Ruth Klüger ist tot. Schwer vorstellbar

Ruth Klüger ist tot. - Paul Zsolnay Verlag/Margit Marnul
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Der Winter von 1944/45 war der kälteste Winter meines Lebens und blieb sicher unvergesslich für alle, die ihn damals in Europa erlebten. Ich bin jetzt 84 Jahre alt und hatte zwar noch nicht viele Winter hinter mir, ich war gerade erst 13 Jahre alt geworden, aber auch die vielen anderen, die noch folgen sollten, waren für mich nie wieder so kalt wie dieser letzte Kriegswinter. Kälte, der man hilflos ausgesetzt ist, bleibt für mich auf immer verbunden mit Zwangsarbeit im Frauenlager Christianstadt, ein Außenlager des KZs Großrosen in Niederschlesien, wie es damals hieß.

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Heute liegt der Ort in Polen. Bei Zwangsarbeitern denkt man an erwachsene Männer, nicht an unterernährte kleine Mädchen. Aber ich war keineswegs bemitleidenswert, im Gegenteil, ich hatte großes Glück gehabt und war stolz darauf. Denn es war mir gelungen, mich im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944 – das war eine Saison, in der die Gaskammern und Kamine im Lager auf Hochbetrieb liefen –, in eine Selektion einzuschmuggeln, die arbeitsfähige Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren zum Kriegsdienst auswählte. Da hatte ich mich in eine Warteschlange gestellt, und auf die Frage des amtierenden SS-Manns mein Alter, damals noch zwölf Jahre, als fünfzehn angegeben. Der Rest des Transports von Theresienstadt, mit dem ich gekommen war, wurde in den nächsten Tagen vergast. Wir Ausgewählten wurden in Waggons verfrachtet und ins Arbeitslager verschickt.

Die ersten Tage in Christianstadt waren für mich der Inbegriff von Erleichterung, um nicht zu sagen Glück. Es war warm, es gab Gras und Bäume im Wald, die Luft war klar, eine Wohltat nach dem kadaverartigen Dunst, der in Auschwitz, von den Kaminen ausgehend, über dem Lager hing. Vor allem war die erdrückende Todesangst vorbei.

Die positiven Gefühle dauerten nicht lange. Es wurde nass, dann sehr kalt. Wir wurden morgens durch eine Sirene oder Pfeife geweckt und standen im Dunkel Appell. Stehen, einfach stehen, ist mir noch heute so widerlich, dass ich manchmal aus einer Schlange ausscheide und weggehe, wenn ich schon fast dran bin, einfach weil ich keinen Augenblick länger in einer Reihe bleiben möchte. Wir bekamen eine schwarze, kaffeeartige Brühe zu trinken, eine Portion Brot zum Mitnehmen und marschierten in Dreierreihen zur Arbeit.

Neben uns lief eine Aufseherin, die uns mit ihrer Pfeife im Gleichschritt halten wollte. Alles Pfeifen nützte nichts, den Gleichschritt haben wir trotz des Ärgers der Aufseherinnen nicht gelernt. Es freute mich in meinem kindlichen vorfeministischen Widerstandstrotz, dass man jüdische Hausfrauen nicht veranlassen konnte, im Schritt zu gehen. Wir waren nicht aufs Marschieren gedrillt worden. Männer konnte man leichter dazu trainieren.

Die Arbeit war Männerarbeit, wir haben den Wald gerodet, die Stümpfe schon gefällter Bäume ausgegraben und weggebracht; auch Holz gehackt und Schienen getragen. Da sollte wohl etwas gebaut werden, was es war, wurde uns natürlich nicht gesagt und hat mich auch nicht interessiert. Es liegt im Wesen der Zwangsarbeit, dass die Arbeiter den Sinn ihrer Arbeit entweder nicht kennen oder ihn verabscheuen. Ich habe damals so viel Sabotage wie möglich getrieben, indem ich mir auswendig gelernte Gedichte aufsagte, aus Schwäche, aus Langweile, aber auch aus Überzeugung. Was immer in Christianstadt entstehen sollte, es kam nicht rechtzeitig zustande.

Manchmal hat man einige von uns an die Zivilbevölkerung ausgeliehen, dann saßen wir auf Dachböden und haben zum Beispiel Zwiebeln zum Aufhängen auf Schnüre gereiht. Das war besser als im Freien arbeiten, nicht so anstrengend und vor allem weniger kalt. Die Dorfbewohner haben uns angestarrt, als seien wir Wilde. Wenn ihnen damals ein Licht aufging, was es mit den zerlumpten Häftlingen im benachbarten Arbeitslager auf sich hatte, so haben sie’s nach Kriegsende verdrängt, denn da wollte niemand gewusst haben, was in den Lagern vor sich ging.

Manchmal mussten ich und meine Freundin Susi, eine Sechzehnjährige, in den Steinbruch, den ältesten Arbeitsplatz in Groß-Rosen, um dessentwillen dieses KZ dort überhaupt errichtet worden war. Im Steinbruch war es zum Verrecken kalt. Wir klammerten uns aneinander, aber das nützte nicht viel. Man konnte sich so gar nicht gegen die Kälte schützen, unsere Kleidung war viel zu dünn, an den Füßen hatten wir Zeitungspapier, das half, aber nicht genug. Und wir hatten vereiterte Wunden an den Beinen, denn es heilte alles so schlecht. Wir sehnten uns nach der nächsten Pause, Mittagspause, dann Feierabend. Zweifel der an Verzweiflung grenzt: Wie lange halte ich das noch aus? Hoffnung: Morgen zum Lagerdienst im Lager bleiben zu dürfen, um dort sauber zu machen. Aber das war ein seltenes Privileg.

Etwa zwölf Jahre später schaue ich Susi, die meine lebenslange Wahlschwester wurde, in Kalifornien zu, wie sie mit ihren zwei kleinen Kindern im warmen Sand spielt. Die beschwichtigende, überlegene Stimme, ‚Mach dies oder jenes‘. Plötzlich sehe ich uns wie damals, wir hocken beieinander im Steinbruch in der Kälte. Susi legt einen Arm um mich. Ich wende mich weg, denn der Sand erstarrt zu schlesischem Granit, und das Kinderspiel ist düster geworden. Vom Steinbruch träum ich noch manchmal.

Die Mehrzahl der Frauen, darunter auch meine Mutter, arbeiteten in einer Munitionsfabrik, zusammen mit verschleppten Franzosen; Männern, die besser ernährt wurden als wir, weil sie für diese Arbeit besser ausgebildet und daher wertvoller waren. Dafür konnten sie auch besser Sabotage treiben. Wenn sie grinsend zu den Frauen geschlendert kamen mit den Worten: „Plus de travail, les filles“, so konnte man sich darauf verlassen, dass sie eine Maschine stillgelegt hatten, indem sie die richtigen Schrauben lockerten oder sonstwas Unauffälliges anstellten, das die Deutschen erst finden und richten mussten.

Genau gesehen ist Zwangsarbeit insofern schlimmer als Sklavenarbeit, weil der leibeigene Sklave einen Geldwert für seinen Besitzer hat, den dieser verliert, wenn er den Sklaven verhungern oder erfrieren lässt. Die Zwangsarbeiter der Nazis waren wertlos, die Ausbeuter konnten sich immer noch neue beschaffen. Sie hatten ja so viel „Menschenmaterial“, wie sie es nannten, dass sie es wortwörtlich verbrennen konnten.

Und erst die Frauen! Die konnten ja nicht einmal so gut arbeiten wie die Männer. Manche Männer, wie die eben erwähnten Franzosen, waren ausgebildet in Berufen die für den Kriegseinsatz brauchbar waren. Doch die Frauen? Man konnte sie ruhig bis zum Verhungern ausnützen. Fast keine im Lager menstruierte, dazu braucht’s ein gesünderes Leben. Es war die Generation, die nur selten Berufe außerhalb des Haushalts ausübte. Sie waren Menschen der Mittelklasse, die Generation meiner Mutter, um die Jahrhundertwende geboren, die erzogen wurden und damit gerechnet hatten, dass die Männer in der Familie sie zeit ihres Lebens ernähren und beschützen würden. Sie hatten fast nichts zu bieten als ihre beschränkte Geschicklichkeit und die verminderte Körperkraft der Hungernden.

Ich sage „fast“, denn etwas können Frauen doch ausüben, was man als einen weiblichen Beruf bezeichnet hat, nämlich die Prostitution. In manchen Konzentrationslagern für Männer, darunter Mauthausen, das einzige KZ in meinem Geburtsland Österreich, gab es so genannte „Sonderbaracken“, wo Frauen, hauptsächlich im Frauenlager Ravensbrück rekrutiert, gewissen KZ Insassen zur Verfügung standen. Dort, in der Sprache von Heinrich Himmlers unnachahmlich arroganter Menschenverachtung „sollen den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden“.

Der Kulturwissenschaftler Robert Sommer nennt diese Situation ganz korrekt „sexuelle Zwangsarbeit“, wobei der Nachdruck auf den Zwang fallen muss. Nach dem Krieg gab’s sofort, und gibt’s vielleicht heute noch immer, zahlreiche pornografische Bücher und Bändchen, die, oft bilderreich, vorgaben, die Prostitution im KZ darzustellen. Sie waren natürlich erfunden. Die Wirklichkeit war Lagerwirklichkeit und nicht erotisch aufreizend.

Die Frauen waren in ständiger Gefahr geschlechtskrank oder schwanger zu werden, durch einen serienmäßigen Geschlechtsverkehr, der je höchstens 20 Minuten dauern durfte, während draußen vor der Baracke schon eine Schlange wartender Männer stand. Das ist nicht eine „Arbeit“, die man sich freiwillig aussucht, wie den missbrauchten Frauen nach dem Krieg manchmal zynisch vorgeworfen wurde.

Die Frauen, die gezwungen worden waren, sich zu prostituieren, wurden später auch nicht als Zwangsarbeiter eingestuft. Die Überlebenden hatten keinen Anspruch auf Restitution – die so genannte Wiedergutmachung – oder erhoben keinen solchen Anspruch. Noch weniger ihre Familien, die sich ihrer schämten. Der Respekt, den man den Überlebenden der Lager entgegenbrachte, wenn nicht immer, so doch oft, galt nicht für sie. Erst in letzter Zeit ist ihr Schicksal genauer erforscht worden.

Eine solche Diskriminierung und Vertuschung geht natürlich auf uralte Vorurteile zurück, laut denen der Geschlechtsverkehr die Frau entehrt, den Mann aber stärkt. Und doch haben gerade diese gefangenen Frauen weniger für den Nazikrieg geleistet als alle anderen Zwangsarbeiter. Sie haben nur sich selbst geschadet, körperlich und seelisch. Wenn wir heute der Zwangsarbeiterinnen von damals gedenken, so müssen wir diese Frauen miteinschließen. (Übrigens waren weder diese „fleißig arbeitenden Privilegierten“ noch „die Weiber“ jüdischer Herkunft. Das wäre ja Rassenschande gewesen.)

Zurück zu meiner eigenen Geschichte. Beim Roden und Schienenlegen hatten wir öfters Kontakt mit deutschen Zivilisten, die auch unsere Vorarbeiter waren. Einmal saß ich in einer Pause auf einem Baumstamm neben einem dicken, vierschrötigen Mann, der mich angesprochen haben muss, denn aus eigenem Antrieb hätte ich mich nicht neben ihn gesetzt. Er war neugierig, es war klar, dass ich nicht in die Vorstellungen passte, die man sich von Zwangsarbeitern machte. Ein dunkelhaariges, verhungertes Sträflingskind, das aber einwandfreies Deutsch sprach, noch dazu ein Mädchen, ungeeignet für diese Arbeit, eine die in die Schule gehörte.

Wie alt ich denn sei, fragte er. Ich überlegte, ob hier die Wahrheit am Platz sei. Vorsicht war geboten, denn die drei Jahre Altersunterschied, die ich mir angedichtet hatte, waren erst kürzlich meine Überlebensstrategie gewesen.

Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete, doch ich weiß, dass ich nur eine Absicht hatte: Ich hätte ihn gern dazu gebracht, mir sein Schmalzbrot zu schenken. Das war nicht nur eine Frage des Hungers, sondern, abgeleitet vom Hunger, wäre es auch eine Leistung gewesen, wenn ich eine solche Köstlichkeit, die es im Lager selbstverständlich nicht gab, mit meiner Mutter und mit Susi hätte teilen können. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich entschied, nur dass er mir das Schmalzbrot nicht gegeben hat. Er schnitt mir zwar einen Bissen davon ab, aber den konnte ich ja nur dankbar und sofort aufessen.

Ich beantwortete also seine Fragen mit äußerster Zurückhaltung, denn nichts lag mir ferner als mich mit einem fremden Deutschen aufs Glatteis zu begeben. Er hingegen erzählte mir, auch die deutschen Kinder gingen jetzt nicht mehr zur Schule, die würden jetzt alle eingezogen. Er fraß mit Genuss, während er mir vom hungernden Deutschland berichtete. In seiner Erinnerung, stelle ich mir vor, war ich auch später, als der Krieg vorbei war, eine kleine Jüdin, der es gar nicht so schlecht ging, denn sie hat keine Schauermärchen erzählt, obwohl er ihr in seiner aufmunternden Art Gelegenheit dazu gab, ja sie geradezu aufforderte, über ihr Leben zu plaudern. Und Angst hatte sie auch keine, sonst hätte sie nicht so frisch von der Leber weg geredet. Und vielleicht benutzt er unsere Begegnung als einen Beweis, dass es den Juden im Krieg nicht schlechter ging als anderen Leuten auch.

Das nächste Mal, als ich versuchte, etwas Essbares zu ergattern, war ich noch erfolgloser. Das war kurz vor Auflösung des Lagers, als wir schon die Geschütze der Sowjetarmee hörten und die Arbeit eingestellt worden war. Es gab jetzt so wenig zu essen, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als an Nahrung. Wenn ich meine Tagesration bekam, schlug ich die Zähne ins Brot, als müsste ich mir das ganze Stück auf einmal in den Mund stopfen. Ganz selten sah ich mich wie von außen und schämte mich.

Eines Abends hörte ich von Susi, dass an der Hintertür der Küchenbaracke irgendwelche Abfälle verschenkt würden, die die Köchinnen ausdrücklich den Kindern geben wollten. Ich lief hin, es kamen noch ein paar andere Frauen, ich wurde ungeduldig, stieg die paar Stufen zum Barackeneingang hinauf, die anderen hinter mir, und laufe den beleuchteten Gang entlang, der zur Hintertür der Küche führte.

Da öffnete sich eine Seitentür, ein langer SS-Mann kam heraus, der ruft mich, ich steh’ vor ihm, Essgeschirr in der Hand, er fragt, was ich will, ich sag’s ihm, es soll hier noch Reste zum Verteilen geben, er sagt sowas wie: „Jetzt geben Sie man acht!“ (mit unvergesslich preußischer Aussprache, für mein österreichisches Ohr), ich denke noch immer, er lässt mich passieren, denn er wird doch nicht wollen, dass man etwaige Reste wegwirft, doch nicht bei dieser Hungersnot, und da schlägt er mir schon mit voller Wucht ins Gesicht.

Ich taumle nach hinten, den ganzen Gang entlang, schlage mit dem Kopf auf, die Holzpantinen fallen mir von den Füßen, das Essgeschirr aus den Händen. Susi hilft mir auf, wir gehen zurück zu unserer Baracke, auf dem Weg schimpfe ich wie ein Rohrspatz: „Es wird ihn schon noch erwischen, den Kerl, der mich geschlagen hat, früher oder später erwischt’s ihn.“

Jahrzehnte später in Göttingen höre ich einem Mann im Rentneralter zu, wie er in Schmidts Drogerie-Markt sich gegenüber einer Verkäuferin den Mund über die schmarotzenden Ausländer aus Polen zerreißt. „Die Ausländer, die sollt’ man vergasen und die Politiker gleich dazu,“ meinte er. Ich schau hin zu ihm, schätze sein Alter, ja der ist alt genug, der könnt’s gewesen sein. „Solche Sprüche,“ sag ich beklommen zu ihm, wir sehen uns in die Augen, Freunderl, wir kennen uns. Da sagt er mit festem höhnischem Blick: „Ja, ja, Sie haben schon richtig gehört.“

Das Lager Christianstadt wurde Anfang 1945 aufgelöst und die Häftlinge in ein weiteres, nämlich nach Bergen-Belsen überführt. In den ersten paar Tagen ging der Transport zu Fuß, dann wurde er in einen Zug verladen, wie ich nach dem Krieg erfuhr. Aber da waren wir nicht mehr dabei. Meine Mutter, Susi und ich sind am zweiten Abend geflohen – und haben überlebt. Aber das ist schon eine andere Geschichte.

Wenn die deutsche Zivilbevölkerung später beteuerte, sie hätte nichts über den Massenmord gewusst, so kann man sich darüber streiten, ob das stimmt, doch die massenhafte Ausbeutung durch Zwangsarbeit war sehr wohl bekannt. Viele Jahre später, als ich oft in Deutschland war und auch wieder viele Freunde hier hatte (und noch habe), stieß ich gelegentlich auf Menschen, deren Familien Zwangsarbeiter während der Nazizeit im Hause hatten. Meine Freunde erinnerten sich an diese verschleppten Menschen mit Behagen, oft auch mit Zuneigung. Die hatten es gut bei uns. Die haben mit uns Kindern gespielt und gelacht und gesungen.

Die wohlmeinenden Erzähler wussten nicht, oder wollten nichts wissen, von der wachen Zurückhaltung, dem Misstrauen, der Verachtung oder dem Neid, der Über- oder Unterschätzung des Feindes, die in diesen unbezahlten Haushaltshilfen gesteckt haben muss. Und wenn es einigen von denen doch manchmal im Feindesland gemütlich wurde und sie mit den Feinden sympathisierten, so hatte der Feind sie ja untergekriegt und sie hatten ein Stück ihrer Identität aufgegeben.

Wenn die damaligen deutschen Kinder, inzwischen Erwachsene, die für mich diese Erinnerungen auskramten, diesen Konflikt nicht wahrhaben wollten, so kommt das daher, dass keiner sich so ohne weiteres als Feind sieht. Der Feind ist immer der andere, wie könnte man selber ein Feind sein, besonders wenn man lieb zu Fremden und der Augapfel der Eltern ist. Man vermied das Wort Zwangsarbeiter, wenn man von ihnen sprach und man zuckte zusammen, wenn ich mich nicht scheute, das Wort Sklavenarbeit in den Mund zu nehmen.

Meine Herren und Damen, ich habe jetzt eine ganze Weile über moderne Versklavung als Zwangsarbeit in Nazi-Europa gesprochen und Beispiele aus dem Verdrängungsprozess zitiert, wie er im Nachkriegsdeutschland stattfand. Aber eine neue Generation, nein, zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Großherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen.

Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu

Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit großer Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in Ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutendem und dabei heroischem Wahlwort: Wir schaffen das.

RUTH KLÜGER

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