Meine Geschichte

Der goldene Schrein

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Mein Praktikum als Medizinstudentin führte mich eines Tages in die Klinikbibliothek. Meine Kommilitonin und ich durchstöbern Regale mit Fachliteratur, bis wir eine kleine Vitrine entdecken: Bücher über Frauenrechte, Belletristik, Fachbücher und ein Stapel der Zeitschrift EMMA.

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Wir kichern leise. EMMA – ist das nicht die Zeitschrift von dieser verrückten Feministin Alice Schwarzer? Wir schminken uns gerne, shoppen und lieben Sex. Und trotzdem sind wir unabhängig, selbstbestimmt, klug und werden Arzt. Warum meint diese Frau, das sei nicht vereinbar, wir würden uns zu Objekten machen?

Ich nehme eine EMMA, lege sie neben meine Medizinbücher auf den Tisch. Nach einer Weile reizt mich der Gedanke, mich über die extremen feministischen Ansichten lustig zu machen. Ich beginne zu lesen. Der erste Artikel ist gar nicht mal so schlecht. Der zweite … interessant! Der dritte bewegend. Am nächsten Tag nehme ich mir wieder eine EMMA aus dem Schrank.

Die Tage vergehen, bis die kleine Vitrine zum goldenen Schrein wird und die EMMA die Lernbücher vollends verdrängt hat. Die Zeit in der Bibliothek wird zu einem Gefühlsstrudel: Wut über Männer, die Frauen vergewaltigen; Mitleid mit Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden; Respekt vor ungewöhnlichen Karrieren; Angst vor dem Frauenbild, das unseren Kindern vermittelt wird.

Ich teile weiterhin nicht alle Ansichten und bin trotzdem erstaunt, wie klug die Gedanken der Artikel sind. Ich hinterfrage mein Handeln, das Handeln anderer und merke auf einmal, dass ich vieles als normal hinnehme, was eigentlich respektlos ist. Ich trage zwar einen weißen Kittel und doch sieht jeder zuerst mein blondes Haar. Natürlich bin ich gerne hübsch, aber warum sollte das bei Frauen umgekehrt proportional zu ihrer Kompetenz sein?

Die Klinik verweiblicht, weshalb Sexismus hier kein großes Thema sein sollte. Oder? Wir gehen also gut gelaunt zurück auf unsere Station. Da erwartet uns der Arzt, der uns auf die Brüste starrt; der Pfleger, der uns an Berlusconi verkaufen möchte (haha); der Patient, der uns erklärt, dass sein scrotaler Abszess von Geschlechtsverkehr mit einer afrikanischen Frau herrührt. Und alle fünf Minuten hören wir den Satz: „Oh, ihr seid aber zwei hübsche Blondinen“.

Warum fällt mir das erst jetzt auf?  

Nina K.

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