PRO: 64-Jährige älteste Mutter Deutschlands

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Liebe Frau Unbekannt,

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denn Ihren Namen habe ich im Internet nicht gefunden, nur den Namen und das Foto Ihres Mannes. Sie sind trotzdem weltberühmt als "die älteste Mutter Deutschlands", weil Sie im vergangenen November mit sage und schreibe 64 Jahren in einer Aschaffenburger Frauenklinik ein Kind zur Welt gebracht haben. Eine medizinische Sensation.

Ich gratuliere Ihnen dazu nicht. Ich frage mich, wer oder was Sie bewogen hat, in Ihrem Alter noch ein Kind zu wollen. Der sehnsüchtige Wunsch? Der Triumph, zu beweisen, dass auch alte Frauen können, was alte Männer vollbringen: ein Kind zu kriegen?

Zugegeben, es ist eine biologische Ungerechtigkeit, dass die Fortpflanzungsfähigkeit bei der Frau so viel früher erlischt als beim Mann. Wissenschaftliche Experimente wie das Ihre werden das in Zukunft wohl ändern.

Ich kenne allerdings nur Frauen, mich selbst eingeschlossen, die ihren Monatszyklus erleichtert an den Nagel gehängt haben. Hat ja lange genug gedauert, die unbequeme, oft auch schmerzhafte Belästigung. "Unwohlsein" nannte man das früher. ("Meine Tochter ist unwohl und kann deshalb am Turnunterricht nicht teilnehmen" - Entschuldigungsbrief der Mutter.)

Also, Sie wollten das wieder. Sie haben sich dafür monatelangen, nicht ungefährlichen Hormonkuren unterzogen, um Ihre Geschlechtsorgane wieder aus dem Winterschlaf zu wecken. Da Ihre eigenen Eierstöcke die Produktion endgültig eingestellt hatten, haben Sie eine junge anonyme Frau gesucht und gefunden, die Ihnen Eizellen gespendet hat. Sie sind dann im Reagenzglas mit dem Samen Ihres ebenfalls 64-jährigen Mannes befruchtet und in Ihre Gebärmutter eingepflanzt worden. Tatsächlich hat sich ein Embryo in der Schleimhaut eingenistet. Beim wievielten Versuch, ist unbekannt. Auch der Ort, an dem der Versuch gemacht wurde.

In Deutschland ist die Fremdspende, die Sie zur "Leihmutter" gemacht hat, verboten. Die Prozedur ist also im Ausland vorgenommen worden, vielleicht in Spanien, Belgien oder der Türkei, wo sie erlaubt ist. Egal. Spielt in diesem Zusammenhang auch keine Rolle, was ein solcher Versuch kostet - schätzungsweise 10.000 bis 15.000 Euro.

Es war ein sensationeller Erfolg. In der Aschaffenburger Klinik sind Sie während Ihrer Schwangerschaft erschienen und haben um Hilfe gebeten. "Die haben wir selbstverständlich geleistet", sagt der Arzt. "Alles rechtlich einwandfrei", sagt der zuständige Aschaffenburger Chefankläger, "da in Deutschland keine Haupttat vorliegt. Das Kind ist hier nur zur Welt gekommen." Es war bei der Entbindung durch Kaiserschnitt 2.100 Gramm schwer und 46 Zentimeter groß. Ein Mädchen. Ihr Name ging ins Internet: Karya. Ein schöner Name.

Ich bin 76 Jahre alt. Ich stelle mir vor, ich wäre Karya. Ich hätte eine so viel ältere Mutter als die anderen Kinder, mit denen ich in die Schule komme. Wenn ich zwölf bin, ist sie, naja, 76. Uralt, oder vielleicht nicht?

Bittesehr, widerspricht mir jetzt jemand, es gibt Kinder, die wachsen bei den Großeltern auf, weil die Eltern verunglückt oder gestorben oder erziehungsuntauglich sind. Schon, aber das sind Notfälle, Schicksalsschläge, keine Wunscherfüllungen. Man kann anführen, dass in Mecklenburg eine drogensüchtige Mutter ihr Kind aus dem Fenster geworfen hat, was die Großmutter wohl nicht getan hätte. Schluss mit solchen Extrem-Vergleichen. Bleiben wir im realen Leben.

Ich habe selbst Kinder großgezogen und erinnere mich sehr gut an die Themen, die mich oft bis an die Grenzen überfordert haben. Als der 15-jährige Sohn mit der 14-jährigen Freundin zum Nordkap trampen wollte. Als er mit 17 die Schule schmeißen wollte und Haschisch rauchte. Als, als als ... Kinder sind keineswegs auf Dauer Objekte mütterlicher (und väterlicher) Wunscherfüllung.

Wenn Karya fünfzehn ist, sind Sie, die älteste Mutter Deutschlands, 79. Wenn Karya 18 ist, sind Sie 82. Ihr Mann übrigens auch. Als ich so alt war wie Sie jetzt sind - ich möchte nicht dauernd diese Zahlen vorrechnen - habe ich gelegentlich ein Enkelkind gehütet. Einmal sagte ich mittags: "Benni, jetzt legen wir uns ein bisschen hin." Der Dreijährige strahlte mich an: "Ach, Oma, das bringt doch nix." Also stand ich auf dem Spielplatz am Klettergerüst mit schmerzenden Beinen, die ich gerne hochgelegt hätte. "Oma, komm doch auch rauf!", und ich kletterte bis zur fünften Sprosse. Morgen, dachte ich, bist du wieder bei der Mama.

Doch die kleine Karya bleibt. Wird groß und bleibt. Muss bleiben. Nein, ich gratuliere nicht. Weil ich nämlich nicht in einem Altersheim aufwachsen wollte, wenn ich Karya wäre.

Die Autorin schreibt in der Regel für Brigitte

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