Mehrgenerationen-Wohnen: Anna tut es!

Drei Generationen, zehn Parteien, ein "Salöngchen". Anna Dünnebier (Reihe vorn, 3. v li) beim Richtfest mit allen GründerInnen.
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Ich gehe gern aus: Kino, Restaurant, Konzert, Literaturhaus. Und ich bin nicht arm an näheren und loseren Freundschaften. Aber mein Wohnprojekt, das ist noch mal was anderes. Neue Familie – nein das ist zu viel gesagt. Nette Nachbarschaft – viel zu wenig. Neue Lebensform, neue Gemeinsamkeit, ein Gefühl von Aufgehobensein – ja, irgendwie sowas.

Mit neun anderen Parteien wohne ich in einem Haus, das wir zusammen geplant und gebaut haben. Sechs Familien mit kleinen Kindern, vier Parteien über 60, ich bin die Älteste.

Ich wohne in einer kleinen Wohnung mit Balkon unter dem Dach. Gemeinsam haben wir einen Garten, eine Dachterrasse mit einer kleinen Sommerküche, und vor allem einen großen Gemeinschaftsraum, unser „Salöngchen“, mit Klavier und Bibliothek, Küchenzeile, Tischen und Stühlen, einem gemütlichen Sofa samt Sesseln. Nicht zu vergessen den Beamer, mit dem wir Filme, Fußballübertragung und was sonst gewünscht wird, auf Großformat projizieren können. Und alles wird dauernd benutzt, von allen gemeinsam, in größerem oder kleinerem Kreis, mit und ohne Gäste. Das Salöngchen ist auch für öffentliche Veranstaltungen oder interne Feste. Manchmal übernachten da auch Gäste, das Sofa kann man aufklappen.

Mehr als fünf Jahre wohnen wir schon hier. Im Sommer haben wir einen ganzen Tag lang das Jubiläum gefeiert, mit einem Ausflug, Wanderung, Picknick, Ponyreiten, Kutschfahrt. Alle waren dabei, drei Generationen.

Ich hatte so etwas schon länger gewollt. Zu fünft hatten wir ein Haus gesucht, nichts Passendes gefunden. Entweder waren die Objekte zu klein oder zu teuer, zu weit außerhalb oder in zu schlechtem Zustand … Nach einem Jahr haben wir aufgegeben. Und dann stieß ich vor zehn Jahren auf dieses Projekt. Es bestand zunächst nur aus guten Ideen und wechselnden Interessenten, mal 14 Parteien, zwischendrin auch mehr, dann weniger.

Nicht alle waren miteinander befreundet oder auch nur bekannt. Ich kannte von der Gruppe nur drei Personen. Gefunden haben wir uns um eine kleine Kerngruppe herum, als die Nachricht umging, dass die Stadt das geräumige Gelände einer alten Fabrik, das schon lange brach lag, nun bebauen würde. Einige Grundstücke sollten an Baugruppen gehen, die neue
Wohnmodelle realisieren wollten. Man konnte sich bewerben. Die Voraussetzung für einen Zuschlag sollte sein, dass die Gruppe für das neue Viertel eine kulturelle oder gesellschaftliche Bereicherung sein würde.

Was hatten wir da anzubieten? „Literatur“, schlug eine junge Mutter vor. Sie wollte Vorlesestunden für Kinder veranstalten. Und sah mich erwartungsvoll an. Für mich passte das, ich würde gern literarische Abende veranstalten. Also bewarben wir uns stolz als „Literarisches Quartier“. Zehn Gruppen bekamen den Zuschlag, wir waren dabei. Die Zeit war günstig: Zinsen für Baukredite waren so niedrig wie noch nie.

Dann wurde es richtig anstrengend. Es dauerte noch fast vier Jahre bis zum Einzug. Wir hatten eine Architektin und einen Projektsteuerer. Aber wir mussten jeden einzelnen Schritt
gemeinsam entscheiden, vom Zuschnitt der Wohnungen bis zur Gartenleuchte. Alle zwei Wochen haben wir uns getroffen und über Parkett, Kacheln, Türen, Klos, Außenputz und vieles
andere diskutiert und entschieden, nach vorheriger Besichtigung natürlich. Und das mit 17 Leuten, die verschiedene Wünsche und Vorstellungen haben. Wir mussten lernen, Kompromisse zu machen. Die Anderen zu verstehen. Auseinandersetzungen auszuhalten. Sich selbst zurückzunehmen. Sachlich zu bleiben.

In diesen sehr schwierigen Jahren sind einige abgesprungen. Aber die, die durchgehalten haben, sind zusammengewachsen, und das hält vor.

Im Jahr 2017 konnten wir endlich einziehen! Und freuten uns, unsere Pläne für gemeinsames Sonntagsfrühstück, zusammen kochen oder Abendplausch endlich umsetzen zu können. Wir legten fest, was wie oft und wann stattfinden sollte. Aber nach den vielen Jahren voller Termine hatte keiner mehr Lust darauf, sich zeitlich festzulegen. Der Plan landete schnell im Müll. Spontan klappt es besser. Wir kommunizieren über Threema, und wenn jemand schreibt: „Ich sitze im Salöngchen, wer hat Lust auf einen Plausch?“ – dann finden sich immer ein paar oder auch viele ein. Oder wenn Fußball geguckt wird. Oder wenn auf der Dachterrasse frisch gebackener Kuchen steht. Im Sommer sowieso, da sitzt meist jemand im Garten und wer Zeit hat, setzt sich dazu.

Ein paar Termine gibt es doch noch. Auf dem Gieß- und Schipp-Plan steht, wer übers Jahr in welcher Woche im Sommer den Garten gießen muss oder im Winter Schnee schippen. Zweimal im Jahr machen wir einen „Hauskümmertag“ zum Aufräumen und Reparieren. Und wir legen Abende fest, an denen diskutiert wird, was im Haus entschieden werden muss. Zurzeit sind das die Gewährleistungen für Mängel beim Bau, die Frage, wie wir Solar aufs Dach kriegen, ob und wie wir den Garten umgestalten.

Das Versprechen vom „Literarischen Quartier“ haben wir eingehalten. Das ist am Haus schon von außen sichtbar: Neben der Eingangstür haben wir einen Bücherschrank eingebaut, zum Mitnehmen und Tauschen. Die Kinderlesungen sind ein voller Erfolg. Ein professioneller Sprecher liest nicht nur vor, sondern bringt auch Illustrationen mit, die mit unserem Beamer an die Wand projiziert werden – ein lebendiges Bilderbuch. Ich bin für die Erwachsenen zuständig, lade zu Lesungen und Gesprächen mit Autorinnen oder Autoren ein. Entwerfe Plakate, vervielfältige, verteile im Viertel. Es ist eine eher private Atmosphäre bei uns, die ZuhörerInnen sitzen auf dem Sofa oder an kleinen Tischen, es gibt Wein und Saft, und nach dem Zuhören ergeben sich immer gute Gespräche.

Wir hätten uns auch als Kunstquartier bewerben können. Ein Paar in unserem Haus arbeitet mit Malerei und Skulptur. Sie haben einzeln, zu zweit oder gemeinsam mit anderen Ausstellungen im Viertel gemacht. Einmal auch in unserem Haus: Im Salöngchen standen die Skulpturen, Bilder hingen an den Wänden im Treppenhaus. Ein Wochenende lang zogen Gäste durchs Haus. Die beiden haben auch mit den Nachbarn zusammen in deren Gemeinschaftsräumen und Fluren einen Kunsthandwerkerinnenmarkt organisiert, wo es Getöpfertes, Gestricktes, Gedrucktes und Gegossenes zu kaufen gab. Und immer hängen neue Arbeiten bei uns in den Fluren.

Allmählich hat sich ergeben, dass die Familien eher miteinander zu tun haben, und wir Älteren „Ü60“ viel gemeinsam machen. Mal kochen wir zusammen, gehen wandern, besuchen Ausstellungen, Jazzkonzerte. An Sonntagabenden machen wir oft „Reste-Essen“, werfen zusammen, was vom Wochenende noch übrig ist. Bei unserem regelmäßigen Frühstück an Donnerstagvormittagen sind auch die „Ü60“ aus den benachbarten Wohnprojekten dabei. Die haben auch alle einen Gemeinschaftsraum und reihum wird eingeladen.

Das ist ein unerwarteter Zusatzgewinn: die guten Beziehungen zu den anderen neun Guppen. Zu unseren jeweiligen Einweihungsfesten haben wir uns alle gegenseitig eingeladen. Und
dann entstanden größere oder kleinere Projekte. Eine Musikenthusiastin aus unserem Haus hat bei uns und in den Nachbarhäusern herumgefragt, wer denn Lust hätte, in einem Chor zu singen. Ich singe so gern! Und andere auch. Anfangs traf sich ein kleines Grüppchen, wir fanden eine Chorleiterin, dann wurden es schnell mehr. Jeden Mittwoch singen wir jetzt vergnügt miteinander, anfangs bei uns im Salöngchen rund um unser Klavier. Inzwischen sind wir schon so weit gewachsen, dass wir in einen größeren Raum umziehen mussten.

Ich mache auch bei einer Gruppe mit, die im Park eine Wildblumenwiese gesät und Obstbäume gepflanzt hat – nach langem Hin und Her mit der Stadt. Nun müssen die Bäume gegossen werden und die Wiese gesenst. Mit einer Sense würde ich mir wohl eher selbst in den Fuß schneiden, aber beim Gießen bin ich dabei. Schwer genug, die riesigen Kanister zu bewegen, die wir auf die Wurzeln der immer noch winzigen Bäumchen kippen. Bis zum Obst dauert es wohl noch ein paar Jahre.

Und ich profitiere vom „Repaircafé“ im Nachbarhaus. Da kann man mit kaputten Kaffeemaschinen, Stühlen, Fahrrädern und dergleichen ankommen und es wird einem bei der Reparatur
geholfen. Eher ist es so, dass die Kundigen dort reparieren und man selbst nicht viel mehr tut als die Schrauben halten. Jedenfalls wurde ohne mein Zutun meine Lampe wieder heil.

Es tut sich noch mehr im neuen Viertel. Manche Aktive organisieren Straßenfeste. Andere einen Martinsumzug mit abschließendem Feuer. Oder kümmern sich darum, dass mehr Grün ins Viertel kommt. Machen Infoveranstaltung über Solardächer. Sammeln Bilder und Dokumente aus der Zeit, als hier noch die Fabrik arbeitete. Haben einen Quartiersverein gegründet mit monatlichem Stammtisch. Auch wenn ich nicht mit organisiere, bin ich gern dabei.

In den Corona-Jahren war kaum Gemeinschaftsleben möglich. Das Salöngchen wurde für Homeoffice benutzt. Im vorigen Frühjahr zogen in den großen Raum vier Frauen aus der Ukraine ein. Auch alle anderen neun Häuser hatten oder haben noch Flüchtlinge aus der Ukraine in den Gemeinschaftsräumen. Aber das sind andere Geschichten.

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