Amokpilot: Die Tat war kalt geplant

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Der Shitstorm, der am letzten März-Wochenende im Netz gegen EMMA tobte, war gewaltig. „Absurd und fanatisch“, „ekelhaft“, „der Gipfel der Geschmacklosigkeit“, posteten und twitterten die Empörten. Was war passiert? Nach dem Flugzeugabsturz, bei dem der Co-Pilot Andreas Lubitz den Germanwings-Airbus 4U9525 mit 149 Passagieren absichtlich und, wie wir inzwischen wissen, lange geplant in den Alpen zerschellen ließ, hatte die Linguistin Luise Pusch eine Pilotinnen-Quote gefordert. Denn: „Amokläufe und so genannte Familienauslöschungen, die gern zu ‚erweitertem Selbstmord’ und ‚Mitnahme-Selbstmord’ verharmlost werden, sind Verbrechen, die nahezu ausschließlich von Männern begangen werden. Für Amokflüge, die offenbar häufiger vorkommen, als der Öffentlichkeit bewusst ist, gilt dasselbe.“ Puschs Folgerung: Wenn die Lufthansa mehr Sicherheit wolle, solle sie den Frauenanteil von nur sechs Prozent bei ihren PilotInnen erhöhen.

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Ohne Rücksicht auf das Leiden anderer wird
der eigene Narzissmus exekutiert

Das Gleiche forderte am selben Tag die Schweizer Psychiaterin Prof. Gabriela Stoppe in der Schweiz am Sonntag und im Tagesanzeiger. „Es wäre nicht nur wegen der Durchmischung sinnvoll, mehr Frauen für den Transport von Menschen zu engagieren, sondern vor allem wegen der Sicherheit", erklärte die Vizepräsidentin des Dachverbandes für Suizidprävention. Schon sechsmal, so Stoppe, hätten in den letzten Jahren Piloten mit ihrem Flugzeug Selbstmord begangen, außerhalb von Europa. Stoppe: „Es war nur eine Frage der Zeit, dass auch in Europa ein Pilot mit dem Flugzeug einen Suizid begeht.“

Doch während die Schweizer Medien unaufgeregt über die Meinung der Psychiaterin berichteten, schäumte der deutsche Internet-Schwarm über EMMA. Und die Medien zogen flugs nach: „Instrumentalisiert EMMA wirklich Tote für die Quote?“ fragte die Süddeutsche im Brustton der Entrüstung. Und die FAS stöhnte über EMMAs „unbekümmerten Ton“ angesichts der Toten.

Die Frage, welche Rolle der Faktor Geschlecht bei einer Amoktat wie der von Andreas Lubitz spielt, ist also weiterhin tabu. Dabei sprechen die Fakten schon lange für sich. Zahlreiche Studien belegen: Amokläufe (meist inklusive anschließendem Selbstmord des Täters) werden in der Regel von Männern begangen. Die Liste ist leider lang, hier nur einige Beispiele: Montréal 1989 (14 Opfer); Colombine 1999 (13 Opfer); Erfurt und Eching 2002 (19 Opfer); Emsdetten 2006 (5 Opfer); Virginia 2007 (32 Opfer); Winnenden 2009 (16 Opfer); Utöya 2011 (88 Opfer); Newtown 2012 (28 Opfer); Santa Barbara 2014 (6 Opfer).

Weibliche Amokläufer sind (bisher) quasi inexistent. Nicht etwa, weil Frauen die besseren Menschen wären (kein Gedanke ist EMMA ferner). Sondern, weil Frustration und Aggression von Frauen sich traditionell anders Bahn brechen als bei Männern - nämlich eher nach innen statt nach außen, weniger physisch und eher psychisch, eher selbstzerstörerisch als zerstörerisch.

Häufig geht es bei Amokläufen um Unterlegenheitsgefühle und „verletzte Ehre“, also übersteigerten Narzissmus. Darauf wies in einem Beitrag für die FAZ auch der Heidelberger Psychiater und Psychoanalytiker Rainer M. Holm-Hadulla hin. Er schrieb über den Fall Lubitz: „Viel wahrscheinlicher als eine depressive Erkrankung erscheint eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, (die sich) durch starke Selbstbezogenheit und einen Mangel an Empathie für andere Menschen auszeichnet.“ Und der Psychiater fährt fort: „Ohnmächtige Wut ist die entscheidende Reaktionsweise narzisstisch leicht verletzbarer Personen auf Kränkungen (…) Die grandiose Zerstörung macht das Verbrechen von Andreas Lubitz einem terroristischen Anschlag vergleichbar. Der kalte Hass kann so stark werden, dass ohne Rücksicht auf individuelle Leiden von Hunderten der eigene Narzissmus exekutiert wird. Andreas Lubitz ist dafür verantwortlich.“

Dieses Motiv gilt auch für den so genannten „erweiterten Suizid“ von Ehemännern. Das „Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht“ hat in seiner gerade erschienenen Studie „Familiale Tötungsdelikte mit anschließendem Suizid in europäischen Ländern“ 250.000 Zeitungsartikel auf die Berichterstattung über die sogenannten „Familiendramen“ hin gescannt. Ergebnis: 1.100 Opfer in einem Zeitraum von zehn Jahren, also über 100 pro Jahr allein in Deutschland. 963 dieser Opfer wurden von männlichen Tätern getötet, darunter rund 700 (Ehe)Frauen.

Der häufigste Fall ist die „Selbsttötung nach Mord“: Der Mann, der seine Ehefrau (und manchmal auch die Kinder) zum Beispiel nach der Ankündigung einer Trennung tötet - und anschließend sich selbst - wobei der eigene Tötungsversuch auffallend oft misslingt. Zentrale Kennzeichen dieser Variante laut Max-Planck-Institut: „Eifersucht, Besitzdenken, Kontrolle, Bestrafung, Wiederherstellung der Ehre“.

Männer neigen eher als Frauen dazu, andere „mitzunehmen“, wenn sie sich töten wollen

Fakt ist also: Männer neigen eher als Frauen dazu, andere „mitzunehmen“, wenn sie sich töten wollen. Das könnte womöglich auch damit zusammenhängen, dass narzisstische Störungen bei Männern erwiesenermaßen häufiger auftreten als bei Frauen. Merkmale: ein „brüchiges Selbstwert-, aber ein grandioses Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung“, verbunden mit einem „Mangel an Empathie“. So erklärt es das „Netzwerk Psychosoziale Gesundheit“.

Und dann ist da noch die deutlich höhere Suizidrate bei Männern. Von den 10.000 Menschen, die sich in Deutschland pro Jahr das Leben nehmen, sind 70 Prozent Männer, informiert die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention. Die Gründe für all das liegen selbstverständlich nicht im biologischen Geschlecht - selbstredend sind Männer nicht „von Natur aus böse“ (und Frauen nicht „von Natur aus gut“). Es hat etwas mit der Geschlechterrolle zu tun, dass Männer tendenziell anders mit Scheitern und Verletzung umgehen.

Das gilt für den verlassenen Ehemann, der mit dem Mord an seiner Frau seine gekränkte „Männerehre“ wiederherstellen will. Es gilt für den Kriegsveteranen, dessen kulturelle Hemmschwelle, nicht zu töten, im Krieg niedergerissen wurde und die nun auch in Friedenzeiten nicht mehr funktioniert. (In den USA gab es in den vergangenen Jahrzehnten etliche Fälle, in denen heimgekehrte Soldaten ihre Frauen oder andere Menschen ermordet haben.) Auch der Konsum von Porno- und Gewaltfilmen kann eine Rolle spielen. Spezifisch „männliche“ Gewalt kann viele Ursachen haben. Doch solange wir diese Ursachen nicht benennen, können wir sie auch nicht beheben.

EMMA weist seit Jahrzehnten darauf hin, dass die Debatte über den Faktor Geschlecht bei Amokläufen geführt werden muss. Was immer wieder für Emotionsausbrüche sorgt – bishin zum blanken (Frauen)Hass, der sich in den Kommentaren Bahn bricht. Aber, liebe KritikerInnen, EMMA ist nur die Überbringerin der schlechten Nachricht, nicht ihre Erzeugerin.

So war der Shitstorm vom März 2015 keineswegs der erste. Nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 hatte Alice Schwarzer angemahnt, einen bis dato blinden Fleck wahrzunehmen: Die Tatsache, dass der Täter männlich und die Opfer in der Schulklasse – mit einer Ausnahme – weiblich waren. „Warum leugnen beim Amoklauf von Winnenden selbst die Ermittler den Faktor Geschlecht?“ fragte die EMMA-Herausgeberin vor sechs Jahren.

Damals fand selbst die Staatsanwaltschaft zunächst weder das Geschlechterverhältnis der Erschossenen bedeutsam noch die Tatsache, dass der 18-jährige Tim rund 200 Gewaltpornos auf seinem Rechner gespeichert hatte, die Fesselungen und Folterungen von Männern durch Dominas zeigten. Auch nicht, dass Tim Kretschmer in einem Internet-Forum den Frauenmörder Ted Bundy sein Idol genannt hatte. Alles „kein ermittlungsrelevanter Ansatz“. 

Der Sturm der Entrüstung, der wegen des EMMA-Kommentars zu Winnenden losbrach, richtete sich jedoch nicht etwa gegen die Ignoranz der Ermittler – sondern gegen Schwarzer. Tenor: Jetzt fängt die schon wieder mit ihrem Geschlechtergedöns an! Und, ganz wie jetzt, warf man ihr die „Instrumentalisierung der Tat“ (FAS) vor. Nicht, wie im aktuellen Fall, wg. Frauenquote, sondern damals wg. EMMAs PorNo-Kampagne.

Sechs Jahre nach Winnenden und etliche Amoktaten später diskutiert die ganze Welt über die Geschlechterfrage bei Amokläufern – und über das Gefahrenpotenzial, das verunsicherte Männlichkeit birgt. Nur Deutschland scheint noch Nachholbedarf zu haben, wie so oft bei Genderfragen.

Die grandiose Zerstörung macht das Verbrechen einem Anschlag vergleichbar

Erst im August 2014 brachte der Spiegel einen Artikel über die sogenannten „Incels“, die „involuntarily celibataires“: die unfreiwillig frauenlosen (jungen) Männer, die sich aus Frust in Internetforen treffen und dort über ihren (Frauen)Hass schwadronieren – und über ihre Amokphantasien. Titel: „Männlich, ledig, lebensgefährlich“. Bereits zehn Jahre zuvor hatte der deutsch-amerikanische Historiker Walter Laqueur eine Studie über die im Weltmaßstab so gefährliche Gruppe der entwurzelten, „entehrten“ jungen Männer geschrieben. Titel: „Krieg dem Westen“.

Es muss also auch im Falle des Piloten Andreas Lubitz nicht nur erlaubt sein, diese Fragen zu stellen, sondern es ist dringend geboten! Der 27-Jährige hatte offenbar - nach allem, was wir bisher wissen - panische Angst zu scheitern. Er scheint, vermutlich zu recht, befürchtet zu haben, dass er seinen Traum vom Fliegen aus gesundheitlichen Gründen ad acta würde legen müssen. Ein Bekannter von Lubitz erklärte im Stern, er glaube, dass der Pilot „Germanwings in den Dreck ziehen wollte, weil sie ihm angeblich mehrmals gedroht haben, dass er seinen Job verliert“. Psychiater Holm-Hadulla hat recht, wenn er schreibt: „Aus diesem schrecklichen Ereignis können und müssen wir lernen.“

Stellen wir uns doch mal nur kurz vor, Andreas Lubitz wäre eine Andrea Lubitz gewesen. Ist es denkbar, dass auch sie den Airbus mit 149 Menschen vor eine Bergwand geflogen hätte? Und zwar nicht im Affekt, sondern kühl geplant? Die Antwort lautet: „Eher unwahrscheinlich“. Warum die Antwort im Falle von Andreas Lubitz „Ja, denkbar“ lautet, das muss uns interessieren. Auch, wenn es verstörend ist.

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Alice Schwarzer schreibt

Alice Schwarzer: Gewalt & Geschlecht

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Hohe Wellen schlug die Erregung am Wochenende über einen Kommentar der Linguistin Luise Pusch auf EMMAonline. Sie macht darin darauf aufmerksam, dass Amokläufe und Familienauslöschungen (gerne verschleiernd „Familiendrama“ genannt) überwiegend von Männern begangen werden. Das ist ein Fakt. Die Feministin zieht daraus den Schluss, dass das ein guter Grund sei für eine Frauenquote im Cockpit (wo nur 6 Prozent Frauen sitzen): Mehr Pilotinnen, weniger Risiko.

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Die Mehrheit der Täter bei Amoktrips sind Männer - was
Gründe hat

Auslöser für die Überlegungen von Pusch war das Airbus-Unglück mit 150 Toten und die mutmaßliche Rolle des 27-jährigen Co-Piloten. Allerdings sind die Ursachen des Unglücks noch nicht geklärt. Spielt ganz sicher kein technischer Defekt eine Rolle? Und wenn nicht, hat der Co-Pilot dann in vollem Bewusstsein und mit voller Absicht gehandelt? Oder befand er sich in einem psychischen Ausnahmezustand? Wir wissen es nicht und können nur hoffen, dass bald Antworten auf diese Fragen gefunden werden. Hoffen für die Opfer, für die Fluggesellschaft – aber auch für den mutmaßlichen Täter.

Der Text auf EMMAonline hat allerdings über den aktuellen Fall hinaus eine wichtige Debatte angestoßen: Welche Rolle spielt das Geschlecht bei Amoktrips? EMMA hat darüber in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt berichtet, wie zum Beispiel im Fall des Amokläufers in der Schule von Winnenden 2009. Amoktrips und Familienauslöschungen (Familiendrama) werden in der Tat in überwältigender Mehrheit von Männern begangen. Was Gründe hat. Die liegen selbstverständlich nicht im biologischen Geschlecht. Denn es gibt ja durchaus auch Täterinnen, wenn auch nur verschwindend weniger. Die Gründe sind psychosozialer Natur.

  • Es kann etwas mit einem vermeintlichen „Versagen“ bei der Männerrolle zu tun haben. Zum Beispiel ein Familienvater verliert eine Stelle und schämt sich über den sozialen Absturz.
     
  • Es kann etwas mit gekränkter „Männerehre“ zu tun haben: Zum Beispiel die Ehefrau will gehen – oder ein angeschwärmtes Mädchen weist den Verehrer zurück.
     
  • Es kann der Konsum von Porno- und Gewaltfilmen eine Rolle spielen. Wobei das auf „fruchtbaren“ Boden fallen muss: Verunsicherung, Isolation etc.
     
  • Es kann etwas mit der Gewohnheit zu tun haben, zu töten. Zum Beispiel ein Kriegsveteran, der im Krieg dutzende Menschen getötet hat, kommt zurück in die Heimat – und tötet dort weiter, sobald er überfordert ist bzw. aggressiv (In den USA gab es in den vergangenen Jahrzehnten mehrere solcher Fälle). Die kulturelle Hemmschwelle, nicht zu töten, wurde in dem Fall in Kriegszeiten niedergerissen und funktioniert nun auch nicht mehr in „Friedenszeiten“.

Spezifisch männliche Gewalt kann also viele Ursachen haben. Doch solange wir nicht nach den Ursachen forschen und sie benennen – solange können wir solche Taten auch nicht in Zukunft verhindern.

Die Gewalt mancher Männer innerhalb der Familie gegen Kinder und Frauen zum Beispiel war bis Mitte der 1970er Jahre überhaupt kein Thema. Es gab sie angeblich einfach nicht. Bis Feministinnen anfingen, dieses Schweigen zu brechen.

Heute wissen wir, dass diese sogenannte „familiäre Gewalt“ epidemische Ausmaße hat – und lebenslange Folgen für die Opfer. Und viele (potenzielle) Täter haben sich erst durch die öffentliche Debatte bewusst gemacht, was sie da tun – und so manche versuchen, sich zu ändern. Viele (potenzielle) Opfer haben sich erst durch die Debatte klar gemacht, dass sie nicht allein sind mit ihrem Schicksal und schon gar nicht persönlich daran schuld.

Erforschung der geschlechtsspezi-
fischen Faktoren von Gewalt ist existenziell

Frauen taten sich zusammen, griffen zur Selbsthilfe: gründeten Notrufe und Frauenhäuser. Gesetze wurden erlassen; Maßnahmen ergriffen, wie die Meldepflicht von Ärzten bei Gewalt gegen Kinder. Unsere Gesellschaft verschließt vor der Beziehungsgewalt von Männern gegen Kinder und Frauen nicht länger die Augen. Sie hat die Aufklärung darüber und den Kampf dagegen zu ihrer Sache gemacht.

Männer in der ersten Lebenshälfte machen bis zu vier Mal so oft Selbstmord wie Frauen. Frauen, heißt es, töten sich seltener, weil sie Verantwortung für Kinder haben; doch vielleicht sind die Gründe komplexer. Auch die „Familienauslöschung“ ist bei Frauen rar, aber es gibt den so genannten „erweiterten Selbstmord“, bei dem Mütter ihre Kinder mit in den Tod nehmen. Sie scheinen zu glauben, die Kinder könnten ohne sie nicht leben.

Es ist also existenziell, auch über die geschlechtsspezifischen Gründe und Formen von Gewalt nachzudenken. Denn nur, wenn wir die Gründe erkennen, können wir auch dagegen angehen.

Alice Schwarzer

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