Die Französinnen kommen!

Leïla Slimani, Virginie Despentes, Saphia Azzeddine und Marie NDiaye (v.li.)
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Virginie Despentes ist älter geworden. Das sagt sie selbst. Nicht, dass sie sich distanzieren wolle von dem, was sie früher schrieb, als sie Mitte zwanzig war und 1993 ihr Debütroman „Baise-moi“ (Fick mich) erschien: die wütende, harte, obsessive Geschichte zweier männermordender Frauen. Aber sie habe sich eben weiterentwickelt, sie sei reifer geworden – so formulierte sie es kürzlich in einem Interview, das banal klang und kaum der Rede wert wäre, wenn sich diese Entwicklung nicht so wunderbar in den Romanen nachvollziehen ließe, die Virginie Despentes in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat.

Auch die Figuren in ihrer Trilogie „La vie de Vernon Subutex“ (Das Leben des Vernon Subutex) sind in die Jahre gekommen. Vernon, der Titelheld, ist ein Mittvierziger, der einst einen legendären Plattenladen betrieb und nach dessen Schließung zusieht, wie ihm das Geld ausgeht, wie er seine Wohnung verliert und bei Freunden um Unterschlupf bitten muss. Vorbei ist die Zeit von Sex, Drugs und Rock’n’Roll, nicht nur bei ihm, sondern im Grunde bei allen, denen er beim Couchsurfing durch Paris wieder begegnet. Stehempfänge haben die wilden Partys abgelöst, große Lieben geistern nur noch durch Erinnerungen, Therapeuten verdienen mehr als Dealer.

In Frankreich erscheinen zahlreiche Romane mit einer drastischen Darstellung weiblicher Sexualität.

Die Gesellschaft, deren Panorama Virginie Despentes in ihrer fulminanten Subutex-Trilogie entwirft, ist zersetzt von Ängsten, Zwängen und Lügen, ihre Figuren sind kleinlich und aggressiv, oft aber auch wie betäubt, jedenfalls weit entfernt von jenem Furor, mit dem die beiden Heldinnen in „Baise-moi“ einst fickend und tötend durch Frankreich tobten.

Dabei zeigt ein Blick auf die neuere französische Literatur, dass die Bresche, die seit den neunziger Jahren nicht nur Despentes, sondern auch Autorinnen wie Christine Angot, Catherine Breillat und Catherine Millet mit ihren derben, pornografischen, von vielen als skandalös empfundenen Büchern schlugen, noch längst nicht ausgetreten ist. Nach wie vor erscheinen in Frankreich zahlreiche Romane, die – vor allem, wenn es um Frauen geht – mit der Erwartung spielen, dass eine möglichst drastische Darstellung weiblicher Sexualität das lesende Publikum schockieren und folglich auch interessieren wird. Anders lässt sich etwa ein Debütroman wie „Lola“ von Julie Estève nicht verstehen.

Im vergangenen Jahr in Frankreich erschienen, erzählt das Buch von einer jungen Frau, die nachts durch Paris stöckelt und jedem Mann, mit dem sie schläft, einen Fingernagel abknipst. Das Glas, in dem sie die Nägel sammelt, ist fast voll. Lola tut, was man als Klischee normalerweise den Männern zuschreibt: Sie betäubt den Schmerz über den Verlust geliebter Menschen mit Sex und Drogen und richtet sich auf diese Weise zugrunde.

Aber ist das noch in irgendeiner Weise originell? Denn über den Tabubruch hinaus, der ja längst keiner mehr ist, bewegt sich das Buch von Estève auch stilistisch auf allzu bekanntem Terrain. Ihre kurzen, oft harten Sätze klingen jedenfalls nicht wie das Klappern von Lolas Absätzen auf dem Asphalt, sondern eher wie das Echo jener Bücher von Despentes und all den anderen, die vor 20 Jahren für eine Empörung sorgten, die sich heute nicht mehr einstellen mag.

Anders verhielt es sich dagegen mit dem Debütroman, den Leïla Slimani 2014 in Frankreich veröffentlicht hat. „Dans le jardin de l’ogre“ (etwa: Im Garten des Wüterichs) ist ein in Literatur gegossener Menschenversuch: Was geschieht mit einer Frau, für die Sexualität weder Vergnügen noch Ablenkung, sondern Sucht darstellt? Und was treibt Menschen wie sie, für diese Sucht ihre bürgerliche Existenz aufs Spiel zu setzen? Ein doppelter Boden, den sie umgekehrt auch in ihren zweiten Roman eingezogen hat.

Denn ihr im vergangenen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Psychothriller „Chanson douce“ (der im Deutschen unter dem Titel „Dann schlaf auch du“ erscheint) erzählt vom Mord eines Kindermädchens an ihren Schützlingen. Hinter dieser real passierten Geschichte zeichnet Slimani das Psychogramm einer hochkomplexen Beziehung, in der die Nöte zweier Frauen aus unterschiedlichen Klassen aufeinander stoßen: Hier die Kinderfrau, die den Reichtum, der ihr verwehrt ist, stets vor Augen hat; zugleich aber das Kostbarste ihr Eigen nennt, was die Familie besitzt: die Kinder. Dort die Mutter, die ein ewiger Schmerz quält, weil sie aus der Sorge um ihre Kinder eine Arbeit macht, für die sie bezahlt, ohne wirklich kontrollieren zu können, wie diese Arbeit eigentlich ausgeführt wird. Ein alltägliches Problem, sollte man meinen; trotz der Hunderttausenden von Frauen, die nicht nur in Frankreich das Problem haben. Aber ein Problem, das in der Literatur nur selten so messerscharf seziert worden ist wie bei Leïla Slimani.

Über Frauen und ihre spezifischen Lebensumstände schreibt auf besonders deutliche Weise auch Saphia Azzeddine, die wie Leïla Slimani aus Marokko stammt. Zwei ihrer sechs veröffentlichten Romane spielen in der arabischen Welt. Die „Confi-dences à Allah“ (Zorngebete) in Marokko, wo eine junge Frau ein Martyrium erlebt, das sie in Form einer Anklage an Allah ausbreitet. Als Mädchen vergewaltigt und von der Familie verstoßen, lernt die Erzählerin Jbara notgedrungen, sich als Frau allein durchzuschlagen. Sie prostituiert sich, unterwirft sich und rächt sich, aber selbst ihre Rache wirkt noch angepasst im -Vergleich zu dem, was sie erleidet.

Wer in das Essen spuckt, das er serviert, wird dem lieben Gott keine Angst machen. Ihm aber gilt ihre ganze Wut. Weil er, der doch gerecht sein soll, einem Mädchen wie ihr nur die Wahl zwischen Pest und Cholera lässt. Ganz ähnlich wie in ihrem anderen Roman „Bilqiss“ versucht Saphia Azzeddine in ihrer Gottesanklage letztlich die Grenzen dessen auszuloten, was Frauen in einem frauenfeindlichen, kulturellen Kontext aushalten müssen. Ihre Heldin in „Bilqiss“ erduldet Peitschenhiebe und öffentliche Demütigung, weil sie es wagt, ihren Richter herauszufordern.

Ihr Vergehen: Sie hat anstelle des betrunkenen Muezzin zum Gebet gerufen. Außerdem besitzt sie Stöckelschuhe, Schminke und einen scharfen Verstand, genug, um ihr den Prozess zu machen. Sie erträgt ihn mit Stolz und Würde. Aber auch mit einem rebellischen Geist, der sie ständig in noch größere Gefahr zu bringen droht. In eine Gefahr allerdings, die sie von außen zu zerstören, nicht von innen zu zersetzen droht. Und die sie somit ganz wesentlich von anderen, noch weitaus bekannteren Heldinnen der französischen Literatur unterscheidet.

Es fällt auf, dass die weiblichen Stars der französischen Literaturszene meist aus der Fremde kommen oder aber Fremde, Entwurzelte sind. Am stärksten trifft dieses Moment der Fremdheit wohl auf Marie NDiaye zu. Sie ist zwar in Frankreich aufgewachsen und die Tochter einer weißen Französin – aber sie ist tiefschwarz, da ihr Vater ein Senegalese ist. Das heißt: Zwischen ihr und den scheinbar Vertrauten neben ihr ist immer ein Luftzug, eine Distanz – die sie scharf hinsehen lässt.

Es geht um Frauen und ihre spezifischen Lebensumstände, um Wut und um Abhängigkeiten.

Die Meisterin in der Beschreibung psychologischer Abhängigkeiten ist 2009 für ihren Roman „Trois femmes puissantes“ (Drei starke Frauen) mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden, und seitdem sind gerade ihre Frauenfiguren in aller Munde. Ihren drei Protagonistinnen in ihrem preisgekrönten Roman verweigert Marie NDiaye jede Form von Selbsterfüllung konsequent. Wie eigentlich immer geht es ihr auch in diesem Buch um die fein gesponnenen Netze aus Erinnerungen, Hoffnungen und Lügen, die alle Beziehungen durchziehen, wobei sich die Frauen in diesen Netzen stärker verstricken als die Männer: Norah hat sich in Paris als erfolgreiche Anwältin eine Existenz aufgebaut, die augenblicklich zusammenbricht, als sie in Dakar in die Fänge ihres Vaters gerät. Fanta folgt ihrem Mann aus Afrika in die französische Provinz, in der sie entwurzelt zugrunde geht. Und Khady, die als kinderlose Witwe keine Chance auf Anerkennung in ihrer afrikanischen Gemeinschaft hat, stirbt bei dem Versuch, einen Grenzzaun nach Europa zu überqueren.

Sie alle aber, und das eint sie mit so vielen anderen Frauen in dem umfangreichen, komplexen Werk von Marie NDiaye, ertragen ihre Schicksale mit einer inneren Festigkeit, mit einer stoischen Ruhe, die nichts gemein hat mit den gewitzten, aufrührerischen Frauen in den Büchern von Saphia Azzeddine. Es verbindet sie auch nichts mit den Protagonistinnen bei Leïla Slimani, die so häufig als Opfer von Zwängen erscheinen, denen sie nicht entkommen. Und sie erinnern schon gar nicht an jene Frauen, die uns Virginie Despentes in ihrem jüngsten Epos als Wracks vorführt, die mit 40 vor den Trümmern ihrer einst rauschhaften Existenzen stehen.

Die Frauen bei Marie NDiaye sind nicht besser dran als die anderen. Aber sie sind mit einer Feder gezeichnet, der nichts entgeht, keine Enttäuschung, keine Niederlage, keine Wahrheit, und die trotzdem (oder deswegen) eine Poesie verströmt, die stets für Verständnis zu werben scheint. Marie NDiaye verrät ihre Figuren nie. Von all den Frauen, die in Frankreich dieser Tage über Frauen schreiben, ist sie diejenige, die ihnen am treuesten zur Seite steht. Auch wenn sie scheitern. Und das tun sie meistens, nicht nur bei ihr.

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