Anne Weber: Heldinnen-Epos

Schriftstellerin Anne Weber schuf einen Heldinnenepos. - Foto: Thorsten Greve
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Vor nicht allzu langer Zeit ist Anne Weber aus der Pariser Innenstadt ins Umland gezogen. Und in diesem Jahr lebt sie ohnehin vermehrt wieder in Deutschland, nahe ihrer Heimatstadt Offenbach, als Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim. Es wird ihr recht sein angesichts der Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens in Paris durch die Pandemie. Aber ihr wird auch das Herz bluten, denn die französische Heimat bedeutete für sie die große Befreiung.

Mit neunzehn ist die 1964 geborene Anne Weber nach Paris gezogen, und seitdem gehört sie als Schriftstellerin beiden Sprachen an. Als sie jedoch am 12. Oktober als Gewinnerin des Deutschen Buchpreises ausgerufen wurde, wirkte sie kurz sprachlos. Doch nicht lange. Dabei hatte sie, wie sie sagte, aus Aberglauben keine große Dankesrede für diesen Fall vorbereitet, sondern nur eine kleine „Trostrede“ für sich selbst.

Die brauchte sie nicht. Doch auch ihre spontanen Dankesworte liefen auf ein Trostmotiv heraus: dass es solch großartige Menschen gibt wie Anne Beaumanoir, die heute siebenundneunzigjährige Résistance-Kämpferin, die das Vorbild ist für die Titelheldin aus „Annette, ein Heldinnenepos“, dem Roman, für den Anne Weber den Buchpreis erhalten hat.

Es ist im strengen Sinne gar kein Roman, sondern ein Vers-Epos, verfasst in gebundener Rede, weil nur diese hochliterarisierte Form der Autorin weit genug von ihrer üblichen Schreibweise entfernt schien, um einem wahren Leben gerecht zu werden, das sich romanhafter liest als jeder Roman: Beaumanoir leistete nicht nur den deutschen Besatzern Widerstand, sondern rettete auch jüdische Kinder vor der Deportation und engagierte sich in der Nachkriegszeit für den algerischen Unabhängigkeitskampf – also gegen ihr französisches Heimatland. Sie schlug sich konsequent auf die Seite der Gerechtigkeit, und das erst macht das wahre Heldentum auch der Annette des Buchs aus.

Dass es eine Heldin hat, die sich vor der deutschfranzösischen Geschichte zu bewähren hat, passt zu Anne Weber. Ihre Bücher gehören beiden Kulturen an: Das französische Debüt „Ida invente la poudre“ erschien 1998 vor der deutschen Fassung „Ida erfindet das Schießpulver“, ihr Roman „Cendres & métaux“ heißt auf Deutsch „Gold im Mund“, „Tous mes voeux“ ist „Luft und Liebe“. Die Autorin wies dieses Buch, 2010 erschienen, als ihren ersten Roman aus – mit der populärsten belletristischen Form wollte sie nicht über Gebühr zu tun haben, und das hätte sie auch den Deutschen Buchpreis kosten können, wenn die Jury nicht erkannt hätte, dass es bei dieser Auszeichnung doch nicht um eine Gattungsbezeichnung, sondern ums gelungene Erzählen gehen sollte.

Das Bemerkenswerte an Anne Webers Büchern bis zu „Luft und Liebe“ liegt darin, dass sie jeweils in einer ihrer beiden Sprachen geschrieben und dann von der Autorin selbst auch in die jeweils andere übersetzt wurden. Und Anne Weber hat sich genauso wechselseitig auch in den Dienst anderer Autoren gestellt: Pierre Michon und Marguerite Duras brachte sie ins Deutsche, Wilhelm Genazino und Birgit Vanderbeke ins Französische. Und den Umschlag zum Roman „Ahnen“ von 2015 schmückt ein Bild von Anselm Kiefer, einem anderen Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich.

Mit der Liebe zur Literatur unseres Nachbarlandes hat sich Anne Weber erst ihren eigenen Stil erschlossen, der seine essayistische Präzision Montaigne verdankt und den aufgeklärten Witz La Fontaine. Dagegen hat die Autorin aus Deutschland die Freude am Mythos mitgenommen, an Textspielereien, wie sie von der Romantik gepflegt wurden. Mit dem ästhetischen Versöhnungswerk zweier Idiome und deren Traditionen begründet Anne Weber eine grenzüberschreitende Union, die man statt europäisch besser poetisch nennen sollte. Mit „Annette, ein Heldinnenepos“ hat dieses Bemühen nun seinen bisherigen Höhepunkt gefunden – inhaltlich und durch den Buchpreis auch öffentlich.

 

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