"Bescheiden im Hintergrund"

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Atomwaffen und Atomenergie, diese beiden siamesischen Zwillinge, haben im Dezember 1938 mit der Entdeckung der Kernspaltung ihre Geburtsstunde erlebt. Den Nobelpreis für diese Entdeckung erhielt Otto Hahn im Jahre 1944. Aus dieser Würdigung geht nicht hervor, daß eine Frau, die Physikerin Lise Meitner, wesentlichen Anteil an der Entwicklung der entscheidenden Experimentehatte. Wie sie damals - als Frau in der Naturwissenschaft - arbeitete, zeigen Zitate aus Otto Hahns Selbstbiographie ,,Mein Leben".

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Die Zusammenarbeit zwischen Otto Hahn und Lise Meitner geht bis ins Jahr 1907 zurück, als "Dr. Lise Meitner. . . aus Wien nach Berlin gekommen war, um sich bei Geheimrat Max Planck in theoretischer Physik weiter auszubilden". Hahn war zu dieser Zeit am Chemischen Institut der Universität Berlin in einem Labor, das eine ehemalige Holzwerkstatt war, mit der Untersuchung radioaktiver Substanzen beschäftigt.

"Der Start für Lise Meitner war zunächst nicht leicht. Emil Fischer (der Chef des Chemischen Instituts) nahm damals Akademikerinnen noch nicht in sein Institut auf. Unterder Bedingung, daß Dr. Meitner sich in den Experimentiersälen der Studenten nicht zeigen durfte, machte er ihr eine Konzession: Sie durfte in der Holzwerkstatt arbeiten. Von Gemeinsamkeiten zwischen uns, außerhalb des Instituts, konnte keine Rede sein. Lise Meitner hatte noch ganz die Erziehung einer höheren Tochter genossen, war sehr zurückhaltend und fast scheu. Währendich mit meinem Kollegen Franz Fischer täglich zu Mittag aß und wir an Samstagen und später auch mittwochs noch ins Kaffeehaus gingen, habe ich mit Lise Meitner viele Jahre lang außerberuflich nie zusammengesessen. Wir sind auch nicht gemeinsam spazierengegangen. Abgesehen von physikalischen Kolloquien begegneten wir einander nur in der Holzwerkstatt. Dort haben wir meist bis kurz vor 8 Uhr gearbeitet, so daß mal der eine, mal der andere in die Nachbarschaft laufen mußte, um schnell noch Aufschnitt oder Käse zu kaufen, denn um 8 Uhr schlössen die Läden. Niemals wurde das Eingekaufte gemeinsam verzehrt. Lise Meitner ging nach Hause, und ich ging nach Hause. Dabei waren wir doch herzlich miteinander befreundet. 

Ich erinnere mich, daß Lise Meitner einmal starke Sitz- und Gehbeschwerden hatte und offenbar große Schmerzen aushalten mußte; sie hatte, wie sie mir sagte, einen Furunkel am Fuß. Monate später sagte mir ein Bekannter: ,Die Lise Meitner hatte einen unangenehmen Furunkel an einer Stelle, die sie Ihnen wohl nicht genannt hat. Deshalb konnte sie so schlecht sitzen und hatte solche Schmerzen.'" 

Diese Schilderung Otto Hahns zeigt wohl sehr plastisch die verklemmte Atmosphäre, die auch heute noch manchen Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Arbeit bestimmt. Sie zeigt ferner den Ausschluß der Frauen von informellen Kontakten, von all dem, was außer und neben der Arbeit passiert und wo gewöhnlich die wichtigsten Dinge ausgekungelt werden. Lise Meitner betätigte sich, was Geselligkeit anbelangte, in anderer Weise:  "Eine angenehme Unterbrechung der wissenschaftlichen Arbeiten ergab sich 1908. Mein verehrter Lehrer Rutherford (. . .) kam (. . .) mit seiner Frau für einige Tage nach Berlin. (. . .) Während Frau Rutherford - teilweise in Begleitung von Lise Meitner - Weihnachtseinkäufe in Berlin tätigte, führte Rutherford lange Gespräche mit mir. Er fragte mich nach meinen Aussichten für die Zukunft, (. . .)." 

Mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (der Vorgängerin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften) nahmen die Naturwissenschaften einen großen Aufschwung. Die Einweihung des Kaiser-Wilhelm-lnstituts für Chemie in Berlin-Dahlem am 12. Oktober 1912 beschreibt Otto Hahn folgendermaßen:

"Ich sollte dem Kaiser ein paar schöne radioaktive Präparate zeigen. Es war natürlich ganz unmöglich, Majestät einen völlig verdunkelten Raum betreten zu lassen. Die unterschiedlich stark leuchtenden Mesothoriumpräparate und die Thoriumemanation waren aber nur im Dunkeln zu erkennen. Wir um gingen die Bedenken des Flügeladjutanten, indem wir ein kleines rotes Lämpchen installierten. Nun war die Dunkelheit nicht mehr absolut, und alles vollzog sich programmgemäß. Auch die bescheiden im Hintergrund stehende Lise Meitner wurde vom Kaiser mit ein paar freundlichen Worten kurz begrüßt." 

Lise Meitner hatte sieben Jahre lang ohne Gehalt gearbeitet: "Für ise Meitner trat 1914 eine Änderung ihrer Stellung am Institut ein. Sie bekam aus dem damals österreichischen Prag das Angebot einer festen Anstellung an der dortigen Universität. Diese Anerkennung ihrer Arbeiten war Anlaß, daß Lise Meitner nun auch am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie als Wissenschaftliches Mitglied eine bezahlte Stelle erhielt. Vorher war sie unbezahlter Gast des Instituts gewesen." In der Mitte der dreißiger Jahre begannen Otto Hahn und Lise Meitner mit den Neutronenversuchen, die schließlich zur Entdeckung der Kernspaltung führten. Unterdessen aber waren die Nationalsozialisten an die Macht gekommen, und Lise Meitner war Jüdin: "Professor Lise Meitner waren während der ersten Jahre keinerlei Schwierigkeiten gemacht worden, denn sie war Österreicherin und als solche geschützt. (. . .) Nun aber war das Jahr 1938 gekommen, Hitler war in Wien einmarschiert, Österreich war Deutschland einverleibt worden. Jetzt wurde auch Lise Meitners Lage kritisch." Nachdem der Versuch fehlgeschlagen war, ihr die offizielle Ausreise zu ermöglichen, sahen ihre Kollegen nur noch einen Ausweg:,,(. . .) wir beschlossen, unsere Kollegin so schnell wie möglich illegal über die Grenze zu bringen. (. . .) Am Morgen des 17. Juli fuhr Lise Meitner in aller Heimlichkeit (. . .) dem sehr unsicheren Tag entgegen. (. . .) sie kam über die Grenze und war gerettet." 

Otto Hahn führte, nachdem Lise Meitner Berlin verlassen hatte, zusammen mit seinem Mitarbeiter Fritz Straßmann die Experimente weiter, die nur fünf Monate später zur Entdeckung der Kernspaltung führten und ihm den Nobelpreis einbrachten. Als Otto Hahn den Preis in Stockholm entgegennahm (es war erst im Jahre 1946), traf er wieder mit Lise Meitner zusammen: "Zuvor hatte ich aber noch eine recht unglückliche Unterhaltung mit Lise Meitner, die meinte, ich hätte sie damals nicht aus Deutschland fortschicken dürfen. Dieser Mißklang war wohl auf eine gewisse Enttäuschung zurückzuführen, daß ich den Preis allein bekommen hatte. Darüber habe ich mit Lise Meitner zwar nicht gesprochen, wohl aber gaben es mir einige ihrer Bekannten auf eine wenig freundliche Weise zu verstehen. An dieser Entwicklung war ich aber damals wirklich unschuldig gewesen; ich hatte doch nur das Wohl meiner geschätzten Kollegin im Auge gehabt, als ich ihre Emigration vorbereitete.Und schließlich war mir der Preis nur für Arbeiten zuerkannt worden, die ich allein oder gemeinsam mit meinem Kollegen Fritz Straßmann durchgeführt hatte, und Lise Meitner ist für ihre Leistungen in den USA mehrfacher Ehrendoktor und sogar einmal ,Frau des Jahres' geworden."   

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