DDR: Die Lila Offensive

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Am 6. November veröffentlichten fünf Wissenschaftlerinnen zusammen mit den Redakteurinnen der Frauenzeitschrift "Für Dich" einen "Offenen Brief", in dem sie - erstmals öffentlich - Quoten und "eigene Lebensräume" für Frauen forderten (siehe Text S. 23). Schon zwei Wochen später wurde - erstmals öffentlich - die "praktische Nichtgleichstellung der Frauen" in der offiziellen Regierungserklärung eingestanden.

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Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Akademikerinnen, sie scheinen die ersten zu sein, die in diesen Zeiten des radikalen Umbruchs in der DDR daran erinnern, dass die Frauen nicht wieder vergessen werden dürfen. Ein Frauennotruf ist geplant, Frauentheater, Frauenfeste, ja sogar Frauendemos sind im Gespräch. Großer Beifall, als am Abend des 23. November in der Gethsemane-Kirche das erste Frauenhaus/Zentrum angekündigt wird - die Räume sind schon "staatlich genehmigt" und sollen im Februar in Ost-Berlin bezogen werden.

Auf den nachfolgenden Seiten dokumentiert Emma den Aufbruch der Frauen in der DDR. Henriette Wrege beobachtet seit Monaten die Lage der Frauen jenseits der deutsch-deutschen Grenze aus der Nähe. Alice Schwarzer und Bettina Flitner (Fotos) waren eine Woche lang in der DDR und führten zahlreiche Gespräche. Nachfolgend Interviews mit "Für Dich", einer der aktiven "Lilos" und Bärbel Bohley. - In der nächsten Ausgabe berichtet Emma weiter. U.a. ein Gespräch von Alice Schwarzer mit der DDR-Schriftstellerin Irmtraud Morgner, die an ihre Schwestern appelliert: "Jetzt oder nie!"

So viel Bewegung, so viel tägliches Wachbleibenmüssen - es stresst uns alle maßlos." Diese erschöpften Worte drücken gleichzeitig auch Engagement aus. Frauen in der DDR heute. Sie sind so euphorisch, dass es uns abgebrühte Westschwestern fast mitreißt. Alle Terminkalender sind randvoll, ein Arbeitsgruppentermin jagt den nächsten, überall werden Papiere getippt und die Köpfe heißgeredet. Der Aufbruch ist erst ein paar Wochen alt, aber schon gibt es zahlreiche neue Frauengruppen, mehrere Frauenzentren sind in Vorbereitung, ja sogar eine "DDR-weite Frauenorganisation" ist geplant.

Fünf Wissenschaftlerinnen von der Humboldt-Universität und der Akademie der Wissenschaften hatten sich als erste zu Wort gemeldet und in der Frauenzeitschrift "Für Dich" ihre Forderungen gestellt. Eine dieser Forderungen, "die Quotierung", hat sogar schon Eingang in die Regierungserklärung von Hanns Mordrow gefunden.

Der neue Vorsitzende des DDR-Ministerrates wörtlich: "Ein großer kultureller Rückstand unserer Gesellschaft, trotz beachtlicher Errungenschaften der DDR gerade auf diesem Gebiet, besteht in der praktischen Nichtgleichstellung der Frauen, und zu den vielfältigen Notwendigkeiten, dies zu ändern, gehören auch Gedanken über Quotierungen für Zusammensetzung vielleicht auch künftig der Volkskammer und des Ministerrates."

In dem neuen DDR-Kabinett sitzen drei Frauen - für DDR-Verhältnisse bemerkenswert: Prof. Christa Luft (SED) ist "Stellvertretender Vorsitzenden des Ministerrates für Wirtschaft", Uta Nickel (SED) ist "Minister für Finanzen", und "der ehemalige stellvertretende Oberbürgermeister von Berlin", Hannelore Mensch (SED) ist "Minister für Arbeit und Löhne".

Noch am 17. November 1989 galt die Frauenfrage in der DDR als gelöst. Die Gleichberechtigung war staatlich verordnet worden. Die Frauen hatten dankbar und dezent ihre Dreifachbelastung zu erledigen: Beruf und Haushalt und Kinder. Seit der "Erneuerung" ist nun plötzlich vieles anders. Lange gehütete Geheimnisse werden jetzt öffentlich diskutiert, zum Beispiel die geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung. In der DDR gab es zwar den Grundsatz: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Aber überall, wo Frauen arbeiten, werden die geringeren Löhne gezahlt - egal ob in der Produktion oder im Gesundheitswesen. So verdienen Frauen im Durchschnitt 25  weniger als ihre roten Brüder.

In seiner Antrittsrede hatte Egon Krenz am 18. Oktober noch die alten Verhältnisse beschworen. Darauf eine "werktätige Mutter": "Über Egons Rede habe ich mich schwer geärgert. Da sind wir Frauen so etwas wie eine Berufsgruppe, rangieren zwischen Bauern, Intelligenz und Handwerkern - als wären wir nicht Bäuerinnen, Intelligenzlerinnen, Handwerkerinnen. Nach Egon und der Partei sind wir die .unentbehrliche Stütze'. Ohne uns ist die Gesellschaft angeblich nur die Hälfte wert. Sie braucht unseren ‚bewundernswerten Einsatz' für das ,Glück der Familien'. Ich verzichte auf Bewunderung."

Bewundert hatten auch viele Westfrauen die Schwestern in der DDR. 8 3/4 Stunden Maloche, danach Kinder aus dem Kindergarten abholen, Einkaufen unter schwierigsten Bedingungen und zuhause den Ehemann, der gerade noch in der Lage ist, eventuell den Mülleimer runterzubringen. Wenn die "werktätigen Mütter" dann älter werden und alles nicht mehr so richtig klappt, finden sie manchmal Hilfe in einer der psychologischen Ambulanzen. Überlastungssyndrom lautet die Diagnose. - Mit der selbstverständlichen Hinnähme dieser "dreifachen Schicht" wollen die DDR-Feministinnen jetzt - Schluss machen.

Eine einzige Frauengruppe in der DDR hat sich bisher mit dem Thema Vergewaltigung beschäftigt. Diese Gruppe ist dabei, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten. Danach sollen die Frauen als Nebenklägerinnen vor Gericht auftreten können und bei der Polizei und im Krankenhaus von Frauen betreut werden. Diese Frauengruppe hat in Weimar bislang unter dem Dach der Kirche gearbeitet, wie die anderen feministischen Initiativen der DDR auch.

Es gibt auch erst seit heute in vielen Städten der Republik Frauen, die sich ohne staatliche Aufsicht treffen. Seit Jahren machen diese Frauen Informations- und Diskussionsveranstaltungen zu Themen wie "Frau und Aids", "Liebe Deine Nächste", "Lesbische Frauen in der DDR", "Feministische Theologie", "Königin Alkohol". Es gab Lesungen und Geselligkeiten für Frauen: Fahrradtouren oder gemeinsame Kino/Museumsbesuche. Doch diese frühen Feministinnen stießen rasch an ihre Grenzen, waren zur Theorie verdammt: Sie konnten keine Beratungen machen, nicht öffentlich auftreten und ihre Termine nicht in allgemein zugänglichen Medien bekannt geben. Sie waren auf Aushänge in der Kirche angewiesen und auf Mund-zu-Mund-Propaganda.

Das ist jetzt anders. Plötzlich sind die einst heimlichen Emanzen zu gefragten Personen geworden. Ob Vereinigte Linke, Demokratischer Aufbruch oder Grüne (die das Wort "feministisch" im Untertitel tragen) - alle wollen die Frauen. Noch. Aber die wollen erst mal unter sich bleiben. Zusammenarbeit mit den gemischten Oppositionsgruppen: Ja. Aber keine Koalition.

Das Misstrauen der Frauen sitzt tief. Schon allein die Tatsache, dass die 200 Jahre alte Parole "Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit" so ungebrochen zitiert wird, lässt auf bedenkliche Bewusstseinslücken schließen. Auch der geringe Frauenanteil bei den gemischten politischen Oppositionsgruppen, zum Beispiel bei den DDR-Sozialdemokraten, ist kein gutes Zeichen.

Auf die Frage, warum so wenige Frauen mitmachen würden und wo denn zum Beispiel die eigene Ehefrau sei, kamen Antworten wie: Man hätte sich entschieden, dass sie bei den Kindern bliebe und er die politische Arbeit mache. Selbst ist die Frau, sagten sich in den vergangenen Wochen nicht nur die Ost-Berlinerinnen. Auch die Erfurterinnen schrieben bereits am 2. Oktober an den damals noch amtierenden Staatschef Erich Honecker einen Offenen Brief. Absender war die Bürgerinneninitiative "Frauen für Veränderung". Zu der Zeit waren diese Frauen noch ein erhebliches Risiko eingegangen, denn nur wenige arbeiteten gleichzeitig unter dem schützenden Dach der Kirche. Die anderen setzten ihren Arbeitsplatz aufs Spiel. Die mutigen Erfurterinnen schrieben damals an Honecker:

"Auch uns geht es um Veränderungen, die den Sozialismus lebendig werden lassen. (...) Von Partei und Regierung erwarten wir, dass sie sich endlich zu einer öffentlichen Diskussion mit allen Menschen im Land, die Veränderungen wollen, bereit finden und diese nicht entgegen unseren verfassungsmäßigen Rechten kriminalisieren. Diese Diskussion muss in den Medien ungehindert ausgetragen werden."

Vier Wochen später saß Kerstin Schön, eine der Initiatorinnen, mit auf dem Podium der Erfurter Thüringenhalle bei der ersten großen Ansprache. Am 30. Oktober luden die "Frauen für Veränderung" in die Andreasgemeinde zum l. Treffen der Bürgerinneninitiative. Ungefähr 90 Frauen kamen - für DDR-Verhältnisse eine ganze Menge, zumal ja nie öffentliche Informationen möglich waren.

Es gibt kaum ein Thema, das diese Frauen nicht diskutieren wollen: von der Entmilitarisierung aller Lebensbereiche, vor allen Dingen im Kindergarten- und Schulbereich, bis hin zu Veränderungen im Gesundheitswesen. Mehr noch: Sie fordern auch ein Frauenkommunikationszentrum, Frauenhäuser und ein Frauengesundheitszentrum. Denn: "Solange die Gewalt gegen Frauen noch existiert, müssen Frauenhäuser zur Krisenhilfe geschaffen werden."

Alle wollen an allen Papieren mitarbeiten, Delegieren kommt "überhaupt nicht in Frage". Im ersten Rausch wird die neue Demokratie manchmal sogar zur Handlungsunfähigkeit getrieben. Das Bedürfnis von Frauen, sich zu treffen und sich zu engagieren, ist allerdings so groß, dass bei dem nächsten Treffen eine Woche später im Erfurter Rathaus schon gut 300 Frauen zusammenkamen. Wieder wurden die Dinge diskutiert, die ihnen auf den Nägeln brennen: Arbeit, Doppelbelastung, Gewalt, Gesundheit, Kindererziehung und die Machtverhältnisse in der Stadt.

Um dieselben Themen ging es am 23. November in Ost-Berlin, als sich die Frauengruppe "Lila Offensive" (Lilo) erstmals einer Frauenöffentlichkeit vorstellte. Die Lilos sind 15 Frauen aus verschiedenen Berufen, die sich Mitte Oktober spontan zusammengefunden hatten. Erwartet wurden an diesem Abend in der geschichtsträchtigen Gethsemane-Kirche 30 Frauen. Etwa 180 kamen. 180 Frauen, obwohl nur in der Uni und per Handzettel informiert worden war.

Die Lilos hatten extra zu diesem Termin ein mühevoll im Westteil der Stadt vervielfältigtes Grundsatzpapier erarbeitet (über den historischen Ursprung der Frauenunterdrückung), aber die Anwesenden wollten nichts wissen. Sie wollten an diesem Abend nicht über Gestern reden, sondern über Heute und über sich.

Im Raum Dresden soll eine große Zahl von Frauenarbeitsplätzen in Partei und Verwaltung gestrichen werden und die ehemaligen Bürokräfte sollen irgendwo anders hin versetzt werden, berichtete eine der Teilnehmerinnen.

Das hatte Hanns Modrowja bereits in seiner Regierungserklärung mit den Worten angekündigt: "Dadurch werden Mitarbeiter des Staatsapparates für andere Aufgaben frei. (...) Die Mitarbeiter, die bisher mit Fleiß und Umsicht ihre Aufgaben erfüllt haben, sollten so unterstützt werden, dass sie eine zumutbare Tätigkeit aufnehmen können, und an lohnender Arbeit fehlt es in der DDR bekanntlich nicht." - Die DDR-Feministinnen befürchten, dass hier speziell auf dem Rücken der Frauen umorganisiert wird.

Bei ersten öffentlichen Treffen stellten die eingeladenen Berliner Lilos fest, dass die neuen Frauengruppen auch in Berlin wie die Pilze gewachsen sind. Neu sind zum Beispiel die Sofis (sozialistische Fraueninitiative). Und geplant ist auch ein gemeinsamer Dachverband aller Frauengruppen. Unter hohem Zeitdruck wird ein Sofortprogramm erarbeitet. Darin werden unter anderem folgende Forderungen aufgestellt:

1. Sofortiger Zugang zu allen Daten und zu Forschungsmaterial in bezug auf Frauen.

2. Aufforderung an die Regierung, ihr gesellschaftspolitisches Konzept offen zu legen, um es auf die Folgen für Frauen abklopfen zu können.

3. Forderung nach einem "Frauenausschuss" in der Volkskammer.

4. Einspruchsrecht für den Dachverband der autonomen Frauengruppen mit aufschiebender Wirkung bei geplanten Regierungs- oder Gesetzesmaßnahmen zu Frauenbelangen.

5. Ausgleichmaßnahmen für Sozialschwache (vor allem Frauen!), wenn zum Beispiel auch in der DDR die Subventionen auf Grundnahrungsmittel, Kinderkleidung oder Wohnungen gestrichen werden (wie es in Polen geschehen ist).

Dieser Dachverband der autonomen Frauen soll eine alternative zum bestehenden "Demokratischen Frauenbund Deutschlands" (DFD) werden. Der DFD hat, zumindest auf dem Papier, rund 1,5 Millionen Mitglieder und ist in 17.800 Wohngebietsgruppen organisiert. Es war bis zur "Erneuerung" die einzige Frauenorganisation der DDR, stand unter der Kuratel der SED und sah seine Aufgabe eher darin, die Interessen von Partei und Staat gegenüber den Frauen zu vertreten als umgekehrt. Auch das soll nun anders werden.

Der Bundesvorstand des DFD tagte Ende Oktober und verabschiedete eine Erklärung zur Erneuerung: "Der DFD will offen für alle Frauen der Republik sein. Unabhängig von Ausbildung, Alter, sozialer Herkunft und Sexualität", heißt es darin. "Er will mehr Öffentlichkeit für die Frauen erwirken und dafür sorgen, dass sie selbst zu Wort kommen."

Viele Frauen halten allerdings den tönernen Koloss DFD nicht für reformierbar. Gar zu eingeschliffen sind sein Frauenbild und seine Vorstellung von Frauenpolitik. Die DFD-Beratungsgruppen haben sich bislang in den Wohngebieten vorwiegend mit dem Sauberhalten von Vorgärten und Spielplätzen und Patenschaften für Kindergärten beschäftigt. Eine ihrer vornehmsten Aufgaben sahen sie darin, "den Frauen die Teilnahme am geistig-kulturellen Leben zu ermöglichen".

Entsprechend war das Beratungsangebot: Vom Nähkurs übers Basteln bis hin zu den dringlichsten Fragen: "Was tun, wenn unerwartet Gäste kommen?" oder "Er wird Soldat - Probleme bei der Vorbereitung auf den Ehrendienst bei der NVA."

DDR-Feministinnen tauften nun die drei Buchstaben DFD um in: Dienstbar - Folgsam - Dumpf. Die neue DFD-Bundesvorsitzende Eva Rohmann findet diese Charakterisierung "nicht gut" und glaubt, "dass sie von Frauen stammt, die über die Arbeit des DFD nicht informiert sind". Sie möchte nämlich diese Kurse auch weiterhin anbieten. Grund? "Sie erfreuen sich so großer Beliebtheit." Doch: "Die Organisation will sich öffnen." Auch die Frage, ob denn auch die autonomen Frauen Räume vom DFD bekämen, hielt die neue Vorsitzende sich bedeckt: "Das ist eine Frage, wo man die ganz konkreten materiellen Möglichkeiten beachten muss."

Wie es mit dem DFD weitergeht und wo er in Zukunft seine Frauenpolitik umsetzen kann, hängt auch von der Energie des Konkurrenzverbandes ab. Und vom Wahlgesetz, das zur Zeit entworfen wird. Bislang war es so, dass nicht nur die Partei, sondern auch die sogenannten Massenorganisationen wie der DFD oder der Staatliche Jugendverband (FDJ) mit einer bestimmten Anzahl von Abgeordneten in der Volkskammer, dem Parlament der DDR, vertreten waren.

Wenn nach der bevorstehenden Reform nur noch Parteien zugelassen werden, wäre den Frauenorganisationen der Weg ins Parlament versperrt. Autonome und etablierte Frauen hoffen also gemeinsam auf eine nicht zu eng an der westlichen Demokratie orientierten Lösung.
Insgeheim spekulieren nämlich schon jetzt einige verwegene Feministinnen auf die Parlamentssitze des ausgedienten DFD. Andere liebäugeln sogar mit der Idee, mit einer Frauenpartei zu den nächsten Wahlen anzutreten.

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