Drang (zum Überfall) verspürt".

Auch Ahmad ist von verständnisvollen Frauen umkreist. Er habe "im Affekt" gehandelt, weiß Gutachterin Röhl. Weil "seine Schwester vom Weg abgekommen war" (so Friedrichsen bei Kerner). Und ihm dann auch noch eine schnippische Antwort gegeben hat. Die Schlampe. Ahmad, der auch schon mal einer Mitschülerin gedroht hatte: "ich stech dich ab! Pass auf, wo du hingehst", war mit dem Messer zu dem Treffen mit seiner Schwester gegangen.

Da ist es erleichternd, dass der massive Versuch der Einflussnahme der Spiegel-Reporterin diesmal nicht gegriffen hat. Ahmad Obeidi wurde am 13. Februar wegen "heimtückischen Mordes aus niederen Beweggründen" zu lebenslänglich verurteilt. Reaktion des Verurteilten: Er warf mit einem Aktenordner nach dem Staatsanwalt und schrie: "Du Hurensohn, ich ficke deine Mutter!"

Die öffentliche Verteilung von Noten an Richter, Staatsanwälte und Anwälte gehört zum Kerninstrumentarium dieser Journalistin. Das sieht nicht nur die Journalistin Heidrun Helwig so, die 2005 in der Neuen Juristischen Wochenschrift monierte: "Schulmeisterlich verteilt sie Zeugnisse, bewertet, lobt, verdammt, auf der Grundlage ihrer subjektiven Maßstäbe. Dabei ergreift sie nicht nur Partei für eine Seite, sondern berichtet einseitig, gibt den Argumenten der angegriffenen Seite meist keinen Raum."

Die angegriffene Seite, das sind häufig die Opfer – zur Entlastung der Täter. "Wo bleibt da der Respekt vor der Menschenwürde der Opfer?", fragt die erfahrene Rechtsgutachterin Prof. Müller-Luckmann, die das Treiben von Friedrichsen seit Jahrzehnten aus der Nähe beobachtet hat.

Karriere hat die Journalistin, die in den 60er Jahren Germanistik studierte und später FAZ-Redakteurin wurde, dann mit dem Fall Weimar gemacht. Monika Weimar, der vorgeworfen wurde, ihre zwei Töchter ermordet zu haben, war 1988 schuldig gesprochen und zu lebenslänglich verurteilt worden. In zwei Wiederaufnahmeverfahren wurde sie einmal frei und dann wieder schuldig gesprochen.

In allen Verfahren spielten Gisela Friedrichsen und ihr Mentor und Freund, der inzwischen verstorbene frühere Spiegel-Gerichtsreporter Gerhard Mauz, eine entscheidende Rolle. Beide verfolgten Monika Weimar in allen drei Indizienprozessen – in denen der von der Mutter beschuldigte Vater beharrlich schwieg (und nie auch nur vernommen wurde) – mit einer wahren Besessenheit.

Von Anbeginn an war sich das Duo Mauz/Friedrichsen in diesem von so vielen Zweifeln überschatteten Prozess sicher: Die Mutter war's! Noch vor dem dritten Verfahren veröffentlichten sie einen fünfseitigen Spiegel-Artikel, der nur ein Ziel kannte: Dem Gericht im Vorhinein die Schuld von Mutter Weimar einzuhämmern. Das verunsicherte Provinzgericht in Fulda beugte sich dem Gottesurteil aus Hamburg. Monika Weimar wurde ein zweites Mal verurteilt.

Gisela Friedrichsen schrieb über den Fall dann noch ein ganzes Buch ("Der Fall Weimar. Kindsmord in der Provinz") – übrigens ohne jemals auch nur ein einziges Mal mit Monika Weimar gesprochen zu haben (ganz wie im Fall Pascal).

Es ist die Aufgabe von Journalisten, kritisch und kontrollierend zu berichten. Es ist nicht unsere Aufgabe, Richter um jeden Preis von unserer eigenen – und zwangsläufig subjektiven – Meinung zu überzeugen oder sie gar als absolute Wahrheit zu setzen. In den letzten 20 Jahren hat die Gerichtsreporterin Friedrichsen das getan und mit ihrem extrem subjektiven und suggestiven Auftreten und Schreiben viel angerichtet, sehr viel. Das umfassend zu analysieren, sprengt einen Artikel, es wäre eine Doktorarbeit wert. Werfen wir also nur noch ein paar Schlaglichter auf besonders typische Fälle.

1998 wird Pastor Klaus Geyer wegen "Totschlags" zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte seiner Frau Veronika mit sieben Hieben den Schädel eingeschlagen, ein Ohr abgetrennt, das Gesicht zerschmettert und die Augen und das Gehirn in den Kopf hinein geprügelt. Danach hatte er die Nacht mit einer seiner zahlreichen Geliebten im Ehebett verbracht.

Geyer leugnete bis zuletzt, doch eine Spur überführte ihn. Dass die Hass-Tat nicht selbstverständlich als Mord gewertet wurde (auf den lebenslänglich steht), war auch dem Einfluss der Berichterstattung von Friedrichsen zu verdanken. Die schrieb über die totgeschlagene Frau, sie sei zwar "laufend von ihrem Mann betrogen worden", doch sei sie "offensichtlich die Robustere" gewesen. Und es stelle sich die Frage, ob die Frau ihren Mann nicht "durch eine permanent ausgespielte Überlegenheitsrolle wieder und wieder verletzt" habe. Und weiter räsonniert Friedrichsen: "Ein Mann tötet seine Frau oder umgekehrt: Eine Frau bringt ihren Mann um. Das sind Urszenen des Tötens. Und wer die Hand gegen wen erhebt, entscheidet oft der Zufall." Ein Familiendrama eben. Schicksal statt Schuld.

Das Opfer ist bei Friedrichsen immer schuld. Tot oder lebendig. Entweder die Mutter, die ihren Sohn nicht genug geliebt hat. Oder die Ehefrau, die ihren Mann abgewiesen hat oder ihm gar überlegen war. Und überhaupt, wer will da rechten, etwa der Rechtsstaat?

Komischer Zufall nur, dass im Jahr zuvor von 1.324 versuchten oder vollendeten Mordfällen in elf von zwölf Fällen die Täter Männer waren.

Oder der Prozess Ende 1996 gegen den Serienmörder Horst D. Sieben Morde an jungen Prostituierten oder einsamen alten Frauen hatte der damals 57-Jährige gestanden – und die Polizei fragte sich, wie viele der noch ungeklärten Fälle wohl auch auf D.s Konto gehen würden. Sein Motiv? Lauschen wir Friedrichsen:

Horst D., der Ende 1938 bei Breslau auf die Welt gekommen war, stand "1944 mit einem Namensschild um den Hals eines Tages mutterseelenallein auf dem Bahnhof im bayrischen Hof. Eine andere Erklärung, als dass die Mutter den Fünfjährigen auf der Flucht einfach stehengelassen hat, gibt es nach den Umständen kaum." 1944. Auf der Flucht. Auf einem Bahnhof. Da stellen sich viele Fragen. Nur Friedrichsen hat keine, sie kennt wie immer die Antwort. Und sie zitiert sodann zu Horst D. zustimmend den Gutachter, der aus dessen "tiefer Enttäuschung und Verbitterung der als unzulänglich und unzuverlässig erlebten Mutter" die Überlegung ableitet, "dass es sich bei den Taten womöglich um einen 'chiffrierten Muttermord' gehandelt habe".

Pech für die Opfer. Bei denen forscht Friedrichsen zwar auch in diesem Fall wie gewohnt nach "Provokationen", kommt aber nicht so recht zu Potte. Dennoch: "Vielleicht wären einige von seinen Opfern am Leben geblieben, hätten sie ihm 20 Mark in die Hand gedrückt. Vielleicht hätte er sich dann nicht zurückgewiesen und enttäuscht gefühlt." – Nein, kein Witz. Ein Originalzitat der Reporterin aus dem Spiegel 52/1995.

Es könnte immer so weitergehen. Über Frauen, die lieblose Schlampen, und Männer, die unverstandene Opfer sind. Und die nun endlich, endlich auf eine Frau treffen, die sie versteht. Und die dabei nur eines vergisst: die Opfer. Es könnte immer so weitergehen. Aber belassen wir es bei einem letzten Fall aus dem Schauerkabinett der Spiegel-Reporterin:

Wolfgang S. wird am 30.11.1993 nicht etwa wegen sechsfachen Mordes in Verbindung mit besonderer Grausamkeit zu lebenslänglich mit Sicherheitsverwahrung verurteilt – sondern wegen Totschlags zu nur 15 Jahren und psychiatrischer Behandlung. – Was war passiert? In der Zeit zwischen dem 25. Oktober 1989 und dem 5. April 1991 brachte Wolfgang S. in und um Beelitz fünf Frauen um. Er hat sie erschlagen, erwürgt oder erstochen und sodann geschändet. Und so ganz nebenher hat er auch noch dem Baby eines seiner wimmernden Opfer den Schädel auf einem Baumstumpf zertrümmert. Drei weitere Opfer haben nur knapp überlebt.

Friedrichsen widmet diesem "Menschen, der so Schreckliches getan" hatte, fünf einfühlsame Spiegel-Seiten zur Mutterbeziehung etc. – für die Opfer hatte sie knapp fünf Zeilen. Auf den fünf Seiten verschweigt Friedrichsen u.a., dass S. als DDR-Hauptwachtmeister bei der Volkspolizei unehrenhaft entlassen worden war, weil er mit "Kameraden" Hitlers Geburtstag gefeiert hatte, und später aus der CDU ausgetreten war wegen zu lascher Ausländerpolitik, denn Schmidt war überzeugt, dass "die Fitschies uns plattmachen".

Der in den Medien wegen seines Faibles für Frauenkleider so genannte "Rosa Riese" (oder auch "die Bestie von Beelitz") profitierte im frisch wiedervereinigten Deutschland vor einem um Liberalität bemühten Ost-Gericht von einem der bedrückendsten Fehlurteile der nachkriegsdeutschen Justizgeschichte – dank eines Düsseldorfer "Staranwaltes" und einer Hamburger Reporterin.

Bleibt nur noch zu ergänzen, dass Gisela Friedrichsen heute die bekannteste Gerichtsreporterin in Deutschland ist und hohes Renomee genießt. Von der Angst der Richter vor der Richterin der Richter ganz zu schweigen.

Artikel teilen
 
Zur Startseite