"Ich bin begabt zum Glück"

Simone de Beauvoir 1947 am Pariser Flughafen, bei ihrer Rückkehr aus den USA.
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Von frühester Jugend an hatte Simone de Beauvoir einen heftigen Widerwillen gegen jede Einengung und lehnte jeden Stillstand ab: „Alle Grenzen und alle Trennungsstriche verneinen, aus der Enge meiner Klasse entrinnen, aus meiner Haut herausschlüpfen: diese Parole elektrisierte mich.“ („Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“). Aus solcher Verweigerungshaltung heraus fand sie sich auch später niemals mit einer vorgegebenen Situation ab und wies mit Entsetzen den Gedanken von sich, ein Schicksal zu ertragen, das sie ihrem Eindruck nach nicht selbst gewählt hatte.

Dieser für sie typische Freiheitsdrang entspringt zweifellos dem, was Francis Jeanson in seinem Buch „Simone de Beauvoir ou l‘Entreprise de vivre“ ihre „außergewöhnliche“, ihre „erbarmungslose“ Vitalität nennt. „Vor allem aber strotzte ich vor Jugend und Gesundheit“, schreibt Simone de Beauvoir in den Memoiren, „dennoch aber blieb ich ganz auf das Haus und die Bibliotheken beschränkt: Diese nicht ausgelebte Vitalität entfesselte ziellose Stürme in meinem Kopf und in meinem Herzen.“ Deshalb habe sie sicher eine natürliche Veranlagung zur Existenzialistin gehabt: „Von Kindheit an war ich aufgrund meines Temperaments geneigt, meinen Wünschen, meinen Willensäußerungen zu vertrauen. Unter den Doktrinen, die mich geistig geformt hatten, wählte ich diejenigen aus, die diese Anlage bestärkten.“ („In den besten Jahren“).

Und deshalb entwickelte sie als Lebensantrieb und Prinzip eine echte Passion für das Glück, die manchmal die Form eines Leidens annahm: „Lebensfreude“ reimt sich bei Simone de Beauvoir auf „Lebenswut“. Das zeigen nur zu gut die heftigen Reaktionen, die sie zeitlebens an den Tag legte, wenn der Lauf der Dinge ihre Pläne durchkreuzte. Und das unterstreichen auch Sartres Spötteleien über das, was er ihre „Schizophrenie“ nannte: ihre hartnäckige Weigerung, die Realität zu sehen, wenn diese sich ihrem Willen widersetzte. Glück ist für Beauvoir kein behagliches Versinken in der Wärme des Gegebenen, es ist Ziel, es ist Aushandeln, es ist Kampf.

Wie das Sein und die Freiheit ist das Glück eine Herausforderung und damit ein Risiko; es ist ein ständiges Weitergehen, ein ständiges Sichlosreißen, es ist die Bewegung des Lebens an sich. Insofern ließe sich Glück im Sinne von Beauvoir als bewusste Ausübung der Freiheit definieren oder als Freiheit, die sich ihrer selbst, das heißt ihres eigenen Strebens bewusst ist. Wichtig sind deshalb bei Beauvoir Begriffe wie Berufung – Berufung zum Glück oder zum Schreiben – oder Optimismus. Beide sind gleichermaßen Veranlagung (die Schriftstellerin spricht von „Gabe“, von „Privileg“), Verlockung und Bemühen, schmerzhaftes und ekstatisches Sichlosreißen: Beauvoirs Glücksleidenschaft ist eine heftige und harte Suche, eine schöpferische Leidenschaft, kein leichtes, unproduktives Sichgehenlassen.

Leben hieß für Simone de Beauvoir kämpfen, kämpfen um das Glück, kämpfen um die Freiheit. Sie ist ihrem Wesen nach ein kämpfender Mensch, eine Frau, für die Glück, Freiheit und Kampf zusammenfallen: Kampf für, aber auch Kampf gegen: „Eine Bindung besitzt nur dann Kraft, wenn sie gegen etwas gerichtet ist“, schreibt sie in „In den besten Jahren“.

Gegen wen? Gegen was? Als Kind und als Jugendliche gegen die Erwachsenen und gegen die, die sie die „Barbaren“ nennt; in den Memoiren erinnert sie sich an ihre heftigen Wutanfälle angesichts der willkürlichen Regeln, die ihr aufgezwungen wurden, angesichts der Feindseligkeit und Verständnislosigkeit ihrer Eltern und der „anderen“: „Wie sicher sie sich fühlten, immer im Recht zu sein! Sie lehnten jeden Wandel und jedes Infragestellen ab, sie leugneten alle Probleme.“

„Ich nahm nicht ein obskures Unglück duldend hin, sondern kämpfte einen guten Kampf“, schreibt sie. Später weitete sich dieser Kampf aus zu einem Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung. Aber der permanente Kampf kennt keine Pause. Zumal Beauvoir auch innerlich eine Kämpferin war. Eigensinnig, extrem, widersprüchlich, war sie eine radikale Person mit entsprechend häufigen Krisen.

In ihren „Memoiren“ beschreibt sie die „Wutanfälle“, die sie als Kind hatte, so: „Ich glaube, dass sie sich zum Teil durch eine stürmische Vitalität und eine Neigung zu einem Extremismus erklärten, auf welchen ich niemals (ganz) verzichtet habe. Da meine Abneigung bis zum Erbrechen und meine Begierden bis zur Besessenheit gingen, trennte ein Abgrund die Dinge, die ich liebte, von denen, die mir zuwider waren. Ich war außerstande, den Sturz aus der Fülle ins Leere, aus der Seeligkeit ins Grauen gelassen hinzunehmen.“

In der Kindheit geht es um ohnmächtige Wut angesichts der Autorität, der Vorschriften, der gesetzten Grenzen. Eine Wut, die aufkommt, wenn das Absolute der Realität geopfert werden soll. Ein wenig später sind es metaphysische Krisen von großer Heftigkeit, ein inneres Zerrissensein, das großenteils einer Angst geschuldet ist, der Angst vor dem Verlassensein – „dieser schwindelerregenden Leere, diesem blinden Dunkel“, die die Menschen zur Freiheit verdammen – und der Angst vor dem Tod.

Liest man Beauvoirs Memoiren kann man die Radikalität ihrer frühen Neigungen nur bewundern: das Eigensinnige, Extreme ihrer Haltungen von Kindheit an und ihren hartnäckigen Bezug auf das Absolute, kurz, ihren radikalen Anspruch, ihren Lebenshunger: Alles sehen, alles hören, alles sagen. „Was mir in den Sinn kam, was mich lockte“, bestätigt sie in einem Gespräch mit Alice Schwarzer, „habe ich getan, statt es zu unterdrücken. Darum habe ich auch heute nichts nachzuholen.“

Betont wird dieses extreme Temperament noch durch die inneren Widersprüche von Simone de Beauvoir. Ihr Leben lang schwankte sie hin und her zwischen Glück, radikalem Optimismus und heftigen Anfällen von Verzweiflung und Pessimismus. Anfällen, „so plötzlich und kurz wie Juligewitter“, schreibt Colette Audry. Beauvoir erregte Verwunderung mit ihrem Gegensatz zwischen einer gewissen Regelkonformität, einer gewissen Scheu einerseits und – wie es Alice Schwarzer formuliert –  einer unbezähmbaren, fast schon anarchistischen Missachtung aller Konventionen andererseits, die häufig mit provozierenden Positionen einherging.

Daraus erklärt sich zweifellos Simone de Beauvoirs Befähigung, Grenzen zu übertreten, Tabus zu verletzen. Als subversiv und radikal galt sie schon in ihrer Lehrerinnenzeit, als sie spürte, dass etwas faul war. Man beargwöhnte sie wegen ihrer Lebensweise, ihrer Ansichten und der Bücher (Proust, Gide), die sie ihre Schüler lesen ließ. Sie blieb weiter radikal bis hin zu „Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre“, wo sie in der umfassenden, aufrichtigen Würdigung, die sie Sartre zuteilwerden lässt, nicht davor zurückschreckt, seinen Verfall am Ende des Lebens genau zu beschreiben.

Radikal war sie in all ihren Kämpfen und besonders in ihrem feministischen Engagement: „Radikal feministisch bin ich in dem Sinn, dass ich dem Geschlechterunterschied an sich als bloßer Tatsache eine radikal geringe Bedeutung beimesse (…). Also ich glaube absolut nicht an das, was man ‚weibliche Berufung‘, ‚weibliche Pflichten‘ oder dergleichen nennen könnte“, erklärt sie in einem Interview mit Jeanson.

Als subversiv und tabuverletzend wurde sie auch durchaus wahrgenommen. Man denke nur daran, dass der Vatikan „Die Mandarins von Paris“ und „Das andere Geschlecht“ auf den Index setzte oder dass sie nach der Verleihung des Prix Goncourt Leserbriefe bekam, in denen der Schriftstellerin vorgeworfen wurde, in einer angeblich „unflätigen“ Sprache eine völlig verdorbene Welt zu beschreiben.

Doch worauf zielen die Tabuverletzung und die Anklage, die ihre literarischen Figuren verkörpern? Zunächst auf die bourgeoise Dummheit auf „eine Art und Weise, das Leben und seine Freuden in Vorurteilen, Routinehandlungen, Verstellungen und sinnentleerten Maßregeln zu ersticken“. Und dann auf die geistig-religiösen Irreführungen: „Ich wollte dieser Unterdrückung entkommen, ich nahm mir fest vor, sie aufzudecken“, schreibt sie in „Alles in allem“. Auch in „Marcelle, Chantal, Lisa …“ geht es um die Dummheit in Form des bourgeoisen Konformismus, der christlichen Heuchelei und des „großen geistig-religiösen Verbrechens“, das der Mord an Anne darstellt, dem literarischen Pendant zu Simone de Beauvoirs Kindheitsfreundin Zaza, die an den Lügen und Verboten, mit denen sie am Leben gehindert wurde, zugrunde ging.

Zweite Zielscheibe: die Unterdrückung der Frauen aufgrund ihrer Zwangslage als abhängige Wesen; ebenso die Mythen und Unwahrheiten, deren Opfer sie sind, die sie aber gleichzeitig auch selber weitergeben. Simone de Beauvoir scheut sich nicht, die Verantwortung der Frauen bei der Erziehung ihrer Kinder zu thematisieren und bei ihren weiblichen Figuren mit dem Finger auf die Selbstverblendung zu zeigen, mit der Frauen am Bestehenden und an der Abhängigkeit von Männern Gefallen finden.

In „Marcelle, Chantal, Lisa …“  und in „Das Blut der anderen“ schreckt sie nicht davor zurück, das schwierige Problem der Abtreibung aufzugreifen; mit der „gebrochenen Frau“ – Paule in „Die Mandarins von Paris“, Denise in „Das Blut der anderen“ oder Dominique in „Die Welt der schönen Bilder“ – beschreibt sie Frauen, die ausschließlich für ihre Männer gelebt haben, die in die Fallen der Auf­opferung geraten sind und bis zum Wahnsinn oder zur Depression in den Abgründen ihres Selbstbetrugs versinken. Sie verkörpern jede auf ihre Weise die negative Gestalt der „Verliebten“ aus „Das andere Geschlecht“.

Letzte Zielscheibe: Gewalt und Unterdrückung in all ihren Formen – Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten, Elend. In „Das Blut der anderen“ werden die bourgeoise Heuchelei, die kapitalistische Unterdrückung und der irreführende (von der kapitalistischen Bourgeoisie verzerrte) Begriff der Rechte aufs Korn genommen und selbstverständlich auch das Grauen des Nationalsozialismus. In „Die Mandarins von Paris“ sind es Elend, Lügen und Unterdrückungen der Nachkriegszeit. Besonders das Problem der Lager in der UdSSR. Und in „Die Welt der schönen Bilder“ die Vorgaukeleien und Verschwendungen in der kapitalistischen Konsumgesellschaft.

Die Worte, ob wirkungsvoll oder kraftlos, treffend oder trügerisch, waren Beauvoirs große und im Grunde einzige Chance. Um bis an die menschlichen Grenzen vorzustoßen, brauchte sie eine starke, gegen Konventionen verstoßende Sprache, die sie ebenso wie ihre Freiheit ihr Leben lang gesucht und gefunden hat. Es ist eine lebendige Sprache, die sich durch eine gewisse Mündlichkeit und bisweilen auch Vertraulichkeit auszeichnet: „Sie und ich, wir denken, dass man so schreiben muss, wie man spricht“, schreibt Sartre in einem Brief im Jahr 1940.

Des Weiteren ist es ein Schreiben unter Anspannung, ein Schreiben in Widersprüchen, das mit Oxymoron und Antithese arbeitet, um die kritischen Aspekte und Emotionen so gut wie möglich auszudrücken. Und schließlich ist es ein Schreiben, das in einer raffinierten und manchmal grausamen Polyphonie, die durch Perspektivwechsel und inneren Monolog noch verstärkt wird, geschickt und subtil das Mittel der Ironie einsetzt. Ironie ist eine der Waffen, die Beauvoir glänzend zu führen weiß.

Für Beauvoir war das Schreiben die beste Möglichkeit, Unglück, Verlust, Tod wie auch den Grenzen, an die sie in ihrem Leben stieß, Raum zu geben und sich quitt zu fühlen. Deshalb ist Beauvoirs Schreiben so intensiv. Es ist ein Schreiben unter Anstrengung und Anspannung. Ihre Bücher – wie auch die von Sartre – „riechen nach Schweiß und Mühe“. Mit jedem Wort, mit jeder Seite wird die menschliche Freiheit in Anspruch genommen.

Der Text ist ein Auszug aus Julie Augras‘ Vortrag auf dem Symposium. – Aus dem Französischen von Sigrid Vagt.

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Alice Schwarzer schreibt

70 Jahre "Das andere Geschlecht"

Simone de Beauvoir 1954, am Tag nach Erhalt des Prix Goncourt. - Foto: Pierre Boulat
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13. Oktober 2018. Vorne, am Pult des Amphitheaters der Pariser Fakultät Diderot sitzt Sylvie Le Bon de Beauvoir. Die Adoptiv­tochter von Beauvoir ist seit deren Tod 1986 für die Pflege und Herausgabe ihres Werkes zuständig. Sie ist eine der letzten, die zum Abschluss dieser dreitägigen Konferenz mit ihren dreißig Referaten und Podien von ExpertInnen aus der ganzen Welt spricht. Penser avec Simone de Beauvoir aujourd’hui (Mit Simone de Beauvoir heute denken) lautet der Titel des internationalen Symposiums.

Es ist der Moment. Beauvoirs Theorie von der, bei aller Unterschiedlichkeit, grundsätzlichen Gleichheit der Menschen, also der Univer­salismus, ist heute notwendiger denn je – aber auch bedrohter denn je.

Das Denken des so genannten Differen­zialismus und Intersek­tionalismus spaltet die Menschen in x Identi­täten auf und bedroht das univer­salistische Denken. Das geht in erster Linie vom Gemeinsamen aus und nicht vom Trennenden.

Von diesen aktuellen akademischen Kontro­versen ahnen die zahllosen Frauen, die Tag für Tag Blumen, Metrotickets oder Briefe auf dem Grab von Beauvoir auf dem Friedhof Montparnasse niederlegen, nichts („Du hast mein Leben verändert“ – „Du hast mich gerettet“ – „Du hast mir die Augen geöffnet“). Aber an den Universitäten der westlichen Welt herrscht babylonische Verwirrung in Sachen Gender.

In so manchen Genderdebatten wird ständig das Rad neu erfunden – und drohen essen­zielle Erkenntnisse verloren zu gehen.

Vor genau 70 Jahren erschien „Das andere Geschlecht“. Beauvoir fasste ihr Credo in dem legendären Satz zusammen: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Damit war die „Konstruktion“ der Geschlech­ter­rollen in neun Worten erfasst.

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