Zu früher Sex?

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Die Elftklässlerin stöckelt zum Klassenraum und quäkt über den Schulflur: "Ich hab keine Lust, mein ganzes Leben lang zu blasen!" Wenig später verführen drei leichtbekleidete 16-Jährige den Englischlehrer mittels "Sexpille" im Videoraum. So zu sehen in der TV-Serie ‚Schulmädchen', die RTL vor zwei Jahren in den Äther schickte - nicht etwa zu nächtlichen Softpornozeiten, sondern zur teeniekompatiblen Prime Time.
Die Message an die junge Zielgruppe: Mädels sind Luder und haben nur das eine im Kopf. Es hagelte Beschwerden, die ‚Schulmädchen'-Chefautor Matthias Dinter, 33, nicht verstand: "Wenn Teenager Sex cool finden, finde ich das ehrlich gesagt normal."
Ganz normal fand es auch das Versandhaus Neckermann, seine String-Tangas in Kleidergröße 104 sprich: für Drei- bis Vierjährige anzubieten. Ganz perplex ob der Proteste gegen den Lolita-Look zog das Unternehmen die Minitangas rasch wieder aus dem Verkehr. H&M bestätigt den Trend, wenngleich das schwedische Modehaus die Käuferinnengruppe ein wenig älter schätzt: Die Strings seien "in allen Farben und Formen" bei Mädchen ab zwölf im Kommen.
"Kann ich schwanger werden, wenn ich Sperma schlucke?", fragt Jenny, 14, in der unverwüstlichen Dr. Sommer-Sprechstunde der Bravo.
Während Leonie, 15, wissen will: "Muss ich meine Schamhaare rasieren?" Und in der Rubrik ‚Frag Gabi' der Zeitschrift Mädchen fragt Sue verzweifelt: "Warum hab ich bloß mit ihm geschlafen?" Sue ist 14, und ihre Frage an Gabi scheint äußerst repräsentativ zu sein.
Denn Mädchen - und Jungen - haben in Deutschland immer früher Sex. Ihr ‚erstes Mal' erleben Mädchen und Jungen laut der Studie ‚Jugendsexualität' der ‚Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung' (BzgA), mit durchschnittlich 15 Jahren. Vor zehn Jahren lag der Altersdurchschnitt für den ersten Geschlechtsverkehr noch bei 16 Jahren. Jedes zehnte 14-jährige Mädchen hat schon mit einem Jungen geschlafen.
Das scheint auf den ersten Blick einleuchtend. Schließlich setzt die Geschlechtsreife in den westlichen Ländern bei Mädchen wie Jungen immer früher ein, pro Jahr verschieben sich Menstruation beziehungsweise Samenerguss um zwei Monate nach vorn. Mädchen, die Mitte der Sechziger geboren wurden, bekamen ihre Regel mit durchschnittlich 13,5 Jahren, bei Ende der Siebziger Geborenen setzte die Monatsblutung schon im Alter von 12,2 Jahren ein. Heute menstruieren schon Elfeinhalbjährige, und für das Jahr 2010 prognostiziert Sexualforscher Norbert Kluge, dass Mädchen und Jungen mit zehn Jahren geschlechtsreif sein werden.
Aber sind sie deshalb auch reif für Sex? Finden Teenager Sex tatsächlich einfach immer früher "cool"? Nein, tun sie nicht.
Denn Sues Frage ist nicht nur wegen des zarten Alters typisch, in dem sie gestellt wird, sondern auch deshalb, weil die 14-Jährige zu den 80 Prozent der Mädchen gehört, die sich laut BzgA nach ihrem ersten Sex wünschen, sie "hätten noch gewartet". SexualforscherInnen und -beraterInnen schlagen deshalb schon länger Alarm. Denn: "Die Kluft zwischen körperlicher und geistig-psychischer Sexualreife wird immer größer", klagt Sexualpädagoge Kluge nach einer Befragung von 6.000 Jugendlichen. "Dabei hat Sexualität ganz viel mit Verantwortung zu tun, mit Mitmenschlichkeit, mit Bindung, mit Ängsten." All das komme zu kurz, wenn zwar die körperliche Reife da ist, aber die Seele hinterher stolpert.
"Wir wuchsen in einem Chaos der Unterinformation auf, die Jugendlichen heute erleben ein Chaos der Überinformation", bestätigt der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt. "Overscripted" nennt er dieses Phänomen: Die Mädchen und Jungen haben das - für beide Geschlechter sehr unterschiedliche - Drehbuch zum Sex schon im Kopf, geschrieben haben es MTV, Bravo und die ‚Schulmädchen'.
"Ich kenne unendlich viele Mädchen, die äußern, dass ‚es' zu früh war", sagt auch Esther Schoonbrood, Ärztin und Aufklärerin an Schulen im Auftrag der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau (ÄGGF). "In diesem Alter sind die Mädchen vor allem auf der Suche nach Anerkennung und Zuneigung. Aber sie sind bereit, den Sex als Preis dafür zu zahlen, weil das so in der Bravo steht."
Es steht nicht nur in der Bravo, es wummert auch in HipHop-Videos mit brüsteschlackernden Bitches in die Kinderzimmer. Kylie und Britney leisten halbbekleidet vollen Körpereinsatz, seit neuestem gesellt sich auch wieder Madonna im knappen Höschen dazu. An deren Doppelbotschaft - "Ich bin supersexy, aber beim Sex bin ich die Chefin" - dürfte schon so manches Mädchen bei der praktischen Umsetzung des zweiten Teils gescheitert sein. "Die Mädchen geraten unter einen immensen Druck", klagt die ÄGGF-Vorsitzende Gisela Gille.
In den rund 4.000 Aufklärungsveranstaltungen, die der 80-köpfige Medizinerinnen-Verband jährlich an Schulen durchführt, gehen die 14- bis 15-jährigen Mädchen stets davon aus, dass die überwältigende Mehrheit ihrer Altersgruppe schon Geschlechtsverkehr hat - und sind enorm erleichtert, wenn sie hören, dass sie selbst nicht die Ausnahme sind, sondern die Regel. Die American Health Public Association bekräftigt: 15-Jährige haben zweieinhalb mal so häufig Sex, wenn sie glauben, dass auch ihre Freundinnen beziehungsweise Freunde schon sexuell aktiv sind.
Der mediale sexuelle Dauerbeschuss hat handfeste Motive. Und die heißen Auflagenhöhe, Einschaltquote, Umsatz. Wie praktisch, wenn die Zielgruppe für Handys und CDs, für Piercings und Arschgeweih immer jünger und damit immer größer wird. Und wenn auch für kindliche KonsumentInnen Dank früh forcierter Sexualisierung die Faustformel gilt: ‚Sex sells' (siehe Seite 49). Zur gnadenlosen Kommerzialisierung der Sexualität gesellt sich eine 68er-geprägte Elterngeneration, die genauso cool sein will wie ihre Kinder und lieber in die Haltungslosigkeit flüchtet, als uncoole Verbote zu erteilen. Und die glaubt, ihre Sprösslinge seien ohnehin besser informiert als sie selbst.
"Das Gegenteil ist der Fall", erklärt Gisela Gille. "Mädchen wissen zwar heute bereits in der Pubertät, was SM ist, aber das grundlegende Wissen über weibliche Sexualorgane und deren sexuelle Erregbarkeit fehlt", erklärt auch Pro Familia. "Scheinaufgeklärt" seien die Jugendlichen, bestätigt die Deutsche Gesellschaft für Sexualwissenschaftliche Sozialforschung. "Das Wissen über Sex ist extrem gering, die Illusion, etwas zu wissen, dagegen groß - eine besonders gefährliche Mischung."
Eine Folge: Die Zahl der Teenagerschwangerschaften in Deutschland steigt seit Jahren kontinuierlich an. Noch 1996 lag die Zahl bei rund 9.500. Im Jahr 2001 waren schon knapp 13.000 Mädchen unter 18 schwanger, 2005 rund 15.000. Jede zehnte der minderjährigen (potenziellen) Mütter war unter 14, und der Anteil der zehn- bis 14-jährigen schwangeren Mädchen steigt. Rund die Hälfte von ihnen trägt das Kind aus.
Je jünger die Mädchen und Jungen beim ‚ersten Mal' sind, desto seltener verhüten sie. Jedes fünfte Mädchen, das mit 14 oder 15 Jahren zum ersten Mal mit einem Jungen schläft, tut das ohne Schutz vor Schwangerschaft. Während Deutschland mit seiner Teenager-Schwangerschaftsrate (16 von 1.000) im europäischen Vergleich im Mittelfeld liegt (Frankreich: 20 von 1.000, Niederlande: 8 von 1.000), sind die USA ungeschlagener Spitzenreiter der westlichen Welt: 80 von 1.000 schwangeren Frauen sind im Land der unbegrenzten Möglichkeiten unter 19 Jahre alt, das sind 860.000 minderjährige Mädchen pro Jahr.
Bezeichnenderweise leben die meisten von ihnen in jenen erzkonservativen Südstaaten, die so viel von der Kirche und so wenig von Kondomen halten. Langsam, aber sicher kommen die Jugendbewegungen der eifrig missionierenden christlichen Fundamentalisten (siehe Seite 54) auch in Deutschland an. Und deren Botschaft - ‚Wahre Liebe wartet' - fällt bei einem Teil der übersexualisierten und überforderten Mädchen - und Jungen - auf fruchtbaren Boden.
In dieser Gemengelage hat es schwer, wer versucht, der Hypersexualisierung Einhalt zu gebieten. Der Aufschrei war groß, als im August 2003 Helga Akkermann, Schulleiterin der Gesamtschule Sehnde bei Hannover, die Eltern ihrer SchülerInnen in einem Rundbrief bat, auf "angemessene Kleidung" im Klassenraum zu achten. Anlass: Eine Schülerin hatte sich geweigert, im Unterricht mehr als ihren Bustier zu tragen. Die überregionale Presse und Fernsehsender von Bild bis RTL stürzten sich auf die Schulleiterin und bezichtigten sie der Prüderie.
Dabei ist Helga Akkermann nicht die einzige Pädagogin, die verzweifelt versucht, der Sexualisierung des Klassenraums mit Hüfthosen unter der Schamhaargrenze Einhalt zu gebieten. Die Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf führte ihre ‚Schulkleidung' schon im Jahr 2000 ein. Jüngst brachte Initiatorin Karin Brose ein Handbuch für LehrerInnen heraus: ‚Schulkleidung ist nicht Schuluniform'. "Die Schülerinnen wollen sich in diesem Alter zeigen, und sie sollen sich auch zeigen. Sie sollen sich nur nicht ausziehen." Auf der Warteliste von Karin Brose, neuerdings nebenberufliche Schulkleidungs-Beraterin, stehen derzeit 40 Schulen.
Es war - neben der Diskriminierung der so genannten Aldi-Kinder - das "Tittengegucke" im Klassenraum, das die Schule dazu bewog, die Schulkleidungs-Kollektionen einzuführen. Oft bleibt es nicht beim Glotzen, denn die Pornografisierung der Jungen schreitet voran.
"Neun- und Zehnjährige haben Zugang zu Sex- und Pornoseiten im Internet. Wir machen uns überhaupt nicht klar, was da wirklich abläuft", klagt Sexualpädagoge Kluge. Die Kölner Beratungsstelle ‚Zartbitter' meldet, dass sich immer mehr Erzieherinnen und GrundschullehrerInnen hilfesuchend an sie wenden, weil die sexuellen Belästiger bisweilen sechs, acht oder zehn Jahre alt sind. Eine der Ursachen: "Die zunehmende Konfrontation der Kinder mit Erwachsenensexualität über die Medien."
Aber es gibt auch gute Nachrichten: Ein Teil der Jungen scheint sich der grassierenden Bilderflut, die Frauen zu platinblonden Silikon-Objekten degradiert, bewusst zu entziehen. "Liebe wird heute von Jungen als wichtigster Grund für den ersten Geschlechtsverkehr genannt", erklärt  Sexualforscher Schmidt.  Er hat gar eine "Romantisierung der männlichen Sexualität" ausgemacht.
Dazu passt ein trotz aller Sexualisierung offenbar erstarktes Selbstbewusstsein der Mädchen: Noch 1970 erklärten vier Fünftel der Mädchen, sie hätten ihr ‚erstes Mal' "dem Jungen zuliebe" gehabt. Heute handeln nur noch ein Fünftel der Mädchen nach dem Motto ‚Sein Wille geschehe'.
Die Emanzipation schreitet fort. Nun gilt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass das erkämpfte weibliche Recht auf Lust nicht zur Pflicht zur Lust wird.

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