"Ich bin da. Mein Herz schlägt."

Simone de Beauvoir 1945 im "Café de Flore". - Foto: Brassaï
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In ihren Memoiren bezeichnete sich Beauvoir als eine „literarische Schriftstellerin“ und behauptete, keine „ideengebende Philosophin“ zu sein. Sie nannte Sartre als den eigentlichen Schöpfer der philosophischen Theorien in „Das andere Geschlecht“ und ihren anderen Arbeiten. Doch Beauvoirs handgeschriebenes Tagebuch aus dem Jahr 1927 erzählt eine ganz andere Geschichte.

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In diesem Band, den sie als 19-jährige Philosophiestudentin an der Sorbonne schrieb, definiert Beauvoir bereits einige der zentralen Fragestellungen und Positionen ihrer späteren philoso­phischen Arbeiten, einschließlich „Das andere Geschlecht“ – und das zwei Jahre, bevor sie Sartre zum ersten Mal begegnete.

1927, das Jahr, in dem Beauvoir die Männerwelten der Philosophie und der Sorbonne betrat, wurde für die Studentin zu einem Jahr der persönlichen Krise und der Veränderung. Hinter sich ließ sie die Jahre an einer katholischen Mädchenschule und die sicheren, aber einengenden Grenzen familiärer Beziehungen; hinter sich ließ sie auch ihre obsessive Liebe zu ihrem zynischen Cousin Jacques. Die zentralen Themen, die sie in diesem Jahr in ihrem Tagebuch reflektiert, sind die inneren Turbulenzen, in die sie durch den Glaubensverlust und den Abbruch familiärer Bindungen geriet, der Kampf gegen die Verzweiflung, die Suche nach sich selbst und der Sehnsucht nach Liebe. In einer frühen Eintragung im Tagebuch schreibt Beauvoir:

„Ich bin intellektuell sehr allein und sehr verloren an der Schwelle meines Lebens, (...) auf der Suche nach einer Richtung. Ich fühle, dass ich etwas wert bin, dass ich etwas zu tun und zu sagen habe (...), doch meine Gedanken laufen ins Leere: In welche Richtung soll ich sie lenken? Wie kann ich diese Einsamkeit durchbrechen? Was kann ich mit meiner Intelligenz erreichen? (...) Jetzt, wo ich über mein Leben entscheiden muss, bin ich tief verzweifelt. Kann ich mich mit dem zufrieden geben, was man Glück nennt? Oder soll ich diesem Absoluten ent­gegengehen, das mich so anzieht?“

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Alice Schwarzer schreibt

70 Jahre "Das andere Geschlecht"

Simone de Beauvoir 1954, am Tag nach Erhalt des Prix Goncourt. - Foto: Pierre Boulat
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13. Oktober 2018. Vorne, am Pult des Amphitheaters der Pariser Fakultät Diderot sitzt Sylvie Le Bon de Beauvoir. Die Adoptiv­tochter von Beauvoir ist seit deren Tod 1986 für die Pflege und Herausgabe ihres Werkes zuständig. Sie ist eine der letzten, die zum Abschluss dieser dreitägigen Konferenz mit ihren dreißig Referaten und Podien von ExpertInnen aus der ganzen Welt spricht. Penser avec Simone de Beauvoir aujourd’hui (Mit Simone de Beauvoir heute denken) lautet der Titel des internationalen Symposiums.

Es ist der Moment. Beauvoirs Theorie von der, bei aller Unterschiedlichkeit, grundsätzlichen Gleichheit der Menschen, also der Univer­salismus, ist heute notwendiger denn je – aber auch bedrohter denn je.

Das Denken des so genannten Differen­zialismus und Intersek­tionalismus spaltet die Menschen in x Identi­täten auf und bedroht das univer­salistische Denken. Das geht in erster Linie vom Gemeinsamen aus und nicht vom Trennenden.

Von diesen aktuellen akademischen Kontro­versen ahnen die zahllosen Frauen, die Tag für Tag Blumen, Metrotickets oder Briefe auf dem Grab von Beauvoir auf dem Friedhof Montparnasse niederlegen, nichts („Du hast mein Leben verändert“ – „Du hast mich gerettet“ – „Du hast mir die Augen geöffnet“). Aber an den Universitäten der westlichen Welt herrscht babylonische Verwirrung in Sachen Gender.

In so manchen Genderdebatten wird ständig das Rad neu erfunden – und drohen essen­zielle Erkenntnisse verloren zu gehen.

Vor genau 70 Jahren erschien „Das andere Geschlecht“. Beauvoir fasste ihr Credo in dem legendären Satz zusammen: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Damit war die „Konstruktion“ der Geschlech­ter­rollen in neun Worten erfasst.

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