Krieg: Atombombe, na und?

Ohne Worte. Foto: pixabay
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„Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen, dann soll es halt so sein!“, so sprach die in Lemberg geborene Sängerin Mariana Sadovska schon im März 2022 bei einer Einladung im Bundeskanzleramt. Sie warf der NATO vor, aus Furcht vor atomarer Vergeltung keine Flugverbotszone über der Ukraine auszurufen. (telepolis, 31. März 2022)

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„Nicht die Bombe ist die Waffe, sondern die Angst vor der Bombe ist die Waffe”, erklärte ebenfalls im März 2022 Florence Gaub, stellvertretende Direktorin des Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (EUISS), in der Talkshow von Markus Lanz. Die Atombombe sei sowieso nur zweimal und vor langer Zeit in Japan zum Einsatz gekommen. Daraus folgert Gaub: „Das heißt, wir reden nur über Theorie.“ Sie fordert uns zum Nachdenken auf: „In dem Moment, wo Sie Angst kriegen, sollten Sie sich vielleicht fragen: Ist das vielleicht genau das, was Putin erreichen will?“

Bei den Drohungen mit einem Atomschlag ist doch klar, dass Putin blufft

„Putin hat seine Karten zu früh verspielt”, so jubelt ein gutes Jahr später in Maybrit Illners Talkshow vom 9. Juni 2023 die Osteuropaexpertin Liana Fix von der amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations. Deshalb sei die US-Regierung nun viel lockerer als zu Beginn des Krieges. „Drohnenangriffe auf russisches Gebiet würden in der US-Hauptstadt als Teil der taktischen Kriegsführung akzeptiert“, so wird Frau Fix von t-online zitiert. Und weiter: „Bei den sehr frühen Drohungen mit einem Atomschlag sei klar gewesen, dass Putin bluffte. Mit jedem weiteren Bluff habe sich die Haltung der US-Regierung entspannt.“ Der Studiogast Christian Mölling, bekannter Bellizist, verlangt in der Sendung wieder mal, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen wird.

Henry Kissinger, in seinen aktiven Jahren als Außenminister vor keinem für die USA als vorteilhaft eingeschätzten Krieg zurückschreckend, warnte allerdings schon 2014 vor einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. In einem Interview kurz vor seinem Tod im Jahr 2023 mit der sonst so verlässlich kriegsunterstützenden Zeit sagte Kissinger: „Ich nehme an, Putin wird Atomwaffen nicht zu taktischen Zwecken in der Ukraine einsetzen. Aber sobald russisches Territorium bedroht würde, oder etwa Sewastopol … je mehr es um den Kern der russischen Identität geht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er es tut.“

Die deutschen „Kriegsexperten“ aber bleiben angstfrei, zum Beispiel die Publizistin Liane Bednarz, die am 26. März 2023 in t-online auf das von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierte „Manifest für den Frieden“ so reagiert: „…hat jeder Schritt, den die Briefschreiber nicht wollten, der dann aber doch gegangen wurde, evident nicht zu einem Einsatz von (taktischen) Atombomben geführt. Weder die Lieferung von Schützenpanzern, weder das Trainieren ukrainischer Soldaten im Westen an westlichen Waffensystemen noch jetzt die Zurverfügungstellung von 67 Leopard-2-Kampfpanzern.“ Tausend Mal ist nichts passiert? Das ist tatsächlich der „Beweis“ für Frau Bednarz und andere kraftstrotzende Kommentatoren, die hämisch-höhnisch auf die Nicht-Reaktion aus Russland verweisen. Hm. Kennen Sie den Witz von dem Mann, der von einem 60-stöckigen Hochhaus fällt und im Vorbeisturz am zehnten Stock denkt: „Bis jetzt ist alles gut gegangen!“

Roderich Kiesewetter will russische Militäreinrichtungen zerstören

Also weiter ran an den Feind, und zwar so rabiat, wie es der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter im Interview mit der Deutschen Welle vom 9. Februar 2024 verlangt: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“

Auweia! Bei diesem Tonfall wäre einem beinahe ein „Jawoll, mein Führer!“ herausgerutscht. Oder doch ein bisschen Armageddon? Und wer oder was stört jetzt schon wieder die angstfreie NATO-Eskalation? „Im Herbst 2022 stand die Welt am Rande eines Atomkriegs“, so schreibt Wolfgang Michal am 14. März 2024 im Freitag. „Zum ersten Mal seit den Tagen der Kubakrise 1962. Das enthüllten jetzt gemeinsam die New York Times und der Sender CNN“ … „US-Präsident Joe Biden war am 6. Oktober 2022 von seinen Geheimdiensten darüber informiert worden, dass hohe russische Militärs aufgrund des ukrainischen Vormarschs in Richtung Krim den Einsatz taktischer Atomwaffen erwägen würden. Biden war alarmiert. Er fürchtete eine Eskalation zum nuklearen ,Armageddon‘. Der Nationale Sicherheitsrat trat zusammen, es wurden Notfallpläne für den Ernstfall ausgearbeitet … Die Krise endete, als die ukrainische Offensive steckenblieb.“

Im Februar 2024 wiederholte sich das Drama, so Michal. „Erneut wurden Gespräche russischer Militärs über einen möglichen Atomwaffeneinsatz abgefangen. Auslöser waren das lose Gerede in einigen NATO-Staaten über den Einsatz bunkerbrechender Raketen gegen Ziele in Russland sowie zunehmende Forderungen nach NATO-Bodentruppen. Die Russen, so die US-Beamten, meinten ihre Atomdrohungen ernst.“

Hätte man jetzt doch ein bisschen Angst haben müssen? Ist es nicht zu gewagt, immer weiter zu eskalieren? Sollte man sich etwa in Sachen Taurus und Krimbrückenzerstörung zurückhalten, wie es nun sogar der ansonsten waffenlieferwillige Kanzler Scholz tut? Um noch einmal Wolfgang Michal zu russischen Atomdrohungen zu zitieren: „… unsere auf Kampf gebürsteten Politiker mit den heroischen Ukraine-Fähnchen am Revers halten das für Bluff. Die Leichtfertigkeit, mit der sie eine Eskalation herbeiquatschen, spiegelt sich auch in halbstarken Medienkommentaren… ARD und ZDF, Spiegel, Zeit, SZ, FAZ und Welt überbieten sich in wütenden Anti-Scholz-Tiraden: der ,Defätist‘, der ‚Illusionist‘, der ‚Schwächling‘, ,der Friedenskanzler, über den Putin lacht.‘“

Um nur mal – neben den schon Genannten – einige politische Anführer und Anführerinnen zu nennen, die sich als wütende bellizistische Meute aufführen: Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Markus Söder (CSU), Friedrich Merz, Norbert Röttgen und Thorsten Frei (CDU); Michael Roth (SPD) und natürlich die grüne Kampfriege mit Omid Nouripour, Katrin Göring-Eckardt, Sara Nani, Agnieszka Brugger oder Anton Hofreiter. Dumpf und unablässig trommeln sie, im Zusammenspiel mit den von Wolfgang Michal erwähnten Medien, weiter für maximale Aufrüstung. Und da kommt einem in den Sinn – journalistisch natürlich fragwürdig, aber so rumort es einem halt im Kopf! – jene resignierte Reaktion, mit der Karl Valentin seinen Buchbinder-Wanninger-Sketch beendet: „Saubande, dreckerte!“

Man kommt nicht an gegen das "wieder-Kriegstüchtig-Werden-Geschrei"

Aber man kommt leider nicht an gegen dieses Deutschland-muss-wieder-stark-und-kriegstüchtig-werden-Geschrei! Zu diesen Forderungen gehört natürlich auch die atomare Teilhabe, also die Fähigkeit, die bei uns in US-Depots gelagerten Atomsprengköpfe mit eigenen Flugzeugen ins Ziel zu bringen. (Hallo! Atomwaffensperrvertrag! Schon mal gehört? Wurde 1969 von der Bundesrepublik unterzeichnet und 1975 ratifiziert.)

In German Foreign Policiy vom 15. März 2024 heißt es: „Die deutsche Luftwaffe begrüßt die kürzlich bekannt gewordene Zertifizierung des US-Kampfjets F-35A für den Einsatz der künftig auch in Deutschland lagernden US-Atombomben B61-12. Die Zertifizierung sei ,wichtig für unsere Beschaffung‘ des F-35A, erklärt die Truppe. Die Bundesregierung hat 35 Exemplare des US-Tarnkappenjets bestellt, um mit ihm gegebenenfalls US-Kernwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe einsetzen zu können. Der Kaufpreis wird auf gut zehn Milliarden Euro geschätzt.“

Aber brauchen wir zusätzlich nicht auch noch europäische Atomwaffen? Ebenfalls auf der Seite von German Foreign Policy heißt es im Dezember 2023: „In Deutschland erstarkt die Forderung nach einer atomaren Bewaffnung der EU. Einem Plädoyer des in Berlin recht einflussreichen Publizisten Herfried Münkler, ,Europa‘ müsse ,atomare Fähigkeiten aufbauen‘, hat sich jetzt auch der ehemalige deutsche Außenminister Josef Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) angeschlossen: ,Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung.‘“… Und nochmal Münkler, der behauptet, „Frankreichs Force de frappe reiche nicht aus, weil man nicht sicher sein könne, ob Paris im Kriegsfalle wirklich dazu bereit sei, ,Litauen oder Polen zu schützen.‘“

Würde vielleicht London einspringen? Für den kriegsbewährten Joschka Fischer, der schon im Jahre 1999 in Jugoslawien das Völkerrecht gebrochen hat, wäre der Schutz selbst dann nicht ausreichend, wenn man auch auf das Ex-EU-Mitglied Großbritannien zählen könnte. Im Deutschlandfunk heißt es am 3. Dezember 2023: „Die Welt habe sich verändert, sagte Fischer ZeitOnline. Russlands Präsident Putin arbeite auch mit nuklearer Erpressung. Die Arsenale der westeuropäischen Atommächte Frankreichs und Großbritanniens seien als Antwort auf die veränderte Lage nicht ausreichend.“

Fischer ist allerdings Ex-Außenminister und somit bloß noch Hobby-Krieger (bis vor kurzem war er noch Lobbyist für den Finanzhasardeur Rene Benko), aber auch aktive deutsche Politiker werfen sich ins Rüstzeug. Am 14. Februar 2024 schreibt die Stuttgarter Zeitung über die SPD-Spitzenkandidatin zur Europawahl: „Barley bringt EU-Atomwaffen ins Gespräch.“ Und auch der CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber ist „offen für einen europäischen Nuklearschirm“, weil: „Europa muss militärisch so stark werden, dass sich keiner mit uns messen will.“

Zeit also für irrationale Maßnahmen? Alles klar für die Apokalypse?

Und wie will unsere Außenministerin Annalena Baerbock weiter vorgehen, nachdem es westliche Sanktionen nicht geschafft haben, Russland „zu ruinieren“? „Eigentlich hätten wirtschaftliche Sanktionen wirtschaftliche Auswirkungen. Das ist aber nicht so. Weil eben die Logiken von Demokratien nicht in Autokratien greifen“, sagte die eher logikfreie Grünenpolitikerin laut SpiegelOnline vom 24. August 2023 in einem Interview mit dem Journalisten Stephan Lamby für dessen Buch ,Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges‘.“ Und es folgt ein denkwürdiger Baerbock-Satz: „Wir haben erlebt, dass mit rationalen Entscheidungen, rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden ist.“ Zeit also für irrationale Maßnahmen? Alles klar für die Apokalypse?

Der Ukraine-Präsident Selenskyj hat noch viel früher über den Einsatz von Atomwaffen gegen Russland gesprochen respektive diesen gefordert. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland schreibt am 7. Oktober 2022 unter der Überschrift: „Selenskyj spricht von Nato-Präventivschlägen – Kreml warnt vor ,Drittem Weltkrieg‘“: „Die Nato ,muss die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch Russland ausschließen. Wichtig ist aber – ich wende mich wie vor dem 24. Februar deshalb an die Weltgemeinschaft – dass es Präventivschläge sind, damit sie wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden.‘ Er betonte: ,Nicht umgekehrt: Auf Schläge von Russland warten, um dann zu sagen: ‚Ach du kommst mir so, dann bekommst du jetzt von uns‘. Ein Selenskyj-Sprecher betonte umgehend, Selenskyjs Forderung sei falsch verstanden worden.“

Der Schriftsteller Eugen Ruge („In Zeiten des abnehmenden Lichts“) hat schon vor knapp zehn Jahren vorausgeahnt, was kommen würde. Am 8. Mai 2014 schreibt er in der Zeit: „Wieder einmal unterbreche ich meine Arbeit, weil mich die Nachrichten aus dem Gleichgewicht bringen; weil ich mich in den letzten Tagen mitunter frage, ob es sich für eine Zukunft zu schreiben lohnt, die vielleicht nicht stattfindet. Das klingt pathetisch, ich weiß. Ich stelle mich damit in die Reihe jener Mahner, die man, da die Welt ja noch existiert, heute für lächerliche Figuren hält. Niemand kann jedoch mit Bestimmtheit sagen, ob sie nicht eigentlich recht hatten.“

Dann erinnert Ruge an die Kuba-Krise und zieht die Linie zur Ukraine: „Wie wir heute wissen, gab es eine politische Eskalation, die um ein Haar zum Krieg zwischen den Supermächten geführt hätte, nämlich als 1962 die Sowjetunion ihre Atomwaffen nach Kuba brachte und damit den USA bedrohlich nahe rückte. Eine solche Situation haben wir heute wieder. Nur umgekehrt. Die Situation in der Ukraine eskaliert, und es gehört nicht viel Prophetie dazu, vorauszusagen, dass die Eskalation rasch fortschreiten wird.“ Ruge macht für die Ukraine-Krise von 2014 vor allem die EU verantwortlich. Was Russland betrifft, erklärt er: „Auch heute ist Russland alles andere als eine Musterdemokratie, und ich wäre, wenn ich in Russland leben würde, vermutlich ein Putin-Gegner. Ob die Werte, die die EU – diese EU – vertritt, es allerdings wert sind, bei Risiko eines Krieges anderen Kulturen und Völkern übergestreift zu werden, möchte ich bezweifeln.“

In diesem Krieg wird es keinen Sieger geben, einen Sieg sollte man sich nicht wünschen

„Im Grunde führen die USA bereits Krieg gegen Russland“, schreibt Ruge. Schreibt dies im Jahr 2014! Sein prophetischer Text endet eher pessimistisch: „In diesem Krieg wird es keinen Sieger geben, und selbst ein Sieg wäre etwas, das man sich lieber nicht wünschen sollte.“ Ruge fährt fort: „Die Chance der EU, noch Einfluss zu nehmen, ist sehr gering. Obendrein wird der Konflikt mit jedem Tag mehr Hass und Elend schaffen, sodass eine Umkehr immer schwieriger wird… Ich hoffe, ich irre mich. Aber ich glaube, dass die Ukraine-Krise einen Wendepunkt darstellt.“ Ruge spricht von „einer neuen, noch gefährlicheren Ära des Kalten Krieges“. Heute könnte man Ruge antworten: Der Kalte Krieg ist vorbei – aber das ist keine gute Nachricht.

P.S. In Stanley Kubricks eisig-brillanter Kalter-Krieg-Satire „Doktor Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, 1964 unter dem Eindruck der Kuba-Krise entstanden, löst der US-Luftwaffengeneral Jack D. Ripper, ein pathologischer Russenfresser, den Atomkrieg aus. Einer seiner Soldaten „reitet“ die händisch ausgeklinkte Bombe Yippie-Ya-Yey-schreiend und cowboyhutschwenkend ins Ziel. (Nein, wir stellen uns jetzt nicht Roderich Kiesewetter vor, auf dem Taurus gen Moskau reitend und aus seinem eigenen Gedichtband „Auszeit“ rezitierend: „Kalt bindet der Brücke Stahl die Haut…“ Am Ende des Kubrick-Films steigt ein riesiger Atompilz auf – ach, dieses so vertraute und schrecklich-schöne Bild, das man live und aus der Nähe allerdings nur einmal sehen kann! – und dazu ist der Song „We’ll meet again, / „Don’t know where, / don’t know when“ zu hören. Jetzt jedoch, 50 Jahre später, sind Ort und Zeit konkreter geworden.

Der Text erschien zuerst auf dem Online-Portal NachDenkSeiten.

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