Die Schuld des Westens am Drama in Syrien

© Pablo Tosco/Getty Images
Artikel teilen

Der Westen, wenn diese etwas voluminöse Bezeichnung gestattet ist, hat in Syrien schwere Schuld auf sich geladen. Nicht, wie oft gesagt wird, weil er mit seiner Unterstützung des Widerstands gegen eine tyrannische Herrschaft zu zögerlich gewesen wäre, sondern im Gegenteil: weil er die illegitime Wandlung dieses Widerstands zu einem mörderischen Bürgerkrieg ermöglicht, gefördert, betrieben hat. Mehr als hunderttausend Menschen, darunter Zehntausende unbeteiligter Zivilisten, haben diese Parteinahme für ein vermeintlich moralisches Ziel mit dem Leben bezahlt. Und es werden, so steht zu befürchten, Zehntausende mehr sein, wenn dieser Totentanz irgendwann ein Ende findet.

Anzeige

Die zugrundeliegende Strategie ist eine Variante dessen, was seit der Invasion des Irak vor zehn Jahren „demokratischer Interventionismus“ heißt: das Betreiben eines Regimewechels mit militärischen Mitteln in einem fremden Staat zum Zweck der Etablierung einer demokratischen Herrschaft. Im Irak besorgten die Invasoren das eigenhändig. Nachdem sich die Behauptung, man entwaffne einen potentiellen Aggressor im Besitz von Massenvernichtungswaffen, als Vorwand erwiesen hatte, wurde der offizielle Kriegsgrund umstandslos ausgewechselt: Waffen hin oder her – jedenfalls befreie man ein unterdrücktes Volk von einer blutigen Tyrannei und bringe ihm die Segnungen der Demokratie. Auch dieses Ziel rechtfertige den Angriff.

Was in Syrien geschieht, ist eine andere, dem Anschein nach mildere Form des Eingriffs, da sie den Sturz des Regimes dessen innerer Opposition überlässt, die von außen nur aufgerüstet wird - aber freilich auch angestiftet. In Wahrheit ist dies die verwerflichste Spielart des erzwungenen Machtwechsels in fremden Staaten.

Nicht nur, weil sie neben dem Geschäft des Tötens auch das Risiko des Getötetwerdens anderen zuschiebt. Auch, weil sie die hässlichste, in jedem Belang verheerendste Form des Krieges entfesseln hilft: den Bürgerkrieg. Jedenfalls aber, weil sie den externen Intervenienten das Schauspiel eines Waschens der eigenen Hände nicht in Blut, sondern in Unschuld erlaubt: Wir sind es nicht, die in Syrien töten; wir helfen nur einem unterdrückten Volk, das sein Gewaltherrscher mit einem blutigen Krieg überzieht. So lässt sich offenbar eine Aura des Moralischen erschleichen. Rätselhaft ist, dass dies ohne nennenswerten Widerspruch der räsonierenden Öffentlichkeit gelingt.

Soweit ich sehe, ist schon die Grundfrage nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet worden: die nach der Legitimität der bewaffneten Rebellion in Syrien. Ab welchem Grad der Unterdrückung durch einen Despoten darf der ­berechtigte Widerstand gegen dessen Herrschaft zum offenen Bürgerkrieg übergehen? Und war diese Schwelle in Syrien erreicht, als die Unruhen begannen? Denn war sie es nicht, dann war das ­Anheizen des Aufstands von außen verwerflicher noch als dieser selbst.

Wie selbstverständlich scheint man vorauszusetzen, der legitime innere Widerstand gegen einen Diktator wie Assad schließe stets die Erlaubnis zur Gewalt ein. Aber das ist falsch. Diskutabel wäre es allenfalls, wenn dabei nur das Verhältnis der Rebellierenden zu ihrem Unterdrücker und dessen Machtapparat im Spiel wäre. Aber die Entfesselung flächendeckender Gewalt bedarf auch und vor allem einer Rechtfertigung gegenüber den unbeteiligten Mitbürgern.

Sie mögen den Aufstand mit guten Gründen ablehnen, ohne deshalb Parteigänger des Despoten zu sein. Vielleicht haben sie Frauen und Kinder, um deren Leben sie im Bürgerkrieg fürchten müssen. Dann hätten sie nicht nur ein Recht, sondern die moralische Pflicht, eine Rebellion, die sie und die Ihren mit dem Tod bedroht, unbedingt zu verwerfen. Zehntausende Frauen und Kinder sind im syrischen Bürgerkrieg umgekommen. Wie legitimiert sich die Rebellion vor diesen Opfern – und nicht bloß vor dem Despoten?

Die Lebens- und Leidenskosten des syrischen Aufstands werden zu großen Teilen auf unbeteiligte Dritte abgewälzt. Damit wird auch denen, die aus guten Gründen die Rebellion ablehnen, ein Zwangsopfer für deren Ziele auferlegt – und oft genug in Gestalt des eigenen Lebens. Ist so etwas zu rechtfertigen? Wohl kann man das Leben unter der Last einer Diktatur wie der syrischen als eine Art dauernden Notstands bezeichnen. Aber wie immer man dann das Maß des solidarischen Mitleidens bestimmen mag, das unbeteiligten Dritten aufgezwungen werden darf, und wie weit immer es in Krieg und Bürgerkrieg über das in einer friedlichen Gesellschaft zulässige hinausgehen mag – eines kann es ganz gewiss nicht gebieten: die Opferung des eigenen Lebens.

Und ebenfalls außer Zweifel steht, dass man die Legitimationsfrage nicht deshalb ignorieren darf, weil einem die Antwort missfallen könnte. Entweder rechtfertigt das Ziel des syrischen Aufstands auch das Zwangsopfer des Lebens Zehntausender Unbeteiligter, oder er ist selbst illegitim und verwerflich. Seine Unterstützung und Ermöglichung von außen wären dies dann freilich in noch weit höherem Maß. Das ist das vorrangige Problem. Ihm hätte sich die Syrien-Diskussion des Westens zu stellen, statt es hinter einer Wirrnis sekundärer politischer Kalküle und ungewaschener Sympathien für ferne „Freiheitskämpfer“ verschwinden zu lassen.

Das Völkerrecht hilft uns hier nicht. Es ist für die Frage einer Erlaubnis zum Bürgerkrieg nicht zuständig. Gleichwohl  verbietet es aus guten Gründen jede militärische Unterstützung bewaffneter Aufstände in fremden Staaten. Die politische Philosophie hat seit Kant das Problem der Rechtfertigung des Bürgerkriegs vernachlässigt. Auch deshalb fehlen heute, von tastenden Versuchen abgesehen, überzeugende Vorschläge einer begründeten Lösung.

Nur die Trompeter (Trompethiker) der „Realpolitik“ wissen wie stets Bescheid. Alle diese Überlegungen seien naiv und lebensblind; schon Bismarck habe gewusst usw. Aber naiv ist nur dieser Einwand. Naiv ist die Vorstellung, die Stabilität eines so komplexen Systems wie der heutigen Staatenwelt lasse sich dauerhaft über Macht, Drohung und Gewalt sichern statt nach den Maßgaben einer internationalen Normenordnung, die in weltweit konsensfähigen Prinzipien gründet. Ja, es gibt ­keinen Krieg und erst recht keinen Bürgerkrieg, in dem nicht massenhaft Unschuldige getötet würden. Aber das ändert daran nichts. Wir brauchen ganz gewiss bessere Gründe für eine Aufhebung unserer grundlegenden Normen als den Hinweis darauf, dass sie in einer bestimmten Sphäre stets gebrochen werden.

Was heißt das alles für den syrischen Aufstand? Assads Regime war und ist eine düstere Tyrannei. Weniger finster zwar als die mancher Golfstaaten, die plötzlich ihr Herz für den „demokratischen Wandel“ – nämlich nur den in Syrien – entdeckt und ihn mit der Lieferung von Waffen an die Aufständischen zu einem Albtraum gemacht haben. Doch finster genug, um jederlei zivilen Widerstand zu rechtfertigen. Aber die Entfesselung eines Bürgerkriegs mit hunderttausend Toten? Ganz gewiss nicht.

Schwere Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen haben beide Seiten des Konflikts in großem Ausmaß begangen. Aber dessen Beginn war auch und vor allem die Ausgeburt einer in hohem Grade verwerflichen Entscheidung der Rebellen: ihres Griffs zu den Waffen.

Ja, ich kenne sämtliche Einwände. Erstens habe sich der zunächst friedliche Protest erst radikalisiert, als ihn die Staatsmacht mit exzessiver Gewalt niederzuschlagen versuchte. Das ist wahr. Aber es rechtfertigt nicht das anschließende Auslösen eines jahrelangen Gemetzels mit hunderttausend Toten.

Eben dieses, so heißt es zweitens, sei aber am Anfang nicht einmal absehbar, ­geschweige denn gewollt gewesen; es sei nichts als das Ergebnis der schieren Eskalation eines Konflikts zwischen brutaler Staatsmacht und legitimer Opposition. Das ist freilich nicht wahr. Sämtliche verheerenden Folgen der Gewalt, jedes einzelne ihrer Opfer ist auch (und selbstverständlich nicht nur) den Rebellen anzulasten. Und an der Absehbarkeit dieser Folgen von Anfang an gibt es schon deshalb keinen Zweifel, weil sie von zahlreichen Warnern vorhergesehen wurden.

Aber ob man denn, so der empörte dritte Einwand, im Ernst behaupten wolle, nach Assads brutalem Zuschlagen gegen fried­liche Demonstranten seien diese noch immer verpflichtet gewesen, friedlich zu bleiben, militärische Gegengewalt zu unterlassen und damit die Fortdauer der Tyrannei hinzunehmen? Ja, genau das. Regime wie das Assads sind eine Geißel ihrer Völker. Aber Bürgerkriege sind eine schlimmere. Die Vorstellung, es gebe ein fragloses Recht, mit diesen jene zu beseitigen, ist eine merkwürdige moralische Verirrung.

Von hier aus fällt ein kaltes Licht auf das Verhalten des Westens – oder genauer, der drei westlichen Vormächte: USA, Großbritannien und Frankreich. Sie haben als ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrats eine besondere Verpflichtung gegenüber dem internationalen Frieden und der Normenordnung, die ihn sichern soll. Ich sehe ab von der maßlos schäbigen Politik Saudi-Arabiens, Katars und der Türkei. Sie haben allein aus strategischen Gründen, die mit dem Iran zusammenhängen, sehenden Auges eine Bedingung der Katastrophe geliefert: die Waffen, mit denen sie möglich wurde. Das ist offenkundig.
Zu reden ist aber von der sinistren, maskierten und dennoch offensichtlichen Unterstützung der drei westlichen Mächte für die völkerrechtswidrige Politik der unmittelbaren Einmischer. Schwerlich wäre deren externes Anheizen des Bürgerkriegs ohne ein wenigstens stillschweigendes Placet aus Washington möglich gewesen.

Ganz so stillschweigend war es übrigens gar nicht. Im März 2012 sagte der „Legal Adviser“ des US-Außenministeriums Harold Koh auf der Jahrestagung der amerikanischen Völkerrechtler, man „helfe und applaudiere“ der Arabischen Liga bei ihren „konstruktiven Schritten“ im Syrien-Konflikt. Diese bestanden schon damals in nichts anderem als in dessen militärischer Eskalation. Auch deshalb ist die ­Behauptung der US-Regierung, man habe die Rebellen stets nur mit „nicht-töd­lichen“ Hilfsmitteln unterstützt, ein ­offenkundig untauglicher Versuch des weltöffentlichen Augenwischens.

Am 24. März 2013 erschien in der New York Times unter der Überschrift „Waffenlieferungen an syrische Rebellen ausgedehnt – mit Hilfe der CIA“ ein detailreicher Bericht. Er weist mehr als 160 Frachtflüge mit Kriegswaffen nach, die seit Anfang 2012 aus Saudi-Arabien, Katar und Jordanien regelmäßig am türkischen Flughafen Esenboga entladen und von dort über die Grenze nach Syrien geschafft wurden – alle mit logistischer und vielfacher sonstiger Hilfe der CIA. Das zeige, konstatiert die Zeitung nüchtern, dass die Vereinigten Staaten entgegen regierungsamtlichen Bekundungen ihren arabischen Verbündeten sehr wohl „auch bei der Förderung der tödlichen Seite des Bürgerkriegs“ zur Hand gingen.

Anfang Juli kam, mitsamt probatem Vorwand, Obamas öffentliche Ankündigung, man werde den Rebellen nun direkt Waffen liefern. Das ist konsequent. Weniger zynisch ist es nicht. Das Ausmaß der französischen und der britischen Hilfe bei der „tödlichen Seite“ des Konflikts werden Historiker klären. Dass es unter dem der amerikanischen Unterstützung bleibt, ist unwahrscheinlich.

Dies alles ist trostlos. Und es wird noch trostloser, wenn man, alle rechtsethischen und völkerrechtlichen Einwände ignorierend, nur die tatsächlichen Erfolgsaussichten eines demokratischen Interventionismus bedenkt, der wie in Syrien sein Ziel im Modus von Anstiftung und Förderung eines fremdstaatlichen Bürgerkriegs verfolgt. Diese Erfolgsaussichten liegen, das weiß man seit langem, bei nahezu Null.

Die Gründe dafür sind wenig geheimnisvoll. In zahlreichen Studien über die Chancen militärisch erzwungener Regierungswechsel sind sie dargelegt worden. Rund hundert externe Umsturzversuche dieser Art hat es seit den Napoleonischen Kriegen weltweit gegeben, darunter viele mit demokratischem Ziel – genügend empirisches Material zur Präzisierung der Erfolgsindikatoren eines solchen Unternehmens. Deren wichtigste sind weder die Macht des Intervenienten noch das Maß seines Aufwands, sondern bestimmte Voraussetzungen im Zielstaat selbst: eine relative Homogenität seiner Bevölkerung, keine tiefen ethnischen oder religiösen Konflikte, ein gewisser Grad der Urbanisierung, eine hinreichend funktionierende Verwaltung, die historische Erfahrung mit demokratischen Institutionen, ein ökonomischer Wohlstand der Mehrheit – kurz, so ziemlich alles, woran es in Syrien fehlt. Das Land ist ein Musterfall objektiver Kontraindikation für jede Form des demokratischen Interventionismus.

Nimmt man den spezifischen Modus hinzu, in dem der Regimewechsel erzwungen werden soll, den des Bürgerkriegs, so verschärft sich diese Diagnose bis zur Aussichtslosigkeit. Die jahrelangen exzessiven Grausamkeiten, der dadurch entfesselte wechselseitige Hass, die unzähligen Opfer – all das wird eine tiefe Wunde in der Kollektivseele Syriens hinterlassen, die sich in Generationen nicht schließen wird.

Nichts von all den romantischen Erwartungen einer demokratischen, rechtsstaatlichen Zukunft, mit denen eine gutgläubige öffentliche Meinung hierzulande die Ambitionen der syrischen Rebellen verklärt hat, wird sich in absehbarer Zeit erfüllen.

Hunderttausend Tote sind ein viel zu hoher Preis für eine erfolgreiche demokratische Revolution. Für eine erfolglose sind sie eine politische, ethische, menschliche Katastrophe. Die künftige Geschichtsschreibung wird den Westen vom Vorwurf der Mitschuld daran nicht freisprechen.

Prof. Reinhard Merkel lehrt Strafrecht und Rechtsphilosophie an der ­Universität Hamburg, September/Oktober 2013.

Artikel teilen
 
Zur Startseite