Belarus: Warum schweigt ihr?

Swetlana Alexijewitsch, Stimme und Chronistin des (weiß)russischen Volkes, sendet einen Hilferuf. - Foto: imago images/ITAR-TASS
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„Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird?“ Mit diesen Worten hat sich Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch am Mittwoch, den 9. September, in einem Offenen Brief an die russische Intelligenzija gewandt. In dem Brief, veröffentlicht auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums, hatte Alexijewitsch darauf hingewiesen, dass sie das letzte Mitglied des von Tichanowskaja einberufenen Koordinationsrats ist, das nicht im Gefängnis sitzt oder zur Ausreise gedrängt wurde. Hier ihr Brief im Originaltext (in der Übersetzung von Dekoder):

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Von meinen Freunden und Gesinnungsgenossinnen und -genossen im Präsidium des Koordinationsrates ist keiner mehr da. Alle sind entweder im Gefängnis oder wurden rausgeschmissen und unfreiwillig außer Landes gebracht. Heute war der letzte dran: Maxim Snak.

Wir wollen keinen Umsturz. Wir wollen, dass in der Gesellschaft ein Dialog beginnt

Erst wurde unser Land erbeutet, dann wurden die besten von uns gekidnappt. Doch an die Stelle der aus unserer Mitte Gerissenen treten Hunderte andere. Nicht der Koordinationsrat lehnt sich auf, das ganze Land lehnt sich auf.

Ich wiederhole, was ich schon oft gesagt habe: Wir haben keinen Umsturz geplant! Wir wollten keine Spaltung in unserem Land zulassen. Wir wollten, dass in der Gesellschaft ein Dialog beginnt. Lukaschenko sagt, dass er nicht „mit der Straße“ redet. Aber die Straße, das sind hunderttausende Menschen, die jeden Tag auf die Straße gehen. Das ist nicht „die Straße“, das ist das Volk. Die Menschen gehen mit ihren kleinen Kindern auf die Straße. Und sie glauben, dass sie siegen werden.

Ich wende mich auch an die russische Intelligenzija – nennen wir sie einfach aus alter Gewohnheit so. Warum schweigt ihr? Nur einzelne Stimmen von Unterstützern hören wir. Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern.

Und meinem Volk möchte ich sagen, dass ich es liebe. Dass ich stolz auf es bin.

Da, es klingelt schon wieder jemand an der Tür, den ich nicht kenne ...

***

Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja antwortete Alexijewitsch am Tag darauf (in der Übersetzung von Dekoder):

Ljudmila Ulitzkaja antwortet Swetlana Alexijewisch.
Ljudmila Ulitzkaja antwortet Swetlana Alexijewisch. - Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Liebe Swetlana!

Belarus erlebt heute das, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch Russland in einiger Zeit wird erleben müssen. Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell unserer nahen Zukunft. Und zwar ein gutes Modell.

Es hat sich gezeigt, dass ein ruhiges und, wie uns immer schien, eigentlich gelassenes Volk auf den unheilvollen Appetit des Regimes, verkörpert von einem völlig unfähigen Diktator, sehr wachsam reagiert. Das Volk hat auf eine äußerst würdige Art und Weise seine Meinung kundgetan bei Demonstrationen von zigtausend Menschen auf dem Platz vor der Präsidentenresidenz. Friedliche Demonstrationen, ohne zerschlagene Scheiben und brennende Autos.

Diesem Protest liegt, wie mir scheint, ein Gefühl der eigenen Würde zugrunde, von Menschen, die sich nicht mehr abfinden wollen mit dem Regime eines vor lauter unbegrenzter Macht Durchgedrehten, eines beschränkten und ungebildeten Mannes.

Keine einzige Minute meines Lebens mochte ich Macht. Nicht die von Stalin, nicht die nach Stalin, nicht den Reigen der nachfolgenden Führer, nicht die postsowjetischen Regierungen, nicht die putinsche. Die Erfahrung als sowjetischer Mensch, der den Großteil seines Lebens unter den Paukenschlägen schamloser Propaganda gelebt hat, machte mich umfassend immun.

Die Ereignisse in Belarus haben mein idyllisches Bild vom Leben zerstört

Ja, wir leben heute in goldenen Zeiten, wenn man unser Leben mit dem Leben unserer Eltern und Großeltern vergleicht. Der Eiserne Vorhang ist kollabiert, die Grenzen sind offen, Informationen aus aller Welt, die in sowjetischer Zeit immer unter Verschluss blieben, strömen nur so zu uns. Jeder, der sie bekommen will, schaltet einfach seinen Computer an. Die Verhaftungen sind präzise und punktuell, ohne stalinsche Wucht.

Doch die Ereignisse in Belarus haben mein idyllisches Bild vom Leben zerstört: Es ist klar geworden, wie das Regime die Zähne zeigt, wenn es sich in seiner unbegrenzten und unrechtmäßigen Existenz bedroht fühlt.

So erstaunlich es auch sein mag: Die belarussischen Bürger reagieren sensibler als wir auf die Unmoral und die Schamlosigkeit des Regimes. Die eigene Würde überwiegt nun die Trägheit, Angst und eben jenes soziales Faulenzen, das das Leben in weiten Teilen des gesamten postsowjetischen Raums prägt. Wir alle – ich spreche von meinen Freunden und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gibt – verfolgen höchst gespannt alle Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen. Wir wissen von den Verhaftungen und von den neuen, wunderbaren Führungsfiguren.

Und uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann.

Ich sende dir herzliche Grüße, Swetlana, und wünsche dir Gesundheit und Kraft. Und dass du in einem Land lebst, das frei ist von einem dummen und ekelerregenden Regime. Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.

Ich umarme dich,
Ljusja Ulitzkaja

Die Übersetzung wurde übernommen von Dekoder, einer Internetplattform, die dem deutschsprachigen Publikum Texte unabhängiger, liberaler russischer Medien zugänglich macht.

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