Antje Strubel: Spotte den Ossi!

Antje Rávic Strubel - © Zaia Alexander
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"Du willst gern hören, was alle hören wollen: Wie sich jemand gegen die Staatsgewalt aufgelehnt hat und zur Heldin wurde. Lauter kleine Helden im Arbeiter- und Bauernstaat.“ – „Du willst hören, wie jemand den Ruf verliert und wie die Familie, die Gesundheit, die körperliche und geistige Gesundheit, wie Liebe und Hoffnung zerstört werden“, sagte Inez.

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Kürzlich erzählte mir eine Freundin, sie sei Zeugin eines verbreiteten Gesellschaftsspiels geworden: Ossi- Spotting. In der Gruppe, mit der sie unterwegs gewesen war, hatte man sich damit vergnügt, unter den Menschen auf der Straße Ossis auszumachen. Nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte, hatte sie nicht ganz durchschaut. Tragen Ossis immer noch „Nietenjeans“? Haben ihre Männer Schiebermützen auf? Laufen sie grau und verhuscht durch den Tag? Oder liegt es am Geruch? Eine Überprüfung der Erspähten fand nicht statt. Es ging darum, einander mit den kuriosesten Beobachtungen zu übertrumpfen. Der Ossi blieb stumm, weil er nichts von seiner Entlarvung wusste.

Während eines Workshops für junge Autorinnen in Wolfenbüttel stellte ich zur Veranschaulichung von Erzählperspektiven Auszüge aus Romanen unterschiedlichster Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor. Nachdem wir Christa Wolf und Christoph Hein diskutiert hatten, sagte eine Teilnehmerin: „Reden wir jetzt mal wieder über richtige Literatur?“

Vor etwa fünf Jahren gab es in den überregionalen Feuilletons einen Aufschrei über die Abwanderung arbeitssuchender Frauen aus Brandenburg. Was da in der FAZ und der Süddeutschen über kleine Orte in der Prignitz und der Uckermark stand, klang wie Berichte aus Notstandsgebieten: Auf fünf Männer käme höchstens noch eine Frau. Man beglückwünschte nun nicht die klugen Frauen, die gemäß der allseits geforderten Flexibilität dorthin gingen, wo es Arbeit gab. Sondern man beweinte die Männer.

Forscher wurden in die notleidenden Gebiete entsandt, die Studien erstellten über den Zusammenhang zwischen der Abwesenheit des Weiblichen und dem Heraufziehen männlicher Aggressivität. Zur Befriedung der Zurückbleiber, deren künftige Greueltaten man schon in allen Farben kannte, warb man verzweifelt um heiratswilliges weibliches Personal. Die Artikel hatten einen so hysterischen Unterton, dass zweierlei klar wurde: Hier handelte es sich zum ersten Mal in der deutschen Geschichte um eine Unterschicht, die nicht aus Migranten und Frauen, sondern aus deutschen Männern bestand. Und: Deutschlands beinharte Kampfzonen werden nach wie vor im Osten verortet, als Heimstatt des authentisch Fiesen.

Oder, wie es Herr Mosebach mir gegenüber in einem Café in Frankfurt/Main formulierte: Die DDR habe sich ihm bis heute als ein Gebiet ins Gedächtnis gebrannt, in dem „Moder, Schimmel und Dunkelheit herrschen“. Bis heute beschäftigen die Überregionalen auch kaum Redakteure, deren Herkunft im Osten liegt.

Das alles mag nicht repräsentativ sein für die aktuelle Stimmungslage zwischen Ost und West, eine Lage, die möglicherweise in Auflösung begriffen ist nach 24 Jahren „Einheit“, neun davon regiert von einer ostdeutschen Kanzlerin. Diese Beispiele sind Einzelfälle. Sie illustrieren die Unsicherheiten und Missverständnisse, die auftreten, wenn eine Gesellschaftsordnung durch eine andere abgelöst, von ihr aufgenommen wird, gewissermaßen: in sie hineinrutscht.

Und doch machen diese Beispiele etwas deutlich, was sich schon abzuzeichnen begann, als der Einheitsvertrag ausgehandelt wurde. Während BürgerrechtlerInnen wie Ulrike Poppe, Marianne Birthler oder Bärbel Bohley ihre Vorstellungen einer lebbaren Demokratie als Ebenbürtige in die Verhandlungen über ein gemeinsames neues Land einzubringen versuchten, war der Vertrag längst über ihre Köpfe hinweg entschieden worden, und zwar auf einer westdeutschen, teilweise veralteten Gesetzesgrundlage. Aus der DDR-Fristenlösung wurde gesamtdeutsch die westdeutsche Beratungspflicht. Von den westdeutschen Parteien schafften es allein die Grünen, ein Zusammengehen mit ihren KollegInnen aus dem Osten fair auszuhandeln, bei allen anderen wurden die Ossis einfach geschluckt.

„In der Selbstverständlichkeit, mit der alles, aber auch alles, was im Westen entstanden, entschieden oder gewachsen war, nun auch für den Osten gutgeheißen wurde, lag etwas Autoritäres und Selbstgerechtes, das dem Selbstbewusstsein der ehemals Ostdeutschen nicht guttat“, schreibt Marianne Birthler in ihren Erinnerungen.

Im Zuge der Verurteilung der Verbrechen einer Diktatur wurden die Lebensleistungen der Menschen oft pauschal mit abgeurteilt. So entstand irgendwie der Eindruck, niemand in diesem „modernden“ Land habe ein aufrechtes, erfüllendes Leben geführt mit einem ebenso reichen Erfahrungsschatz wie im Westen; den Widrigkeiten, der Bespitzelung und Bevormundung zum Trotz.

Nur so lässt sich die Goldgräberstimmung erklären, die einige befiel, als sie ostdeutsches Gebiet betraten; die Pioniermentalitäten, wie sie sich erst letztes Jahr wieder in der Rede eines Abgeordneten des Europa-Parlaments niederschlug. Zur Eröffnung eines Festivals in Potsdam äußerteer bewegt seine Freude darüber, der Gegend nun ein Gesicht verleihen zu können, in der Tradition der einstigen Schlossherren. Er pflanzte seine Flagge aufs unerschlossene Land, ohne die Indianer zu sehen, die es fruchtbar gemacht hatten.

Meine begeisterte Identifikation mit den Urvölkern Amerikas als Kind wurde im Rückblick zu einer Vorahnung. Mich tatsächlich dort verortet zu sehen, erwies sich jedoch als weniger glamourös als im Film.

Was die Beispiele gemeinsam haben, ist die Erzählperspektive. Als Schriftstellerin weiß ich, wie wichtig sie für eine Geschichte ist. Wie sie das Erzählte lenkt. Wie sie es überhaupt erst hervorbringt. Die bundesdeutsche Geschichte wurde seit der Nachwende-Zeit in einer Perspektive geschrieben, in der der Ossi als der Andere erscheint, als Stereotyp, viktimisiert oder schuldbeladen, gern auch femininisiert; passiv, gefühlig, nostalgisch, die „Jammerossis“. Solche Stereotype produzierten eine Unschärfe, vor der sich die westlichen, bis in die kleinste Verästelung ausdifferenzierten Figuren dieses Gesellschaftsromans umso schärfer abheben.

Im Literaturbetrieb beispielsweise war lange nur die Rede von ostdeutschen Autorinnen im Allgemeinen, egal, ob sie aus einem Offiziershaushalt stammten, Kinder von Staatskünstlern, Arbeitern, Dissidenten oder ganz gewöhnliche Kinder gewesen waren, während die Schreiber des Westens noch bis in die Marke ihrer Strampelanzüge hinein unterschieden wurden.

Dieser gesamtdeutsche Großentwurf entwickelte eine solche Suggestionskraft, dass die Ossis selbst sich manchmal in dieser Unschärfe zu verlieren drohten. In vorauseilender Selbstverleugnung wurden Selbstermächtigungen, die Perspektive aufzusprengen, erstickt. Jana Hensel wurde 2002 bei der Vorstellung ihres Buches „Zonenkinder“ in Leipzig noch für die Negation eines Wirs geteert und gefedert.

Nun ist meine Hautfarbe weiß. Auch bin ich bruchlos in den hierzulande üblichen Sprachgebrauch hineingewachsen, und abgesehen von zwei Stunden in der Z-Zone auf dem Flughafen von Los Angeles, habe ich keinen Augenblick meines Lebens als Staatenlose verbracht. Und doch ist meine Herkunft neben der Ausprägung meiner Genitalien und der Tatsache, dass ich aus dem heteronormativen Kontext herausfalle, verantwortlich für subtile Widerstände, die sich der Behauptung einer eigenständigen, Grenzen sprengenden Erzählposition entgegenstellen.

Die Verwirrung jedesmal bei den Kritikern, sobald ich das Kanucamp in meinem Roman „Kältere Schichten der Luft“ zu einem Sinnbild der gesamtdeutschen Gesellschaft erklärte! Solange Ossis durch die Erfindung einer aus Ostdeutschland stammenden Autorin laufen, kann es sich nur um ein Buch über ostdeutsche Mentalitäten handeln.

Ähnlich verhält es sich mit Hauptfiguren, die nicht männlich und weiß sind. Gibt es Protagonistinnen, von, sagen wir, einer dunkelhäutigen Autorin, an denen Zeitläufe ablesbar wären, globale Phänomene, denen also eine quasi neutrale Perspektive auf die Welt eingeräumt würde, wie sie männlichen Protagonisten und ihren Erfindern fraglos zugestanden wird? Gibt es eine Faustine, Donna Quichote, Mobyne Dick? Natürlich.Sie wurden nur wie üblich auf ihre Körper,  ihre Biografie, ihre Herkunft zurückgeworfen. Dort aber hört ihre Sprachbevollmächtigung vorerst auf.

Der Lyriker Michael Lentz sagte einmal in einem Interview zu seinem Exil-Roman über Thomas Mann, er habe die Homosexualität nicht thematisiert, weil er sich damit nicht auskenne. Er könne sich das nicht in die eigene Lebenswelt übersetzen.

Mich machte das stolz. Ich hatte mich nicht nur seit meiner Kindheit in gegengeschlechtliche Rollenbilder hineinversetzt (Tom Sawyer, Harka, viele alte Männer), die zudem oft einer mir fremden Gesellschaftsordnung angehörten, sondern ich kann mir auch problemlos heterosexuelle Liebesgeschichten in meine Lebenswirklichkeit übersetzen. Mir wurde klar, dass nicht nur ich, sondern die meisten von uns täglich jede Menge ähnlicher Übersetzungsleistungen erbringen.

Dass diese Fähigkeit Vorteile hat in einer Gegenwart, in der auch westdeutsche, weiße, männliche Identitäten in flüchtige, einander überlappende und unterlaufende Merkmale zerfallen. Und so, wie das Männliche nicht ausschließlich dem biologischen Mann zukommt als Ausdruck einer scheinbar natürlichen und stabilen Wesensart, sondern ebenso gut von Anderen verkörpert werden kann, hat sich das Ostdeutsche längst wie die Mauer in kleinen Bröckchen um die ganze Welt verteilt.

Manchmal zeigt sich erst mitten in der Geschichte, dass die Perspektive, die man gewählt hat, nicht stimmt. Spätestens, wenn neben der Erzählstimme zu viele Andere eigene Stimmen geltend machen, heißt es umschreiben. Und: multiperspektivisch erzählen.

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