Das eigene Maß

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Einerseits sollen alle bis ins hohe Alter fettfreie, schlanke und durchtrainierte Körper haben – andererseits gelten aber so viele Menschen als übergewichtig und leiden an ernährungsbedingten Krankheiten: Wie passt das zusammen? „Wer Anorexie verstehen will, muss sich erstmal mit seinen eigenen Abneigungen gegenüber Dicken auseinandersetzen“, so formuliert es der klinische Psychologe und Autor David M. Garner, der zu Körperbild und Essstörungen forscht.

Denn gerade von denen, die mühsam mit ihrem Essverhalten ringen, werden dicke Menschen besonders abgestraft. Das bedeutet: Das extreme Schlankheitsideal bis hin zur Anorexie und die realen Körperformen bis hin zu starkem Übergewicht haben mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Im Prinzip sind es zwei Seiten einer Medaille: Schon normalgewichtige Menschen, die sich angesichts unrealistischer Ideale „zu dick“ finden, scheitern wieder und wieder an ihrem Essverhalten, an Diäten und Sportprogrammen. Im ungünstigsten Fall nehmen sie dadurch langfristig zu oder entwickeln sogar eine Essstörung. Gleichzeitig prägen die Ideale den Blick auf übergewichtige Menschen so negativ, dass Essstörungsexperten schon von einer „fettphobischen“ Gesellschaft sprechen. Bei der Verachtung und Abwehr gegenüber denen, die sich vermeintlich unreflektiert und ungesund ernähren, spielen daher auch eigene Unsicherheit oder Unzufriedenheit eine Rolle.

Die Ideale unserer diät- und körperfixierten Gesellschaft machen es somit für alle schwer. Denn auch diejenigen, die in irgendeiner Form gesellschaftlich nicht mithalten können, haben ja die vorherrschenden Ideale dieser Gesellschaft vor Augen – selbst, wenn sie diese niemals erreichen. So bleibt jemand, der 120 kg wiegt und sich mühsam auf 100 kg herunterhungert, dennoch unerreichbar weit entfernt von allem, was um ihn herum als erstrebenswert gilt. Weitere brachiale Abnehmversuche und Gewichts-Jojo schädigen zusätzlich die Gesundheit.

Diese Ambivalenz zwischen Ist- und vermeintlichem Soll-Zustand erklärt auch die Faszination von Unterhaltungsshows im Fernsehen, in denen stark übergewichtige Menschen vor Publikum zum „ultimativen Abnehm-Wettbewerb“ oder „Fettkampf“ gegeneinander antreten. Solche Formate tragen kaum zur Akzeptanz verschiedener Körperformen bei, sondern befriedigen eher die Sensationslust: Die meisten Menschen erahnen (oder wissen aus eigener Diäterfahrung), was für eine kaum zu bewältigende Aufgabe vor den Teilnehmenden liegt. Vielleicht nährt es aber auch die eigene, noch so kleine Hoffnung nach durchschlagender Veränderung („40 Kilo Unterschied – Laura vorher und nachher“) – wobei selbst diese in der Regel nicht von Dauer ist.

Nicht nur durch die Schlankheitsnormen, auch durch die gesundheitspolitische Diskussion fühlen sich KritikerInnen auf der richtigen Seite – denn ein schlanker Körper oder etwaiges Abnehmen wird ja nicht nur von der Gesellschaft, von Werbung und Medien propagiert, sondern auch oft von MedizinerInnen gefordert. Dies zeigte sehr anschaulich eine Debatte im Sommer 2019. Anlass: Die Firma Nike führte in ihrem Londoner Stammhaus erstmals „Plus Size“- und Behindertensport-Schaufensterpuppen ein, um „Diversität und Inklusion auch im Sport“ widerzuspiegeln. Zu sehen war unter anderem eine Puppe in etwa Größe 46, mit enganliegenden Leggins und Sport-BH – eben Sportkleidung. Eine Journalistin kritisierte in der britischen Zeitung Telegraph daraufhin, die Puppe vermittele, dass Übergewicht nicht etwa ungesund, sondern in Ordnung sei – womit Frauen eine „gefährliche Lüge“ verkauft würde. Die Puppe sehe aus, als ob sie an Diabetes leide oder bald ein künstliches Hüftgelenk brauche. Daraufhin entstand eine lebhafte Diskussion, vor allem in den sozialen Medien: Eine Nutzerin beispielsweise twitterte ein Bild von sich selbst und schrieb, dass sie mit einer ganz ähnlichen Figur Marathon laufen würde. Andere kritisierten, genau diese Haltung würde Mobbing gegenüber Dicken schüren.

Die Debatte um die Schaufensterpuppe zeigt, wie gering die Akzeptanz unterschiedlicher Körperformen nach wie vor ist. Diversität und Inklusion scheinen bei den Schaufensterpuppen zwar für Menschen mit Behinderung zu gelten, aber nicht für einen von der Schönheitsnorm abweichenden Körper. Während Antidiskriminierungsgesetze und gesellschaftlicher Diskurs darauf hinwirken, dass niemand hinsichtlich Geschlecht, ethnischer Herkunft, Alter, Behinderung oder Religionszugehörigkeit benachteiligt werden darf, hört bei den Körperformen die Vielfalt auf.

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