Marlene Streeruwitz liest in Köln

Marlene Streeruwitz - © Astrid Bartl
Artikel teilen

Marlene Streeruwitz ist links, ­feministisch und damit sogar erfolgreich. Ihr neuer Roman handelt von der ebenfalls engagierten, ebenfalls „männerfeindlichen“, obwohl doch „bildhübschen“ Jungautorin Nelia Fehn, die den Deutschen Buchpreis knapp verfehlt – wie ihre Schöpferin anno 2011. Gehört dieses Buch also in die „Sparte Abwehr- und Vorwurfsliteratur“ einer Verliererin? Ob sie wohl diesmal den Buchpreis kriegt? Oder wieder knapp daneben liegt, aus Rache des Literatur­betriebs, den Streeruwitz in ihrem „satirischen Schlüsselroman“ aufs Korn nimmt?

Anzeige

In ihrer Prosa lebt der Geist des Widerstandes

Der Pangäa-Verlag, das ist ja Suhrkamp, und die blöde Kuh, die bei der Verleihung Rabatz macht, die Lewitscharoff. Der alte Kowalski natürlich Ranicki. Und dieser besoffene Machtmensch namens Umlauf ist … Soweit die kursierenden Pawlowschen Interpretationen.

Doch dieses Buch will gelesen werden. Also zurück auf Null. Marlene Streeruwitz ist eine Schriftstellerin, in deren Prosa der Geist des Widerstands lebt. Der spricht von den Zurichtungen von Leben und Schreiben durch Markt und Macht, mithin: Kapitalismus und Patriarchat. Streeruwitz’ Ecriture ist Enthüllungsarbeit, Trauerarbeit, Arbeit am Denken, an der Sprache selbst. Ihr jüngstes Vorhaben nennt sie das „Griselda-Projekt“ – benannt nach einer Verkörperung der idealen Frau im Decamerone: In Griselda hat der Marchese Gualtieri eine Gattin gefunden, so gehorsam und diensteifrig, dass es die reine Freude ist. Trotzdem unterzieht er sie drei Prüfungen. Erst muss sie ihre Kinder zur Tötung freigeben. Dann verbannt er Griselda und befiehlt ihr, ihm eine neue, junge Braut zuzuführen. Als Gri­selda auch dieses Opfer bringt, stellt er ihr die Braut als die totgeglaubte Tochter vor und erhebt die Standhafte wieder in ­Ehewürden. 

Warum diese Geschichte, die ihren Weg durch Literatur und Kunst machte, bis hin zum „Meister der Griseldis“, dessen Bildzyklus in der Londoner National ­Gallery Nelia im Schlusskapitel betrachtet? Zu Beginn von Boccaccios Novelle erläutert Gualtieri, warum eine „ehrbare“ Frau so schwer zu finden sei: Man könne nicht zuverlässig von den Eltern auf die Kandidatin schließen, zumal man nichts von den „Geheimnissen der Mütter“ wisse. Es geht also um die zentrale Frage nach einer weiblichen Genealogie, die – statt Töchter wie Söhne übers Vatererbe zu ­definieren – den weiblichen „Nachkommen“ Aussicht auf eine eigene Herkunft, Tradition und Erbschaft eröffnet. Das ist der Kern von Streeruwitz’ Roman. Und natürlich ist der Standpunkt der Autorin auf beide, Mutter und Tochter, verteilt.

Der Roman beginnt mit dem Tod von Nelias Großvater, Vater ihrer fünf Jahre zuvor gestorbenen Mutter Dora, einer Schriftstellerin, deren Künstlernamen Nelia ange- nommen hat – denn sie ist deren letztes, ein uneheliches Kind. In Frankfurt, dem Mittelpunkt ihrer Reise von Wien über den Buchpreis-Messe-Horror bis zu ihrem Halbbruder nach London, wird Nelia von ihrem leiblichen Vater kontaktiert, den sie nur „der Mann“ nennt: ein verwitweter emeritierter Literaturprofessor mit reichlich weiblichen „Vertrauten“ – und ein starkes, subtiles Männerporträt. Bei ihrem Besuch in seinem Haus („Du wirst das alles hier doch erben“) erfährt Nelia beiläufig, dass er kein Kind wollte. So begreift sie, dass ihre Mutter es vorgezogen hatte, ihre Beziehung zu dem geliebten Mann zu opfern, statt das Kind abzutreiben – im Subtext: statt dem Gualtieri-Befehl zu folgen. Am hoffnungsvollen Schluss stellt sich heraus, dass Nelias Halbschwester ein Kind bekommen wird: außerhalb der Linie des Herrn Professors. 

Nach Doras Tod hat Nelia in Griechenland den Aktivisten Marios lieben ­gelernt, der auf einer Demonstration verletzt wurde. Diese Reise bedeutete, wie ihr Schreiben, Abschied von und Aneignung der Mutter zugleich. Jetzt, in deren Buchmesse-Fußstapfen, erweist sich Nelia als das zu früh selbständige Kind, dem der Schutz der Mutter, ihre Nahrung, Wärme und Sprache fehlt. 

Das zeigt sich auch im Leitthema des Hungers: Die Preisverleihung erinnert Nelia an das SF-Opus „Hunger Games“; ihr eigener, überkontrollierter Hunger treibt sie dazu, Obst aus einer Biomülltonne zu klauben. Schlussendlich, vor den Griselda-Bildern, belehrt ein Lehrer seine verlegen kichernden Schülerinnen eindringlich, dass Frauen damals einen Vater oder Ehemann brauchten, denn sonst „they would have died of hunger“. 

Genau diese Häme begegnet Nelia in der Mischung aus Hass und Gier vonseiten der Buchmessen-Gualtieris. Und sind nicht, der Gedanke drängt sich auf, all die gestylten Maskottchen der mächtigen ­Literaturmanager totgesagte Töchter, die als Bräute auf den Schoß ihrer Väter ­zurückkehren? 

In Frankfurt bewegt sich Nelia im Zentrum der Macht. Was Marios’ ganzes Land erlebt, erleidet Nelia als Fremdling auf dem Geld- und Buchmarkt: den ­Abstieg. Es ist ein Gang durch die Hölle, dessen Stationen jede(r) nichtarrivierte Autor(in) durchmacht. Billige Hotelzimmer. Vom Frühstücksbüffet mitgenommenes Brot. Herbstkälte. Die Klos im Hessischen oder Frankfurter Hof. Enge Aufzüge. Security-Filzen am Messeeingang. Künstliche Palmen am Hallenstand. Ein Verleger, der einen als „bestes Pferd im Stall“ lobt. Herablassender Zuspruch, aggressive Anmache, Saufen, Zynismus, schreiende Fröhlichkeit. Die Routine von Fotografen, Interviewern, Maske, TV-Talk. Und die kleinen Abweichungen von alldem. Präzise, differenziert und mitnichten satirisch geschildert. 

Indem Streeruwitz dieses Szenario zum Mittelpunkt der Erzählung macht, packt sie den Stier bei den Hörnern. Daher das dankbare Hohnlachen des Betriebs, den sie vorführt. „Eine hübsche kleine Odyssee haben Sie da geschrieben“, blafft ein Kritiker Nelia gönnerhaft an. Welche Bestätigung, wenn jetzt einer auf „Spiegel online“ schreibt: „Sie friert ständig. Hübsche Idee von der Streeruwitz, sie mit zu leichtem Gepäck reisen zu lassen!“

Die Erkundung einer weiblichen Genealogie

Nur wer Augen hat zu lesen, erkennt die Wegweiser bei der Erkundung einer weiblichen Genealogie, die richtunggebenden, aber auch die angetragenen Irrwege – von Phrasen über das „neue Mutter-Tochter-Problem“ bis zu Goethes „Natürlicher Tochter“, von Pippi Langstrumpf bis zu der großartigen Szene mit der Autorin, die auf einer Messelesung den Mutterhass zur Voraussetzung für Emanzipation erklärt. Welches Erbe kann eine (schreibende) Frau, also Tochter antreten? Am Kulminationspunkt formuliert Nelia im TV-Interview die Schlüsselworte: „Ich kritisiere nicht. Ich lehne ab. Ich lehne jede Verantwortung für alle diese Erbschaften ab, mit denen ich belastet bin.“ 

Erst vor den Griselda-Tafelbildern in London erkennt Nelia, was ihr die Mutter vererbt hat: „Solche Geschichten. Die hatten nicht gegolten. Für sie nicht. Neben ihrer Mutter sitzend. Sie hatte ihr Leben als einen strahlenden Bogen gesehen. Ihr Erbe war, dass sie sich das so hatte denken ­können. Ihre Mutter hatte sich vor diese Geschichten gestellt. Hatte ihr die Sicht verstellt. Undurchsichtig. Hatte mit der Verstellung ihr das Leuchten erhalten.“

So endet das Buch selbst in einem „strahlenden Bogen“ – und hinterlässt Zweifel an der Lösung. Kann Verstellung ein Medium der Überlieferung sein? ­Müssen die Mütter weiterhin ihre Geheimnisse wahren, undurchsichtig bleiben, um den Töchtern eine Richtung zu weisen? Dieser kluge Roman zeigt: Der Weg der Doras und Nelias ist noch längst nicht zu Ende gedacht. 

PS: Im Herbst erscheint ein zweiter Roman von Marlene Streeruwitz, allerdings unter dem Namen der Tochter aus „Nachkommen.“, Nelia Fehn: „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“. Die Themen dieses Romans im Roman werden schon in „Nachkommen.“ mehrfach angeschlagen: Es ist ein Text über Liebe & Politik – und über Mütter & Töchter.

 

Lesung mit Marlene Streeruwitz am Montag, 29. September, 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln (Großer Griechenmarkt 39). 

Weiterlesen
"Nachkommen" und "Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland" (beide S. Fischer Verlag).

Artikel teilen
 
Zur Startseite