Die Unerhörtheit, Dirigentin zu sein!

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Bis auf den letzten Stehplatz ist die Christus-Kirche in Köln-Dellbrück gefüllt. Der Grund für dieses unübliche Interesse betritt eben den Chorraum, stellt sich ans Pult, hebt den Taktstock, gibt den Einsatz. Die Anweisungen, nach denen sich nun in Sekundenschnelle Menschen, Orchestermusiker, Solisten und Chor richten, gibt eine Frau, das "zierliche Persönchen", wie die Presse sie am liebsten zu charakterisieren pflegt: Mascha Blankenburg, die den "Kochlöffel mit dem Dirigierstab vertauschte".

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Ganz so stimmt das nicht, vom Kochlöffel war bei Mascha nie die Rede, vom Dirigieren allerdings schon sehr früh. Die Frau, die hier sehr zügig, sehr selbstbewusst und mit Einsatz von Kopf und Körper eine Bach-Kantate dirigiert, tut das als "hauptamtliche Kantorin" der Christuskirche. Als solche hat sie auch den Chor, die "Kölner Kurrende" aufgebaut, nach zehn Jahren intensiver und anspruchsvoller Arbeit einer der anerkanntesten gemischten Chöre Europas.
Die Bach-Kantate gehört für sie schon zur Routine. Im Kopf hat Mascha schon jetzt eine noch größere Ambition: die Welturaufführung einer Renaissance-Oper. Diese Oper zählt nicht nur zu den ersten Opern der Musikgeschichte überhaupt, sie hat noch eine Besonderheit zu bieten: Sie stammt von einer Frau. Francesca Caccini, Hofmusikerin der Medici zu Beginn des 17. Jahrhunderts, hat sie komponiert, Mascha Blankenburg, Dirigentin und Initiatorin des Arbeitskreises "Frau und Musik", hat sie entdeckt.
Das viertägige Frauen-Musik-Festival, das vom 20. bis zum 23. November in Bonn und Köln eine Auswahl der besten Werke aufführt, die der Arbeitskreis "Frau und Musik" in zwei Jahren entdeckte, sammelte und aufarbeitete, ist der vorläufig letzte Höhepunkt des steilen Weges der Elke Mascha Blankenburg.
Diese Karriere verlief so schnell wie ungewöhnlich. Von Meisterkursen bei den "großen" Dirigenten, über Erfolge mit der "Kölner Kurrende" bei europäischen Chorwettbewerben bis zu internationalen Konzertreisen, hat die Dirigentin, Kantorin und Chorleiterin so ziemlich alles ausgeschöpft, was in den zehn Jahren seit Abschluß ihres Kirchenmusik-Studiums möglich war. Möglich für Dirigenten allgemein, nicht "nur" für eine Frau am Dirigierpult. "Natürlich bin ich eine Ausnahme", konzediert sie bei unserem Gespräch im Musikzimmer ihres Glas-Fachwerk-Häuschens in Dellbrück. "Aber, daß alle immer diesen Ausnahmestatus so betonen, das hat auch eine Funktion. In der Presse heißt es immer und bei jeder Dirigentin, sie sei die einzige. Damit will man uns als Wundertiere hinstellen, als totale Ausnahme von dieser Regel, die unangefochten weitergelten soll."
Auch ich erfahre von ihr zum ersten Mal, daß es noch mehr Dirigentinnen gibt als nur sie. Sie nennt mir gleich ein paar Namen, aus verschiedenen Ländern, von Frankreich bis Israel. Staunend vernehme ich, daß sie sogar versuchen, sich zusammenzutun und gegenseitig zu unterstützen. "Natürlich nicht alle", schränkt Mascha ein, denn "eine Frau, die es geschafft hat, in diesem Beruf überhaupt Erfolg zu haben, hat natürlich mehr Angst als ein Mann, den wieder zu verlieren. Und da fürchten eben manche, daß man sie, wenn sie sich zur Frauenbewegung bekennen, oder sich zu offen mit anderen Frauen solidarisieren, als ,Nur-Musikerinnen' abwertet."
Mascha selbst beweist, daß das Gegenteil möglich ist. Sie wird demnächst in Israel dirigieren - eingeladen von einer Kollegin. Die wiederum wird in Bonn eine der Aufführungen des Frauen-Festivals leiten.
Mascha wühlt in einem der unzähligen Schränke, die in den Arbeitsräumen und im Flur des Hauses rumstehen. Sie sucht die Partitur, die sie der israelischen Kollegin schicken will und zeigt mir dabei ihr Reich. Auf Sesam öffne dich quellen Notenblätter aus allen Schubladen, Renaissancemusik, Romantik, eine Widmung der Renaissance-Komponistin Barbara Strozzi rutscht zwischen die Lieder-Noten von Bettine von Arnim, auf dem Boden liegt eine moderne Partitur ausgebreitet, - auf dem Festival kommen ja auch Zeitgenossinnen zur Aufführung.
"Das ist nur ein kleiner Teil unserer Schätze", kokettiert Mascha mit dem überraschenden Dokumenten-Reichtum des Arbeitskreises. Der ist im Zentralarchiv in Bergisch Gladbach gespeichert, archiviert und betreut von Isabel Lippitz, die schon von einer "öffentlichen Ausleihbibliothek" träumt, Frauenmusik, Musik von Frauen, zugänglich für jedermann. Doch dafür fehlt vorläufig das Geld - "Frau und
Musik" genießt noch keinerlei Subventionen.
Auch ihr Engagement stellen die inzwischen 170 aktiven Mitglieder aus aller Welt dem Kreis "Frau und Musik" gratis und aus Begeisterung an der Sache zur Verfügung. Begonnen hatte alles mit einem Aufruf in Emma. Damals, im September 1977 erzählte Mascha in Emma von den vielen Komponistinnen, die sie nach einjähriger konzentrierter Suche gefunden hatte und appellierte an Musikerinnen, Musikwissenschaftlerinnen und Interessierten, doch einmal alle Schätze zusammenzutragen. Daraus entstand der "Arbeitskreis Frau und Musik", der inzwischen die Biographien und Werke von 800 (!) Komponistinnen aus alten Archiven und den Ablagen der musikwissenschaftlichen Seminare ausgebuddelt hat. Die aktiven Musikerinnen des Arbeitskreises bemühen sich dann auch um die Aufführung der Werke.
So schmuggelt auch Mascha Blankenburg schon mal ein Werk von Adolpha Le Beau ins Kölner Konzert-Programm. Auf erstaunte Fragen, ob es denn Komponistinnen gäbe, kommt ihre selbstbewußte Antwort: "Ja, wußten Sie das denn nicht?"
Sie wußte es selber nicht, als sie ihr Studium begann, und sie glaubte bereitwillig, was die Professoren ihr erzählten: Der Kunst des Tonsetzens, also des abstrakten Denkens, seien Frauen nicht fähig. - "Das hat mich ordentlich gedämpft. Meine eigenen Kompositionen habe ich nie ernst genommen. Ich brauchte die halt fürs Nebenfach und hoffte nur, daß sie halbwegs durch die Prüfung gehen."
Woher nahm sie dann den Mut, selbst so eine Ausnahme sein zu wollen - denn Dirigentinnen gab es angeblich genauso wenig wie Komponistinnen? Das hat auch mit der Wahl des Studiums zu tun: in der Kirchenmusik, in der ja nicht zur eigenen sondern zur Ehre Gottes musiziert wird, sind Frauen eher zugelassen als im virtuosen Konzertbetrieb. Zum anderen hatte Mascha von klein auf Rückendeckung: "Meine Mutter hat mir immer gesagt: ,Du bist eben ein besonderer Mensch. Du hast tolle Fähigkeiten. Begabte Menschen haben es aber nun mal schwerer, und ich helfe dir solange, bis du das begriffen hast'."
Mascha begriff schnell. Sie arbeitete hart und konsequent. Mit sechs begann sie mit ernsthaftem Klavierunterricht bei der Mutter, die vor ihrer Ehe Pianistin gewesen war. Mit neun kam Geige dazu, nebenbei machte Mascha noch Ballett: "Eigentlich wollte ich Tänzerin werden. Heute kommt mir das Körpertraining im Ballett beim Dirigieren sehr zugute."
Auch der Vater unterstützte die Tochter - allerdings lieber in ihren musikalischen als in den tänzerischen Ambitionen. Er selbst, Journalist und Schriftsteller, brachte ihr die Liebe zur Kirchenmusik nahe. Als sie dann allerdings mit 19 ankam und sagte: "Ich will Dirigentin werden", reagierte er nicht eben ermutigend: "Wenn du unbedingt unglücklich werden willst, bitte, dann werde Dirigentin."
"Er hat das völlig richtig eingeschätzt. Als Frau hast du auch keine Chance." - Fast keine. Mascha schaffte es dennoch. Nach Abschluß des Studiums als "hauptamtlicher Kirchenmusiker" (einer ihrer berühmten Vorgänger in diesem Amt war Johann Sebastian Bach), ging sie nach Köln, um ihre Dirigier-Ausbildung zu vollenden. Dafür war ihr nichts gut und schwierig genug, auch vor internationalen
Meisterkursen scheute sie nicht zurück. "Da habe ich gelernt, was Konkurrenz ist, und was es heißt, Frau und Dirigentin zu sein."
Dramatischer Höhepunkt dieses schmerzhaften Lernprozesses: Auf einem Meisterkurs ist Mascha wieder einmal die einzige Frau unter 70 Männern. Sie tritt ans Pult, dirigiert die ersten Takte, da stürzt der Leiter des Kurses auf sie zu und zerrt sie vom Pult. Nach dieser Demütigung erklärt er ihr: Wie können Sie es wagen, hier qualifizierten Männern den Platz wegzunehmen! Sie sind eine Null sie gehören in die Küche!"
Mascha jedoch dachte nicht daran, sich in die selbige zurückzuziehen. Jeden Tag stand sie dem Pascha auf der Matte und bestand darauf, die gleiche Chance wie alle anderen zu haben. Ende der Geschichte: Sie landete unter den drei besten des Kurses und dirigierte im Abschlußkonzert. "Da kannst du sehen, daß Talent allein noch lange nicht reicht. Mindestens ebenso wichtig sind Ausdauer und Hartnäckigkeit."
Mascha lernte früh, daß eine Frau dreimal so stark sein muß wie ein Mann, um es in diesem Machtberuf zu etwas zu bringen. Glücklich ist sie mit ihrer Rolle nicht: "Ich leide sehr darunter, daß ich die hierarchische Struktur des Orchesters nicht verändern darf. Daß ich zum Beispiel zum Cellisten nicht sagen darf: ,Wie stellen Sie sich die Stelle vor?' Was da los wäre! ,Die weiß ja nicht, was sie will', würde es heißen."
Ein altehrwürdiges Gerücht besagt: Der Dirigent ist unfehlbar. Ein Dirigent, der Fehler zugibt, wird nicht ernst genommen. Ein weiblicher Dirigent gar, der Fehlbarkeit zugeben würde, könnte einpacken. "Da ist nichts zu machen. Ich müßte schon ein eigenes Orchester haben oder sehr sehr berühmt sein, um das zu ändern", bedauert Mascha. Aber sie gibt ihren Anspruch nicht auf. Sie vertagt ihn nur - "Vielleicht könnte ja der Arbeitskreis einmal ein eigenes Orchester . . .?"
Für unmöglich hält Mascha Blankenburg aus Prinzip gar nichts. "Als Studentin war es in meiner Vorstellung schon das höchste für mich, mal eine Bach-Kantate zu dirigieren", erzählt sie. Heute leitet sie Riesenaufführungen wie den "Messias" von Händel oder Haydns "Schöpfung". Und sie greift weiter nach den Sternen, nach Mozart-Opern zum Beispiel. Grenzen steckt sie sich nicht. Hätte sie das je akzeptiert, dann stünde sie heute wahrscheinlich vor dem Kinderchor einer kleinen Gemeinde.
Der Erfolg, aber auch vor allem die Vielfältigkeit ihrer Engagements fordern ihren Tribut: "Manchmal habe ich Angst, etwas von mir zu verlieren." Da sind die gelegentlichen Panikzustände, die Depressionen nach großen Konzerten. Und die Angriffe auch und gerade von Seiten mancher Feministinnen. Bürgerlich und elitär sei ihre Arbeit, wird ihr vorgeworfen. Mascha hat sich inzwischen - nach viel Verunsicherung - dazu durchgerungen, sich nichts daraus zu machen: "Weißt du, ich finde diese Frauenlieder zum Beispiel ja nicht schlecht, ich sing die auch gerne mal mit. Aber meine Arbeit ist die ernste Musik und die Aufarbeitung unserer Frauengeschichte in der großen Musiktradition." Das kann sie, da liegen ihre Stärken, da ist die auch nicht mehr bereit, zurückzustecken.
Neben dem "hohen Turm der männlichen Musikwerke" will sie den der weiblichen errichten. 800 Namen in 1000 Jahren Musikgeschichte hat sie schon beisammen. Und Genies? Ist ein weiblicher Beethoven darunter? Mascha hat auch auf diese Frage inzwischen eine sehr dezidierte Antwort: "Es gab unter den männlichen Komponisten nur ganz wenige wirkliche Genies. Aber es gab einige hervorragende Komponisten. Und unter denen sind genügend Frauen." - Nur, deren Werke haben immer noch hundertmal weniger Chancen zur Aufführung zu kommen als die wesentlich schlechteren Werke mittelmäßiger männlicher Komponisten.
Das Festival soll dazu beitragen, dies zu verändern. Mascha: "Wenn die Leute vier Tage lang bombardiert werden mit Werken aller Gattungen und aller Epochen, alle von Frauen verfaßt und von Frauen geleitet, dann wird ihnen vielleicht deutlicher bewußt, was Frauen auf diesem Gebiet geleistet haben, als wenn sie nur mal in einem Buch darüber lesen." Erst jetzt - nicht zuletzt dank der Erfolge des Arbeitskreis "Frau und Musik" - erscheinen die ersten Bücher über Komponistinnen. Mascha gerät ins Schwärmen, als sie mir von deren Werken erzählt. Sie beginnt wieder in ihrem Archiv zu wühlen, zeigt mir strahlend die Partitur der Caccini-Oper: "Das ist für meine Identität so wichtig. Zu wissen, es gab Frauen, die komponierten, und sie waren gut!"
Die Bilder an der Wand zeigen die erfolgreiche Dirigentin bei der Arbeit: "Das kleine, zierli- che Persönchen" vor dem großen Orchester. Ihr Gesicht bekommt scharfe Konturen in der Konzentration. Die Weichheit auf manchen Bildern täuscht. Als ich im Konzert direkt neben dem Pult saß, war ich frappiert von ihren Bewegungen. Ihr Einsatz ist hundertprozentig, das haben inzwischen selbst die frauenfeindlichsten Orchestermusiker eingesehen. Sie bietet am Dirigierpult ein ganz und gar ungewohntes Bild von einer Frau, ein Gegen-Bild, das kühne Träume nährt.
Im sehr gemütlichen, angenehm unordentlichen Arbeitsraum, zwischen Schallplatten, Partituren, Musikinstrumenten und Weingläsern saß mir dann das Traum-Bild gegenüber. Ein wenig müde, entschieden zu viel rauchend und dazu neigend, alle Termine zu vergessen. Wenn sie dann doch hingeht, ist es häufig das Verdienst ihres Mannes, der neben seinem Beruf, er ist Oberstudienrat, im Chor mitsingt und sich mitkümmert ums Organisatorische.
In der großzügigen Raumaufteilung des Hauses haben beide genug Platz, um Raum zu haben, sich auch mal aus dem Weg gehen zu können. "Ich muß manchmal einfach ganz allein sein!" sagt Mascha bestimmt. In diesem Moment wirkt sie sehr abgespannt. Wenn sie sich ausruht, ist es die Ruhe vor dem Sturm: Die Proben für das Festival laufen auf Hochtouren: "Das wird ein echtes Spectaculum", triumphiert Mascha und ist wieder hellwach.

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