Die missbrauchten Dienerinnen Gottes

Karin Weißenfels ist eine der Frauen, die in der Kirche Opfer sexueller Gewalt wurden. Sie schweigt nicht länger. - Foto: Robin Hinsch
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Karin Weißenfels begleitet Ende der 1980er Jahre die Ferienfreizeit für Kinder und Jugendliche ihrer katholischen Gemeinde im Bistum Trier, als „es“ passiert. Die Gemeindereferentin liebt ihren Beruf. Aber diesmal fühlt sie sich überfordert. Vor den Augen des Priesters bricht die 30-Jährige in Tränen aus. Der Pfarrer, scheinbar ein fürsorglicher Chef, bietet ein seelsorgerliches Gespräch an. Dann, so stellt sie es dar, wurde er zudringlich: „Ich war geschockt, wehrte mich aber nicht und ließ es über mich ergehen“, schreibt sie 30 Jahre später.

Der Priester bittet sie abends auf sein Zimmer, sie geht hin. Was dann passiert sein soll, beschreibt sie so: „Dort küsste und berührte er mich noch intensiver und ließ sich davon erregen. Dann hatte er einen Samenerguss. Das veränderte sein Verhalten von einer Sekunde auf die andere. Er schickte mich ohne Erklärung weg. Ich hatte in diesem Moment nicht verstanden, was vorgefallen war, ich war ja sexuell völlig unerfahren.“

Der Name Karin Weißenfels ist ein Pseudonym. Die Betroffene nennt sich so, seit sie 2020 im Buch „Erzählen als Widerstand“ mit 22 anderen Frauen von spirituellem und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche berichtet hat. Formulierungen wie „geschehen sein soll“, „mutmaßlich“ und „offenbar“ sind nötig, weil der Priester die Situationen anders dargestellt hat. Nachdem der Deutschlandfunk im Februar 2021 den Fall rekonstruierte, äußerte er sich in einem Brief an den Sender und in einem Telefonat. Er bestritt nicht, Sex mit der Mitarbeiterin gehabt zu haben, behauptete aber: „Die Initiative ging von ihr aus“.Der Pfarrer starb im Herbst 2021, wurde mit klerikalen Ehren bestattet.

Die Frau als Verführerin, der geweihte Mann als Opfer – so deutete er das Geschehen und sprach sich offenbar frei. Dabei war die sexuelle Handlung für ihn doppelt verboten: als zum Zölibat verpflichteter Mann und als Vorgesetzter.

Für Karin Weißenfels beginnt mit jener Sommerfahrt eine lange Leidensgeschichte. Es bleibt nicht bei dem einen und für sie ersten Mal, 13 Jahre folgen, die sie als sexualisierte Gewaltbeziehung beschreibt. Einige Monate nach dem ersten mutmaßlichen Übergriff stellt die Gemeindemitarbeiterin fest, dass sie vom Priester schwanger ist. Er drängt sie zum Schwangerschaftsabbruch, sagt sie. Der Priester will nicht von Drängen sprechen, er habe den Abbruch als Möglichkeit erwähnt. „Wenn wir zusammenbleiben wollen, bleibt nur die Abtreibung“, habe er ihr gesagt, erklärt er im Telefonat wenige Monate vor seinem Tod.

Nach katholischer Lehre ist Abtreibung ein „verabscheuungswürdiges Verbrechen“, eine schwere Sünde. Jedenfalls dann, wenn eine Frau sich dazu entscheidet. Wirken geweihte Männer daran mit oder sogar darauf hin, dürfen sie auf väterliche Milde des Bischofs und des Papstes hoffen.

Karin Weißenfels hätte das Kind gern bekommen, aber sie fühlt sich emotional und spirituell abhängig von dem Geistlichen. Den ersten Abtreibungstermin lässt sie verstreichen. Dem Pfarrer spielt sie vor, die Schwangerschaft abgebrochen zu haben. Er rät ihr, die Sünde bei einem mit ihm befreundeten Priester zu beichten. Sie geht hin und hofft, „dass er mir einen anderen Weg als den der Abtreibung aufzeigte“. Doch auch dieser Kirchenmann erklärt, es gebe nur die Abtreibung. „Sonst würde ich künftig alleine dastehen“, schreibt sie. Den nächsten Abbruchtermin nimmt sie wahr, völlig allein.

Wie viele Frauen in der römisch-katholischen Kirche Ähnliches erleben, hat keine Studie gezählt. Wie viele Kleriker eine Frau, die von ihnen schwanger war, zur Abtreibung raten, ist ebenso wenig erfasst. Die Theologin und Philosophin Doris Reisinger, die selbst in einem Orden missbraucht wurde und dies in ihrem Buch „Nicht mehr ich“ beschrieb, nennt das gut gehütete Geheimnis „reproduktiven Missbrauch“.

Seit 2010 ist sexualisierte Gewalt durch Kleriker ein Medienthema in Deutschland. Zwei Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen sind laut Studien und Gutachten Jungen. Doch es gibt noch eine andere Opfergruppe, die bisher kaum gesehen wird: „Die öffentlich geführte Debatte hat nicht einmal an der Oberfläche dessen gekratzt, was in der katholischen Kirche Frauen angetan wurde und wird“, erklärte Doris Reisinger Mitte März in ihrer Rede zum Herbert-Haag-Preis. Die MeToo-Bewegung sparte den kirchlichen Raum lange aus, als ob Übergriffe – vom Tätscheln bis zur Vergewaltigung – im Reich des Zölibats nicht vorkämen.

Im März 2019 zeigte arte „Gottes missbrauchte Dienerinnen“, eine aufwändige Dokumentation über die sexuelle Ausbeutung von Ordensschwestern durch Priester. Das Problem ist dem Vatikan lange bekannt, sogar Papst Franziskus sprach es öffentlich an. Geschehen ist zum Schutz der Frauen bisher auf weltkirchlicher Ebene nichts.

In Deutschland hat sich immerhin ein wenig verändert: Im September 2019 trafen sich in Siegburg bei Bonn auf Einladung der Deutschen Bischofskonferenz erstmals ausschließlich weibliche Betroffene. Mehr als 120 Frauen nahmen teil. Stockend erzählten sie in kleinen Stuhlkreisen ihre Erlebnisse: Da war der charismatische Pater, der in den Einzelexerzitien die Schultern massierte, bis hinunter zum Busen, angeblich um Verspannungen zu lösen. Der Obere einer geistlichen Gemeinschaft, der die Aufnahme daran knüpft, dass Bewerberinnen zum Sex mit ihm bereit seien. Der Priester, der junge Frauen zum Keuschheitsgelöbnis um sich schart und einzelne zum Gespräch über Sexualität bittet. Banale Begierde etikettieren klerikale Täter zur Hingabe an Gott um. Eine fast „revolutionäre Stimmung“ machte die taz in Siegburg aus, nach dem Ende des Schweigens und der Scham.

Das katholische Ideal vom opferbereiten weiblichen Wesen wirkt. Dazu gehört, sexualisierte Gewalt als Duldsamkeitserfahrung hinzunehmen und Unrecht nicht herauszuschreien. Laut katholischer Lehre sind Frauen keine selbstbestimmten Wesen, sie haben eine Bestimmung, entweder zum Leben als Ordensfrau oder als Mutter. Gerade dogmatisch stramme Gemeinschaften verlangen den Gehorsam der willenlosen Magd. Kommt es dort zum Geschlechtsverkehr zwischen einem Priester und einer „Dienerin“, wird der Kleriker Einvernehmlichkeit behaupten. Wenn es passt, existiert der freie Wille der Frau dann doch.

Das Buch „Erzählen als Widerstand“, herausgegeben vom Katholischen Deutschen Frauenbund (KDFB), ist das kirchliche Pendant zum säkularen #Aufschrei. Er hatte Folgen: Seit Dezember 2020 gibt es eine offizielle „Anlaufstelle für Frauen, die im kirchlichen Raum Gewalt erfahren haben“. Finanziert wird sie von den Bistümern. Im ersten Jahr wurde die Seite www.gegengewalt-anfrauen-inkirche.de 26.000 mal angeklickt, mehr als 100 Betroffene suchten die Hilfe des Beratungsteams, erklärt Aurica Jax von der „Arbeitsstelle Frauenseelsorge“ der Bischofskonferenz. Die meisten berichteten von spiritueller und psychischer Gewalt, ein Viertel von sexuellen Übergriffen. Klöster sind offenbar ein besonders unsicherer Ort für Frauen, Orden wurden laut Jax am häufigsten als Tatort genannt. Beschuldigt werden nicht immer Männer, auch Täterinnen werden genannt. Nonnen sind zu Keuschheit, Armut und Gehorsam verpflichtet. Werden sie Opfer sexualisierter Gewalt, geht Scham mit Existenzangst einher. Den Orden zu verlassen, ist wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit riskant.

Weitere oft genannte Tatorte sind Exerzitienhäuser, das Pfarrbüro und andere Arbeitsräume. Gelegenheiten bieten sich Tätern oft: Da ist der Priester, der für die Abnahme der Beichte ins Kloster kommt, und nach außen als gern gesehener Gast firmiert. Da ist der nahbare Exerzitienmeister, der volle Kurse garantiert. Da ist der Pfarrer, der wie selbstverständlich seine Sekretärin im Vorbeigehen berührt.

„Für mich hängt das eng mit der Ämterfrage zusammen“, sagt Aurica Jax und meint das institutionell gewollte Machtgefälle zwischen dem geweihten Mann und einer Frau. „Bis sich diese systemischen Faktoren und das katholische Frauenbild ändern, ist es noch ein weiter Weg.“

Die Bischofskonferenz einigte sich im November 2019 auf eine neue Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch. Darin werden Erwachsene als Missbrauchsopfer genannt, allerdings ausschließlich „schutz- oder hilfebedürftige“. Sexuelle Übergriffe gegenüber anderen Volljährigen bleiben unerwähnt, als sei das Problem nicht der Rede wert. Kürzlich forderte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, alle sexuellen Kontakte in der Seelsorge zu ahnden, ähnlich wie in Beratungs- und Therapiesituationen. Wie ein Verbot in einem Kirchenrecht verankert werden soll, das die Kirche schützt und nicht die Selbstbestimmung der Person, bleibt ein bischöfliches Geheimnis.

„Die hätte doch nein sagen können!“, „Die hat dem Pastor schöne Augen gemacht“, „Die wollte es doch auch“ – derartige Sprüche bekommen gerade weiblichen Betroffene zu hören. Das Klischee des „Altar-Luders“ findet noch immer Gläubige.

Die Regensburger Theologieprofessorin Ute Leimgruber, eine der Herausgeberinnen von „Erzählen als Widerstand“, sagt: „Wir haben viele Betroffenenberichte, wonach der weibliche Körper sofort mit Sünde assoziiert wird. Ein Beispiel dafür, wie verbreitet diese Assoziation ist, sieht man in der Berichterstattung über Missbrauch an erwachsenen Frauen. Da wird oft ein Foto verwendet, das einen Priester im Vordergrund zeigt, meist einen attraktiven, jungen. Im Hintergrund sieht man eine Frau, als würde sie auf ihn lauern. Das ist eine bildhafte Täter-Opfer-Umkehr.“

Der Widerstand, von dem der Buchtitel spricht, besteht darin, den Tätererzählungen hörbar etwas entgegenzusetzen. Betroffene Frauen sind nicht nur Leidende, Geschwächte, Geschädigte, sie sind auch Kämpferinnen gegen ein weithin akzeptiertes Unrecht. Ellen Adler – auch dieser Name ist ein Pseudonym – leistet in diesem Sinne Widerstand. Kurz nach dem Fall der Mauer wollte sich die junge Frau aus dem Osten einem Frauenorden in Österreich anschließen. 22 Jahre alt war sie damals, mit 20 hatte sie gegenüber einem Priester ein Keuschheitsgelübde abgelegt.

Als DDR-Bürgerin musste sie einige Formalitäten klären, bevor sie in ein Kloster im Ausland ziehen konnte. Für diese Übergangszeit kam sie bei einem Männerorden in Süddeutschland unter. Einer der Novizen, also ein angehender Mönch, habe ihr regelrecht aufgelauert, erzählt sie. Zunächst habe sie sich entziehen können, dann habe er sie missbraucht. Ein zweiter Ordensmann habe die immer weiter gehenden Grenzüberschreitungen als Übung zur menschlichen Nähe gerechtfertigt. Aus dem Novizen wurde ein Pater, also ein geweihter Ordensmann, und ein gefragter Exerzitienanbieter. Ellen Adler wurde nach einem Anruf des Novizen bei der Oberin nicht in den Frauenorden aufgenommen. Sie versuchte viele Jahre lang, bei zuständigen Stellen Gehör zu finden. Sie wollte, dass die Patres Verantwortung übernehmen, doch niemand sei dem Fall nachgegangen.

2020 schrieb sie ihre Geschichte auf für „Erzählen als Widerstand“. „Das Schreiben war für mich wichtig, um Worte für das zu finden, was geschehen war“, erzählt sie. Im Februar 2020 sprach sie mit dem Bischof von Dresden-Meißen über die geplante Veröffentlichung. Der beauftragte eine kirchenrechtliche Voruntersuchung und verbot danach den Patres einstweilen, auf dem Gebiet seiner Diözese im Seelsorgedienst tätig zu sein. Laut Dekret galt die damals 22-Jährige wegen ihrer besonderen Situation als schutz- und hilfsbedürftige Person, allerdings war der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt noch kein Kleriker. Deshalb ist der Fall kirchenrechtlich kompliziert. Der Orden wies die Vorwürfe des Missbrauchs zurück. Wie Anfang März bekannt wurde, hob eine vatikanische Kongregation die Beschränkungen für die Patres auf.

„Wir wissen nicht, ob wir den Frauen raten sollen, ein kirchenrechtliches Verfahren anzustreben,“, sagt Aurica Jax nach gut einem Jahr Erfahrung mit der Anlaufstelle. „Das Risiko der Retraumatisierung ist groß“. Betroffene haben im Kirchenrecht weder einen Nebenklägerinnenstatus noch Akteneinsicht.

Karin Weißenfels hat vor mehr als 20 Jahren die Auseinandersetzung mit dem Bistum Trier riskiert. Die beiden Priester – der potenzielle Vater des Kindes und der Beichtpriester – wurden vom Bistum ein bisschen bestraft, kurzzeitig durften sie ihres Priesteramtes nicht walten. Der Vatikan hob per Dispens das Sträfchen auf – und das, obwohl es um Beihilfe zur Abtreibung ging. Der Priester, der fast täglich Sex wollte, galt als angesehener Diener Gottes in seiner Pfarrei. Der Beichtpriester machte Karriere auf Bistumsebene.

Mit dem Fall Weißenfels waren vor allem zwei Trierer Bischöfe befasst: Reinhard Marx und Stefan Ackermann. Marx ermunterte die Frau, „nach vorn zu schauen“ und zu vergeben. Den beiden Priestern gab er das Gesuch um römischen Dispens an die Hand. Ackermann betont, er sei an die Grenzen des Möglichen gegangen. Das Bistum habe „keine Kosten und Mühen gescheut“. Die Kleriker wurden nur sanft belangt, harte psychische und berufliche Folgen trägt allein Karin Weißenfels. Sie ist traumatisiert – und gut organisiert. Ihr Leben hat sie in Aktenordnern aufgereiht. Die Dokumente kombiniert sie zu immer neuen Dossiers, für kirchenrechtliche, arbeitsrechtliche, presserechtliche Verfahren. Sie kämpft weiter.

Ellen Adler denkt über die Frage, was für sie Gerechtigkeit bedeutet, lange nach. Während des ganzen langen Verfahrens habe ihr niemand diese Frage gestellt, erklärt sie. Es sei eher darum gegangen, was der Bischof tun muss, damit er abgesichert sei. Sie wünsche sich, dass der Beschuldigte nicht mehr in der Seelsorge oder als Exerzitienleiter eingesetzt werde, sagt sie schließlich. „Aber das ist keine Frage der Gerechtigkeit, das sollte zur Prävention weiterer Fälle eigentlich selbstverständlich sein“.

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