Italien: Donne in Rivolta
Mitte Januar 2020: Inmitten der Vorbereitungen für das wichtigste Musikfestival Italiens, das „Festival di Sanremo“, begründet der Hauptmoderator Amadeus die Wahl einer seiner Co-Moderatorinnen mit folgenden Worten: „Sie ist in der Lage, einen Schritt hinter einem großen Mann zu bleiben.“ Neben den Fußballspielen erreicht das Festival die höchsten Einschaltquoten, 11,4 Millionen beim Finale.
Das Fernsehen ist nach wie vor die Informationsquelle Nummer 1 der ItalienerInnen. Und das Frauenbild der öffentlich-rechtlichen wie privaten Kanäle ist bezeichnend. Lasziv tanzen junge Frauen, sogenannte „Veline“ durchs Hauptabendprogramm – seit mittlerweile 65 Jahren! Sie tragen freizügige Kostüme und starkes Make-up, fast alle haben eine Schönheits-OP machen lassen.
Seit über dreißig Jahren strahlt ein TV-Sender des ehemaligen Ministerpräsidenten und Medienmoguls Silvio Berlusconi die Nachrichten-Satire-Show „Striscia la notizia“ aus, die an sechs Abenden die Woche im Schnitt je 4,5 Millionen Menschen erreicht. Die dazu gehörenden „Veline“ sind das Symbol weiblicher TV-Figuren ohne inhaltliche Funktion. Mit Velina war ursprünglich ein Stichwort-Blatt gemeint, das die Assistentinnen den Moderatoren während der Sendung reichten. Doch auch im Jahr 2021 sprechen diese Frauen nicht. Selbst dann nicht, wenn sie etwas gefragt werden, was kaum passiert. Stets treten die Veline im Doppelpack auf, eine Blonde und eine Brünette. Bis heute orientieren sich viele Italienerinnen daran. So wie Francesca Fiaschetti aus Rom. Vor Jahren träumte sie von einer Karriere im Fernsehen, nahm magersüchtig am Schönheitswettbewerb „Miss Italia“ teil, einem Sprungbrett ins TV-Showgeschäft. Heute versucht sie sich als Influencerin, hat wieder zugezugenommen und führt doch ein Leben wie vor einem Ganzkörperspiegel. Sie ist eine sensible Frau, die Sätze sagt wie: „Mein Hauptanliegen war immer ein schöner Körper.“ Für eine Fernsehkarriere hält sie sich mit 22 Jahren inzwischen für „zu alt“. Für Männer gibt es nach oben hin keine Altersgrenze im TV.
„In unserem Staat darf die Frau keine Rolle spielen“, erklärte Staatschef Benito Mussolini 1928. Fast hundert Jahre später twittert der ehemalige Innenminister Matteo Salvini: „Ich schäme mich übrigens für diesen Sänger, der Frauen mit Huren vergleicht, die vergewaltigt, gekidnappt und wie Objekte behandelt werden. Das machst du bei dir zu Hause, nicht im Öffentlich-Rechtlichen und auch noch im Namen der italienischen Musik.“ Da verwundert es nicht, dass die Metoo-Debatte nicht richtig aufgekommen ist in Italien.
In dem Frauenkloster in der mittelitalienischen Region Marken bekommen die Bewohnerinnen von alldem nicht viel mit. Seit 300 Jahren verschreiben sie sich dem Ziel, ein lebendiges Abbild der Jungfrau Maria zu sein. Das Streben nach Gleichheit der Geschlechter sehen die „Suore dell’Immacolata“, die Nonnen der Unbefleckten Empfängnis, kritisch. Niemals dürfe eine Frau ihre „Mütterlichkeit und Demut“ ablegen.
Die Mutter ist in ganz Italien eine Ikone. Ein himmlisches, auf Erden zu erreichendes, Ideal.
„In einer Familie ist die Frau die tragende Säule, sie kümmert sich um die Kinder und ist der Halt des Mannes“, sagt im Oktober 2019 auch die 1986 geborene Clelia Anna Manganaro, aus Caltanissetta, Sizilien. Sieben Jahre lang hat sie Psychologie studiert, aber eine Arbeit zu finden war schwer und den Mut, sich selbständig zu machen, hatte sie nicht, erzählt sie. Heute ist sie vollberuflich Hausfrau und Mutter. Clelia mag ihr Leben, auch wenn es Tage gäbe, an denen sie lieber arbeiten ginge. Wenn sich die junge Frau etwas kaufen möchte, muss sie ihren Mann fragen. Sie habe noch Glück gehabt. Giulio lasse es ihr an nichts fehlen.
Gleichzeitig gibt es bei all der Mütter- und Madonnenverehrung viele Tabus. Zum Beispiel die Geburt. Für manche, wie für die Ärztin Laura aus Kalabrien werden die psychischen und physischen Gewalterlebnisse im Kreissaal zum Trauma. Ihre Ehe zerbricht daran. Die Hebamme Silvia Puntillo sagt: „Was dahintersteckt, wie eine Frau geboren hat und wie es ihr nachher erging, darüber spricht man nicht.“
Ebenso wenig über die schlimmste Form von Gewalt. Im Land der Kavaliere und Charmeure wird im Durchschnitt alle drei Tage eine Frau ermordet. Auch wenn der Süden als besonders konservativ gilt, ist geschlechtsspezifische Gewalt in Italien ein gesamtstaatliches Problem, in Mailand wie in Palermo. In der letzten Januarwoche 2020 wurde an sieben Tagen sieben Frauen ermordet aufgefunden. Man hat sie vergewaltigt und zu Tode getreten. Erwürgt, erstochen und erschossen. Gemeinsam war allen eine Tatsache: Die Frauen kannten ihre Mörder. Rund 85 Prozent der Gewaltverbrechen finden in Italien zu Hause statt, hinter verschlossenen Türen, verübt von Ehemännern, Lebensgefährten, Ex-Partnern.
Am Ende jener gewaltvollen Woche bezeichnete Giovanni Salvi, der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts, die Frauenmorde als „nationalen Notstand“. Ministerpräsident Giuseppe Conte versprach, den „Codice Rosso“ – er regelt die Meldungen und Untersuchungen von Verbrechen im Zusammenhang mit häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt – wirksamer zu gestalten und schreibt auf Facebook: „Gewalt gegen Frauen ist auch ein kulturelles Problem, und deshalb werden wir in den Schulen ansetzen, zwischen Jungen und Mädchen, denn dort muss der Wandel beginnen.“ Doch geschah bisher – nichts. Im Gegenteil: Während der Pandemie ist die Gewalt an Frauen in Italien gestiegen, wie in vielen anderen Ländern auch.
Es existiert aber auch ein ganz anderes Italien. Eines, das die widersprüchlichen Verhältnisse seit Jahrzehnten anprangert. Für die Gesellschaft wird es meist nur sichtbar an Tagen wie dem 8. März, dem Weltfrauentag oder am 25. November, dem Tag gegen Gewalt an Frauen. Dann, wenn bei einer Demonstration Hunderttausende Menschen auf die Straße gehen, wie zuletzt im November 2019 in Rom. Dann, wenn „Non una di Meno“ („Nicht eine weniger“) dazu aufruft.
Die Bewegung wurde 2016 gegründet, verfügt mittlerweile über achtzig lokale Gruppen und ist digital wie analog überaus gut vernetzt. Europaweit ist sie im Moment eine der lautesten feministischen Initiativen. Ihr Leitspruch: „Vereint sind wir aufgebrochen, vereint werden wir zurückkehren. Nicht eine, nicht eine, nicht eine weniger.“
Anfang Februar 2020 reagierte „Nona una di Meno“ auf Moderator Amadeus mit einem Flashmob vor dem Gebäude, in dem das „Festival di Sanremo“ aufgezeichnet wird. Eine fünfminutige Aktion, für die einige von ihnen vier Stunden im Zug angereist waren.
Lange gab es in Italien, dessen Frauenbewegung, die „Donne in Revolta“, in ganz Europa bewundert wurden, keine so aktive feministische Bewegung mehr.
Studentinnen, Rentnerinnen, Arbeitslose, Angestellte, Krankenpflegerinnen, Unternehmerinnen, Ökofeministinnen, die machen mit! Ganz junge Frauen, manche davon minderjährig. Und solche, die seit über fünfzig Jahren für Frauenrechte kämpfen wie Graziella, 68, eine pensionierte Krankenpflegerin.
Vor über 40 Jahren gehörte Graziella zu den Feministinnen, die das Recht auf Scheidung und Abtreibung erkämpft haben. Damals hat sie mit Kolleginnen eine leere Abteilung einer Klinik in Rom besetzt, um dort die ersten legalen Abtreibungen durchzuführen. „Die Generation nach uns hat sich ausgeruht und viele unserer erkämpften Erfolge für naturgegeben gehalten“, klagt Graziella, „aber der Kampf muss weitergehen.“