Brüderles Dirndlgate
Die Brüderle-Anmache müsste bei den meinungsfreudigen Schülern hinreichend Kontroversen erzeugen. Dann könnte man sehen, inwieweit man mit entsprechenden Theoriemodellen weiterkäme. Zumal: Ich, der Lehrer, bin mir selber nicht sicher, ob das wirklich so schlimm war, was Brüderle gesagt hatte. Sprachlich wären weit üblere Entgleisungen denkbar. Muss man sich also darüber so aufregen? Die Stunde würde zeigen: Man muss!
Das Thema ist vorgestellt, die Texte sind verteilt. Für die Schülerinnen und den Schüler gibt es erst einmal Zeit zum Lesen und Diskutieren. Und schon wird es leidenschaftlich: „Man müsste wissen, ob die wirklich ein Dirndl anhatte oder nicht.“ – „Wahrscheinlich eher nicht, aber der hat sie sich bestimmt im Dirndl vorgestellt.“ – „Da hätte er sich noch ganz andere Dinge vorstellen können.“ – „Hat er garantiert auch“.
Ist doch klar, worauf sowas hinausläuft!
Darüber besteht weitestgehende Einigkeit: „Ist doch klar, worauf das hinauslaufen soll, wenn es direkt mal um den Busen geht!“ – „Wie kann das sein, die beiden reden kaum miteinander, die Journalistin will ein Interview führen, und der spricht sie auf ihre Brüste an.“ „Und küsst sie – ihre Hand.“ – „Das ist eben alte Schule. Tanzschulenkavalier: Küss die Hand, möchten Sie mit mir tanzen?“ – „Unsinn, tanzen, der wollte doch nicht tanzen.“ – Auch das noch: Da geht es nicht um dominantes Sprachverhalten, die SchülerInnen halten das für ein Altmännerleiden. Wie war das noch in Brechts Mahagonny: Wo jeder alles dürfen darf, solange er genug Geld oder Macht hat? Ich muss da jetzt Ruhe reinbringen.
„Der B. nutzt gnadenlos aus, dass er der große Politiker ist und sie die junge Journalistin.“ – „Das sagt doch sie. Weil sie die Situation wieder auf die professionelle Ebene ziehen wollte.“ – „Ich denke, die Journalistin will hier klar eine Grenze aufzeigen. Vielleicht hat sie auf die erste Brüste-Äußerung nicht reagiert, weil sie unbedingt das Interview will.“ Der Kurs ist sich einig.
Was denn B.s Äußerung soll, alle Politiker verfielen Journalistinnen? „Er sei ihr auch verfallen, solle das heißen.“ – „Lächerlich, verfallen. Er ist scharf auf sie.“ Ich denke: Ich versuche es nochmal. Vielleicht sind wenigstens mildernde Umstände rauszuholen. Es sei 23 Uhr gewesen oder später, an einer Hotelbar, langer Arbeitstag, sage ich. Dann rede man eben viel, auch unkontrolliert, dazu noch Alkohol im Spiel … „So unkontrolliert ist der doch nicht, macht die Journalistin an und entschuldigt sich damit, dass alle nur Menschen seien.“ – „Jaja, alle haben ihre Triebe soll das wohl heißen, richtig menschlich ist das.“
Sind da vielleicht mildernde Umstände rauszuholen?
Ob es denn einen Unterschied gemacht hätte, wenn ein gutaussehender, junger Politiker an Brüderles Stelle gewesen wäre, eine jüngere Ausgabe von Jude Law zum Beispiel?
„Das ändert gar nichts!“ – „Das will man als Mädchen nicht hören, dass einer als erstes etwas über deinen Hintern oder deine Brüste sagt.“ – „Ich hab da mal ein Video gesehen, das war lustig, da waren zwei Frauen, und die haben das den Männern gesagt, wenn sie einen knackigen Hintern hatten. Die waren dann völlig irritiert.“ – „Also, wenn einer kommt und sagt: ‚Hey, Du siehst gut aus‘ oder ‚Du gefällst mir‘ oder ‚Du bist aber nett‘, dann ist das ja in Ordnung. Aber wenn der direkt sagt: ‚Du hast einen geilen Hintern‘ und dann dauert das nicht lange, dann fällt er über dich her.“
Ist doch klar, worauf sowas hinausläuft!
Das war‘s wohl. Stunde vorbei. Meine 13 Schülerinnen und der eine Schüler hatten Recht. Ohne Einschränkungen. Nicht die richtige Zielgruppe für „Komplimente“ vom Typus Brüderle. Aber wer ist das schon?
Ich habe etwas gelernt: von meinen Schülern. Für die Differenz zwischen „Flirt auf Augenhöhe“ und sexistischer Anmache bewiesen die Schülerinnen ein feines Gespür. Mario ging es nicht anders. Also schrieb ich eine E-Mail an Alice Schwarzer. Vielleicht würde sie sich ja freuen, dass die Mädels „vom Kölner Land“ und Mario so klar im Kopf sind. Ja, das hat sie gefreut. Mich auch.
Adi Grossmann, 60, Hennef