Clara Immerwahr: Die Chemikerin

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Jede Chemikerin, jeder Chemiker kennt Fritz Haber (1868-1934). Der deutsche Nobelpreisträger für Chemie machte sich nicht nur einen Namen als Miterfinder des ,,Haber-Bosch-Verfahrens" zur Ammoniak-Synthese, sondern auch als "Vater des Gaskriegs". Im Ersten Weltkrieg stellte der Chemiker seine Wissenschaft voll "in den Dienst des Vaterlandes", wie er sich ausdrückte. Er entwickelte die ersten chemischen Kampfstoffe auf Chlorbasis und überwachte deren Einsatz an Westfront (Ypern: 3.000 Tote, 7.000 Verletzte) und Ostfront (Bzura-Rawka: 6.000 Tote, 3.000 Verletzte). Hauptmann Haber trug dabei eine selbstentworfene und eigens für ihn geschneiderte Uniform.

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Außer dem Vaterland diente Haber auch der deutschen Industrie. Mit seiner Giftgasproduktion sorgte Haber nämlich für eine gewinnbringende Verwertung des bei der Farbstoffherstellung abfallenden Chlors. Eine Arbeitsgruppe der Gewerkschaft ÖTV in Berlin hat 1986, aus Anlass der 75-Jahr-Feier des dortigen Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft, diese Zusammenhänge dokumentiert. Dabei enthüllten die Gewerkschafterinnen auch, dass Haber neben den toten Soldaten des Gaskriegs noch ein Menschenleben auf dem Gewissen hat: das seiner Kollegin und Ehefrau Clara. Nachfolgend ein Auszug aus der ÖTV-Broschüre "...im Frieden der Menschheit, im Kriege dem Vaterland....":

Lieber noch zehn Doktorarbeiten, als diese Qual

Clara Immerwahr wurde am 21.6.1870 in Polkendorf in Schlesien geboren. Mit 26 Jahren begann sie das Studium der Chemie bei Prof. Richard Abegg in Breslau, das sie im Jahr 1900 mit der Promotion auf dem Gebiet der physikalischen Chemie beendete. Anschließend arbeitete sie bei Prof. Küster in Clausthal. Ihre Untersuchungen führten zu einigen Veröffentlichungen und einer Patentanmeldung.

Fritz Haber hatte sie noch während ihrer Schulzeit in der Tanzstunde kennengelernt; damalige Heiratsabsichten Habers scheiterten am Einspruch seines Vaters. Erst im Jahr 1901 sahen sie sich zufällig auf einem wissenschaftlichen Kongress in Freiburg wieder. Haber erneuerte sein Heiratsersuchen. Mit der Bemerkung, sie sei zum Heiraten nicht geeignet, lehnte sie zunächst ab, willigte wenig später aber doch ein. Statt der Erfüllung der Tanzstunden- und Jugendliebe machte sich auf beiden Seiten schon bald Enttäuschung breit.

Im Gegensatz zu dem, was von einer Frau Geheimrat gesellschaftlich erwartet wurde, trug sie "schlampig wirkende Reformkleider", wie sie von der Frauenbewegung der Jahrhundertwende propagiert wurden. Diese Kleider sahen unter anderem den Verzicht auf Korsetts und die ersten Hosen für Frauen vor.

Am 1. Juni 1902 kam ihr einziges Kind Hermann nach einer schweren Schwangerschaft zur Welt, über die sie in einem Brief an ihren Doktorvater und langjährigen Freund Richard Abegg schrieb: ,,(...) lieber noch zehn Doktorarbeiten machen, statt sich so quälen zu müssen.'' Auch nach ihrer Heirat blieb das Bedürfnis, wissenschaftlich tätig zu sein,, ,aber zum Arbeiten im Laboratorium werde ich wohl kaum mehr gelangen, denn mein Tag ist mit Arbeit reichlich ausgefüllt. Vielleicht später einmal wieder, wenn wir Millionäre sind und uns eine .Dienerschaft' halten können. Denn ganz darauf verzichten kann ich selbst in Gedanken nicht."

Die unglück- selige Weichheit wurde zum Verhängnis

Nicht ohne den Charme einer lebenslustigen, jungen Frau diskutierte sie in den Briefen an ihren Doktorvater seitenlang Probleme der physikalischen Chemie: "Wahrscheinlich ist das eben Geschriebene wieder 'mal ein großer Unsinn; aber ich muss es doch Herrn Prof. sagen, wenn ich etwas nicht klar habe. PS2: Wieso haben Herr Professor eigentlich noch keinen Stempel für die Straßburger Adresse. PS3: Warum degradieren mich der Herr Professor zum .gnädigen Fräulein'. PS4: Wenn ich heute frech bin, dann kommt das nur davon her, dass ich mich so blödsinnig gefreut habe.'' Die "unglückselige Weichheit", die sie sich selbst attestierte, sollte ihr schließlich in den Auseinandersetzungen mit Haber zum Verhängnis werden. ,Mir scheint aber, dass ich das nicht ändern kann, und Sentimentalität ist es jedenfalls nicht, weil ich es jederzeit innerlich noch tiefer fühle, als ich es äußerlich zu erkennen gebe." Im Jahre 1909, jenem Jahr, in dem Haber seine Ammoniaksynthese erfolgreich bei der BASF vorstellte, schrieb sie an Abegg:

"Gedenken Sie auch des anderen Teils! Was Fritz in diesen 8 Jahren gewonnen hat, das - und noch mehr - habe ich verloren, und was von mir übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit. Es war stets meine Auffassung vom Leben, dass es nur dann wert gewesen sei, gelebt worden zu sein, wenn man alle Fähigkeiten zur Höhe entwickelt und möglichst alles durchlebt hat, was ein Menschenleben an Erlebnissen bieten kann. Und so habe ich damals schließlich auch mit unter dem Impuls mich zur Ehe entschlossen, dass sonst eine entscheidende Seite im Buch meines Lebens und eine Seite meiner Seele brachliegen bleiben würde. Der Aufschwung, den ich davon gehabt, ist aber sehr kurz gewesen, und wenn ich einen Teil des Minus-Facits auf Neben-Umstände und eine besondere Anlage meines Temperaments schieben muss, so ist der Hauptteil zweifellos auf Fritzens erdrückende Stellungnahme für seine Person im Haus und in der Ehe zu schieben, neben der einfach jede Natur, die nicht noch rücksichtsloser sich auf seine Kosten durchsetzt, zugrunde geht. Und das ist mit mir der Fall. Und ich frage mich, ob denn die überlegene Intelligenz genügt, den einen Menschen wertvoller als den anderen zu machen, und ob nicht vieles an mir, was zum Teufel geht, weil es nicht an den rechten Mann gekommen ist, mehr Wert ist, wie die bedeutendste Theorie der Elektronenlehre?"

Giftgas, eine Perversion der Wissenschaft

Und weiter: "Noch ein Wink in Bezug auf Fritz' Natur selbst. Wollte ich selbst noch mehr von dem bisschen Lebensrecht opfern, das mir hier in Karlsruhe geblieben ist, so würde ich Fritz zum einseitigsten, wenn auch bedeutendsten Forscher eintrocknen lassen, den man sich denken kann. Fritzens sämtliche menschliche Qualitäten außer dieser einen sind nahe am Einschrumpfen, und er ist sozusagen vor der Zeit alt."

Als Haber kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges beim deutschen Generalstab die Leitung der Einsätze chemischer Massenvernichtungswaffen übernahm, kam es zu einem unüberbrückbaren Bruch zwischen ihm und Clara Immerwahr. Giftgas war für sie "eine Perversion der Wissenschaft und ein Zeichen der Barbarei, (...) jene Disziplin korrumpierend, die dem Leben neue Einsichten vermitteln sollte". Demgegenüber vertrat Haber die Ansicht, dass "ein Wissenschaftler in Friedenszeiten der Welt gehört, im Krieg aber seinem Land".

Als Haber im Frühjahr 1915 nach den Gasangriffen bei Ypern nach Berlin zurückkehrte, spitzten sich die Konflikte zu. Er befand sich auf dem Weg zur Ostfront, um die Gaswaffe dort erneut zu erproben. Clara Immerwahr forderte ihn ultimativ auf, das Unternehmen abzubrechen, und drohte mit ihrem Freitod. Haber machte sich auf den Weg zur Front. Noch am selben Abend erschoss sich Clara Immerwahr.

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