Ende Mai spazierte ich durch Bern, weil mich die Frauen beauftragte der Universität eingeladen hatte, aus meiner Biographie der Atomphysikerin Lise Meitner zu lesen, und zwar im Rahmen der Ausstellung "Von der Antike bis zur Neuzeit - der verleugnete Anteil der Frauen an der Physik". Den freien Tag nutzte ich, um in der Kramgasse 49 über den malerischen Arkaden die Wohnung zu besuchen, in der Albert Einstein von 1902 bis 1909 gelebt hatte. Über einem Türsturz hingen Bilder "berühmter Physiker" aus der Zeit der Einsteins. Lise Meitner suchte ich vergeblich, obwohl Albert Einstein die Forscherin hochgeschätzt und in den 20er Jahren in Berlin "unsere" bzw. "die deutsche Madame Curie" genannt hatte. Stattdessen lachte mir Otto Hahn entgegen.
Unter Hahns Foto korrigierte ein kleiner Papierzettel, auf dem "Chemiker" stand, den Fehler. Aber da war er wieder, dieser "Hahn-Effekt", der Lise Meitner lebenslang fast unsichtbar machte. - Lise Meitner, die 1878 in Wien geboren wurde und 1968 in Cambridge starb, hätte wahrscheinlich genau wie ich über diesen Irrtum lachend den Kopf geschüttelt. Denn, wie sagte die Physikerin in Berlin, ihrer zweiten Heimat, immer? "Hähnchen, sei still, von Physik verstehst du nichts."
Mit 31 Jahren, als promovierte Physikerin, verließ Lise Meitner mit elterlicher Unterstützung ihr Heimatland Österreich und ging nach Berlin, "um ein wirkliches Verständnis von der Physik zu gewinnen". Sie sprach bei Max Planck vor, obwohl Frauen in Preußen noch nicht zum Hochschulstudium zugelassen waren und Planck keine Gelegenheit ausließ, gegen "geistige Amazonen" zu wettern. Dennoch überzeugte sie den Wissenschaftler. Er akzeptierte sie in seinen Vorlesungen und machte sie 1912 so gar zur ersten Universitätsassistentin. Lise Meitner sah in diesem Posten "eine große Hilfe, die bestehenden Vorurteile gegen Akademikerinnen zu überwinden", die sie noch 1907 in den Keller verbannt hatten. Denn Otto Hahns Chef hatte der männlich-weiblichen Zusammenarbeit anfangs nur zugestimmt, weil Lise einwilligte, niemals das Institut zu betreten. Ihre Arbeit mußte auf die Holzwerkstatt beschränkt bleiben, einen Raum im Souterrain mit eigenem Eingang, den Hahn als Labor genutzt hatte.
Die fast gleichaltrigen Kollegen Hahn und Meitner publizierten von Anfang an gemeinsam und machten sich als Team einen Namen in der Fachwelt. Sie wurden schon bald zusammen - aber auch einzeln - für Nobelpreise vorgeschlagen. Lise Meitner arbeitete sich aus dem Keller heraus. Ab 1917 baute sie, endlich nicht mehr unbezahlt, ihre eigene physikalische Abteilung im Berliner Kaiser-Wilhelm- Institut auf, die sie 21 Jahre lang selbständig leiten sollte.
Einen Tag bevor ich die Physikerin Meitner im Berner Einstein-Haus vergeblich suchte, und zehn Jahre nach Erscheinen meiner Meitner-Biographie, war im "Spiegel" endlich ein erster Artikel über Lise Meitners Leben erschienen. Anlaß war eine neue, von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin und Chemikerin Ruth Lewin Sime verfaßte Biographie, "Lise Meitner - A life in Physics", die das Nachrichtenmagazin jedoch zu Unrecht als die erste "späte Rehabilitierung" feierte. Der "Spiegel" verlor kein Wort über den Skandal, daß ein Schild jahrzehntelang den Tisch im Deutschen Museum, an dem Lise Meitner und Otto Hahn zusammen mit Fritz Straßmann gemeinsam experimentiert hatten, nur als "Arbeitstisch von Otto Hahn" bezeichnete. Kein Wort auch darüber, daß die Max-Planck-Gesellschaft jahrzehntelang diese Geschichtsfälschung widerspruchslos geduldet hat. Viele - und besonders viele Frauen - haben hierzulande dagegen protestiert. Aber erst nachdem 1989 auch der Weltkongreß für Wissenschaftsgeschichte die öffentliche Diskriminierung Lise Meitners in einer Resolution angeprangert hatte - übrigens von Ruth Lewin Sime mitangeregt - änderte man die Beschriftung. Seit 1990 lesen die Museumsbesucher: "Versuchsanordnung, mit der Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Straßmann 1938 die Kernspaltung entdeckten." Nur ein Jahr später, 1991,zog Lise Meitner als erste Frau in den Ehrensaal des Deutschen Museums ein, den seit 1903 nur Büsten von Männern schmückten.
Warum wartete man in Deutschland so lange mit der richtigen Würdigung ihrer Arbeit? Lise Meitner selbst hat früh erkannt: "Ich bin ein Teil der zu verdrängenden Vergangenheit." Denn ihr Leben ist nicht nur ein Lehrstück über Sexismus, sondern auch eines über Antisemitismus, über das Verhalten vieler deutscher Forscher im Dritten Reich und die Geschichtsklitterung danach. Und das genau interessiert auch Ruth Sime, deren jüdische Eltern und Großeltern ebenfalls vor den Nazis fliehen mußten. Sie selbst hat zu Meitner eine fast "lebenslange Beziehung": Fast 20 Jahre recherchierte sie für die Meitner-Biographie.
Es waren nämlich die politischen Verhältnisse, die Meitner um die Früchte der langjährigen Zusammenarbeit brachten und Otto Hahn am Ende allein zum Nobelpreisträger machten. Denn es war die Physikerin gewesen, die 1934 die Versuche angeregt hatte, die vier Jahre später zur Atomspaltung führten. Doch als der Erfolg kam, lebte die "Mutter des Atoms" als Flüchtling Stockholm. Hahn diskutierte mit der "lieben Lise" brieflich den Fortgang der Arbeiten in Berlin. Was Hahn jedoch sogar Fritz Straßmann verschwieg (und das war für mich die einzige, aber sehr wichtige neue Information in Ruth Simes Biographie): Er traf die alte Kollegin im November 1938 heimlich in Kopenhagen. Dort bestärkte sie ihn nochmals, Versuche zu wiederholen. Straßmann erinnerte sich: "Zum Glück wogen Lise Meitners Meinung und Urteil so schwer in Berlin, daß wir die notwendigen Kontrollexperimente sofort in Angriff nahmen." Und genau diese führten zur Entdeckung der Kernspaltung. Auch darüber informierte der Chemiker die Physikerin im Exil als erste, und nicht die Physiker im Institut.
Als Meitner im Februar 1939 ihre Arbeit über die "nuclear fission", "eine neue Kernreaktion", publizierte, traf Häme den unkollegialen Hahn: Erweckte "diese Jüdin" nicht den Eindruck, sie habe als erste erkannt, was passiert war? Die Berliner Wissenschaftler warfen Hahn vor, er hätte sie informieren müssen. Dann hätten sie "den physikalischen Nachweis ebenso schnell erbringen können". Doch "ich persönlich bin nicht überzeugt davon", schrieb Hahn 1939 an Meitner: "Ich darf natürlich nicht sagen, daß ich dich immer genau auf dem laufenden gehalten habe."
Ruth Sime widerlegt mit vielen physikalischen Details eindrücklich - und das ist der Verdienst ihres Buches - die bis heute gehandelte "wissenschaftliche Dolchstoßlegende": Meitner habe an der Entdeckung der Kernspaltung nicht nur keinen Anteil, sondern hätte diese wahrscheinlich sogar verhindert, wenn sie nicht ins Exil gegangen wäre.
Was Sime offenlegt, ist das feige Schweigen von Hahn, das 1938 aus - vielleicht noch verständlichem - Selbstschutz begonnen, jedoch nach dem Krieg und dem Nobelpreis nie gebrochen wurde. Teilen wollte er nicht, zu sehr genoß er es, Nobelpreisträger und Held zu sein, "eine Ikone deutscher Wissenschaftsgeschichte", gelobt und auch geehrt für ein untadeliges Verhalten im Dritten Reich.
Lise Meitner hat diese Entwicklung kommen sehen und von Anfang an nicht gebilligt, daß "die Legende verbreitet wird, daß die Deutschen aus purster Anständigkeit die Atombombe nicht gemacht hätten. (...) Ist es wirklich berechtigt zu sagen, daß die Mehrzahl der Wissenschaftler von Anfang an gegen Hitler war?"
Hahn war kein Chauvi, der Meitner "austrickste", wie der "Spiegel" suggeriert. Er steht nur für die männlich dominierten Wissenschaftszirkel, die es eigentlich besser wissen müßten, aber die Meitners Kritik traf und die ihr auch den Erfolg lange neideten. Auch deshalb ließen Kollegen sie tatenlos ins Vergessen sinken. Im Jahre 1953 stellte Carl Friedrich von Weizsäcker die Kernphysikerin unwidersprochen als "die langjährige Mitarbeiterin Hahns, Frl. Lise Meitner" dar. Ein Etikett, das der Forscherin lange anhaften sollte.
Lise Meitner reagierte empört: "Soll mir nach den letzten 15 Jahren (im Exil, d. Autorin), die ich keinem guten Freund durchlebt zu haben wünsche, auch noch meine wissenschaftliche Vergangenheit genommen werden? Ist das fair? Und warum geschieht es?"
Weil es bis heute geschieht, hat Ruth Sime ihr Buch auch für die Fachmänner und Fachfrauen geschrieben und stellt hohe Anforderungen an das Fachwissen. Um diese Zielgruppe zu überzeugen, war es vielleicht unumgänglich, so detailversessen (111 Seiten Fußnoten!) zu arbeiten und mit einem für Laien ermüdendem wissenschaftlichen "name-dropping" aufzuwarten.
Lise Meitner selbst hat Hahn den Nobelpreis nie mißgönnt. Auf der anderen Seite hat ihre Kritik an Hahns Verhalten, ihre - also die weibliche - Entdeckungsgeschichte der Kernspaltung nie öffentlich gemacht. Sie blieb immer auch die scheue Frau aus der Zeit der KuK-Monarchie. Öffentlich aufzutreten hatten Frauen damals noch viel weniger gelernt als heute. Meitner lehnte es auch ab, eine Autobiographie zu schreiben oder ihre Lebensgeschichte verfassen zu lassen. Auch hier hat sie Hahn und dessen Nachkommen kampflos das Feld überlassen.
Ebenfalls unerwähnt blieben in "Spiegel", "Zeit" oder "Focus", die Ruth Simes neue Biographie vorstellten, daß in Deutschland seit 1992 ein Lise-Meitner-Preis für Wissenschaftlerinnen aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften existiert, den die damalige hessische Kultusministerin und Physikerin Evelies Mayer ins Leben gerufen hat.
Noch 1987 erklärte das Deutsche Museum einer Schülerin, die in einem Brief wieder einmal die leidige "Meitner-Frage" stellte: "Die ganze Betextung wurde von Otto Hahn selbst verfaßt. Wahrscheinlich sah er Lise Meitners Beteiligung als mehr theoretischer Natur an. Gestatten sie mir zum Schluß eine persönliche Anmerkung: Die friedliche und kriegerische Anwendung der Atomspaltung hat so viel Kummer und Angst über diese Welt gebracht, daß man schon fragen muß, ob es wirklich schlimm ist, wenn man verschweigt, daß an dieser Entdeckung auch eine Frau beteiligt war." Moral, eine Frauensache?
Auch wenn ich aus meiner Meitner-Biographie lese, empören sich öfter Zuhörerinnen: Wie ich über so eine schreiben könne, die sei schließlich mitschuldig an der Atombombe, an Tschernobyl und Gorleben. Auch wenn Lise Meitner als Schulname vorgeschlagen wird, erheben sich immer wieder Stimmen, die ihre wissenschaftliche Arbeit nicht nur als "unweiblich", sondern pre se als "Verbrechen" abtun. Sicher, Lise Meitner war nicht weitsichtig, was die Folgen ihrer Entdeckung anging, sie sah nur die Chance einer unerschöpflichen Energiequelle. Sie ahnte zunächst noch nicht die Möglichkeit des Mißbrauchs. Doch als sie im Jahre 1943 aufgefordert wurde, in die USA zu gehen und den geheimen Atombombenbau mitzubetreiben, lehnte sie das ab. Meitner hat sich bis ins hohe Alter für die friedliche Nutzung der Kernenergie eingesetzt und eigene Fehler und politische Versäumnisse zugegeben, auch ihre Ignoranz in Frauenfragen. Gerade deshalb blieb sie für mich bis an ihr Lebensende eine vorbildliche Frau.
Als im Herbst vergangenen Jahres ein Norderstedter Gymnasium nach Lise Meitner benannt werden sollte, äußerten einige in der Namensfindungskommission ganz neue Befürchtungen: Provoziere eine Schule, die nach einer Jüdin benannt sei, nicht neonazistische Schmierereien oder gar tätliche Übergriffe der Glatzen? Lise Meitner gewann die Abstimmung trotzdem - oder gerade deshalb.
1945 schrieb die Physikerin an Otto Hahn: "Du wirst dich vielleicht noch erinnern, daß ich dir (...) oft sagte: Solange wir nur die schlaflosen Nächte haben und nicht ihr, solange wird es in Deutschland nicht besser werden."