Frankreich: Wonnemonat Mai

Ex-IWF-Präsident Strauss-Kahn (Mitte), wenige Wochen, bevor die Bombe platzte. Links Lagarde.
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Es passiert immer im Mai. Im Mai 2016 veröffentlichten 17 französische Ex-Ministerinnen einen Aufruf gegen den epidemischen Sexismus der Männer in der Politik (und allen „Männerberufen“) – darunter die heutige Direktorin des IWF (Internationaler Währungsfond), Christine Lagarde (siehe Foto oben). Sie ist die direkte Nachfolgerin von Dominique Strauss-Kahn, der im Mai 2011 über die Anzeige eines schwarzen Zimmermädchens, Nafissatou Diallo, gestürzt war, die ihn der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Und im Mai letzten Jahres veröffentlichten 40 Journalistinnen ihr „Pfoten weg!“-Manifest, in dem sie den in der Politik herrschenden Sexismus anklagten und bedauerten: „Die Affäre Strauss-Kahn hat leider keine Wende gebracht.“

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Der Fall Strauss-Kahn hat leider keine Wende gebracht

Im Mai 2016 war nun ein Tweet der Auslöser: „Legt Lippenstift auf, um gegen sexuelle Belästigung zu protestieren.“ Auf dem beigestellten Foto (siehe Seitenspalte) zeigen sich acht Politiker in Anzug und mit roten Lippen, darunter auch Denis Baupin, zu diesem Zeitpunkt Abgeordneter der französischen Grünen und stellvertretender Präsident des Parlaments. Es war der 8. März, Tag der Frauen.

„Ich hätte schreien und kotzen können“, sagt Parteikollegin Elen Debost. Für die Politikerin war das der Gipfel der Heuchelei. Noch am selben Tag postete sie den Tweet auf ihrer Facebook-Seite und kommentierte: „Wirklich beschämend, wie er sich über uns lustig macht: Denis Baupin mit Lippenstift und der Parole ‚Ich unterstütze die Frauen‘“ Zwei Journalisten von France Inter und dem Onlinemagazin Mediapart gingen der Sache nach. Debost sagte, Baupin habe sie monatelang belästigt und mit anzüglichen Textnachrichten bombardiert. 

Offenbar war sie nicht die Einzige. Bei ihrer Recherche stießen die Journalistinnen bei den französischen Grünen auf ein „System der Omertà“, ein Gesetz des Schweigens, wie man es von der Mafia kennt: Viele wussten Bescheid, niemand traute sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Rasch wurden die Anschuldigungen von insgesamt acht Parteikolleginnen öffentlich, vier berichteten anonym, die anderen vier gingen vor die Kameras. Ihr bisheriges Schweigen begründeten sie damit, sie hätten dem Ruf der Partei nicht schaden wollen. 

Es herrschte ein System des Schweigens -
wie bei der Mafia

Baupin sprach von „lügnerischer Verleumdung“, legte aber noch am selben Tag sein Amt als Vizepräsident der Nationalversammlung nieder. Als „DSK der Grünen“ wird er nun von den französischen Medien bezeichnet. Tatsächlich erinnern die Vorwürfe an diejenigen, die französische Journalistinnen öffentlich machten, als der damalige Chef des Internationen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, 2011 in New York wegen Vergewaltigung eines Zimmermädchens angeklagt wurde. Doch seither hat sich nichts geändert. Zumindest in Frankreich nicht. Im Mai 2015 veröffentlichten 40 französische Journalistinnen in der Zeitung Libération ein Manifest, in dem sie den „herrschenden Sexismus“ denunzierten: deplatzierte Bemerkungen, Hände auf Oberschenkeln oder dubiose Tauschgeschäfte wie „eine Info gegen einen Apéro“. Sie schrieben: „Wir dachten, die DSK-Affäre habe die Linien verschoben, und das machohafte Verhalten, das Symbol altmodischer Politik, sei vom Aussterben bedroht. Irrtum“.

Unter den acht Frauen, die nun 2016 gegen Baupin Zeugnis abgelegt haben, ist auch Sandrine Rousseau, Parteisprecherin von Europe Écologie – Les Verts (EELV). Für sie war ebenfalls der Tweet der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Rousseau berichtet, wie sie 2011 von Baupin auf dem Weg zur Toilette in einem Gang „gegen die Wand gedrückt“ worden sei. Er soll ihren Busen begrabscht und versucht haben, sie zu küssen. Zurück auf ihrem Platz, erzählte sie fassungslos ihrem Tischnachbarn, was passiert war. Der einzige Kommentar lautete: „Mist, hat er wieder angefangen.“ 

Der anfangs spaßige Ton wurde sehr schnell nervend

Rousseau, damals neu in der Partei, informierte zwei Kollegen, aber traute sich nicht weiterzugehen: „Ich hatte Angst, dass man mir nicht glaubt, dass man mich für verrückt hält, dass ich diejenige bin, die für Ärger sorgt.“

„Fast täglich hat er mich mit Hunderten von provozierenden und schmierigen SMS belästigt“, berichtet eine andere Abgeordnete, Isabelle Attard. Sie habe von mehreren Kolleginnen gewusst, die ähnliche Nachrichten bekamen. Während Arbeitssitzungen habe Baupin sie regelmäßig angemacht, anfangs im spaßigen Ton, der dann sehr schnell „lästig, ja nervend“ wurde.

Als Spezialistin für Energiefragen der französischen Grünen ließ sich der Kontakt mit Baupin für sie nicht ganz vermeiden. Sie ging deshalb zu Terminen mit ihm nur noch in Begleitung eines Assistenten. „Mir war das sehr unangenehm, einen Mitarbeiter mitzunehmen, der dort seine Zeit als Bodyguard, Beschützer und Verhinderer schmieriger Witze vergeudete, weil ich mich sonst unwohl gefühlt hätte.“

Seit der Skandal öffentlich ist, räumen etliche Grüne ein, dass man auf peinliche Weise versagt habe. Die einen versuchten, sein Verhalten als „übertriebene Anmache“ abzutun. Ein Parteifunktionär aber gestand: „Es war wirklich weithin in der Partei bekannt.“

Die Frauen schwiegen, um dem Ruf ihrer Partei nicht zu schaden

Die meisten Vorwürfe liegen Jahre zurück und könnten vor Gericht als verjährt eingestuft werden. Auf die Frage, warum sie nicht früher damit an die Öffentlichkeit gegangen sind, sagen die Frauen der Grünen, sie hätten dem Ruf der Partei nicht schaden wollen. Inzwischen zieht der Skandal seine Kreise weit darüber hinaus. Die politische Klasse Frankreichs wird mal wieder mit ihren Usancen und Unsitten konfrontiert, die bis zur DSK-Affäre gern als charmanter, wenn auch aus der Zeit gefallener Donjuanismus abgetan wurden.

Kurz nach dem Appell der 17 Ex-Ministerinnen haben sich weitere 500 Frauen und Männer aus Politik und Medien öffentlich angeschlossen. Sie fordern „das Ende der Straffreiheit“ bei sexistischen Vergehen. Es wird eng für den berühmtberüchtigten Ohlala-Charme.
 

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Wir schweigen nicht länger!

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Wir sind aus unterschiedlichen Gründen politisch engagiert und stehen für unterschiedliche Ideen. Aber wir sind gemeinsam davon überzeugt, dass der Sexismus keinen Platz hat in unserer Gesellschaft. Dieses Übel herrscht nicht nur in unserem Milieu, aber die Welt der Politik hat die Pflicht, vorbildlich zu sein. Diejenigen, die die Gesetze machen und anwenden, haben die Pflicht, sie zu respektieren und unangreifbar zu sein.

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Wir hatten die Affäre DSK (Dominique Strauss-Kahn, Anm.d.Red.), den Appell der politischen Journalistinnen: „Pfoten weg!“, und jetzt die verblüffende Aussage von vier Politikerinnen, die Denis Baupin (Grüner und Vizepräsident der Nationalversammlung) der sexuellen Belästigung beschuldigen. Es betrifft alle Parteien, auf allen Ebenen der Macht. Wir greifen darum zur Feder, um zu sagen: Das war einmal zuviel! Omertà und Schweigegebot greifen nicht länger.

Wir waren Ministerinnen. Wir wurden oder werden gewählt. Und wie alle Frauen, die in einst exklusiv männliche Domänen eindringen, haben wir den Sexismus ertragen und ihn bekämpfen müssen. Es ist nicht an uns Frauen, uns an dieses Milieu zu gewöhnen – gewisse Männer müssen sich ändern. (…)

Die Schamlosigkeit ist vorbei. Wir schweigen nicht länger. Wir werden von nun an jede sexistische Bemerkung, jede deplatzierte Geste, jedes unangebrachte Benehmen öffentlich machen. Wir ermutigen alle Opfer sexueller Verfolgung und Aggressionen, darüber zu reden und es anzuzeigen.

Und wir erwarten von unseren Parteien und politischen Gruppierungen, jede Klage zu überprüfen und die Opfer zu unterstützen, damit die Wahrheit ans Licht kommt. (…)

Wir Frauen müssen arbeiten und in die Welt gehen können, ohne unangebrachte Bemerkungen und Berührungen ertragen zu müssen.

Hier geht es zum Original-Appell

 

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