Die Karriere des Helmut Kentler

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Er galt als Star der Sexualpädagogik, als mutiger Kämpfer gegen die spießige Sexualmoral der 1950er Jahre. Besonders bejubelt wurde er von den 68er-Revolutionären als Befreier der kindlichen Sexualität. Der linke Pädagogik-Papst verkehrte jedoch auch in wichtigen Kreisen, zum Beispiel beim Berliner Innensenator, dessen polizeipsychologischer Berater er war, und er referierte an evangelischen Akademien. Mitte der 1970er wurde er Professor an der Technischen Universität Hannover, ein paar Jahre später auch Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung“. Und: Er war ein gefragter Gerichtsgutachter. Der respektable Professor Helmut Kentler machte bis zu seinem Tod im Jahr 2008 eine glänzende Karriere.

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Und erst jetzt wird die Frage gestellt: Wie konnte das passieren?

Denn der Reformpädagoge mit der hervorragenden Reputation war ein begeisterter Befürworter ausgeübter Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern. Und das keineswegs klammheimlich. In aller Offenheit pries Kentler den sexuellen Missbrauch als besonders fortschrittliche Pädagogik.
  
„Ich habe in der überwiegenden Mehrheit die Erfahrung gemacht, dass sich päderastische Verhältnisse sehr positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen auswirken können, vor allem dann, wenn der Päderast ein regelrechter Mentor des Jungen ist“, schrieb der offen homosexuelle Kentler. Dieser Satz stand in einem Bericht über ein Projekt, das er 1969 in Berlin ins Leben gerufen hatte. Denn der Psychologe schrieb nicht nur, er handelte auch.

Kentler, damals Abteilungsdirektor im Pädagogischen Zentrum, hatte dem Berliner Jugendamt empfohlen, jugendliche Trebegänger und Stricher vom Bahnhof Zoo bei Pädosexuellen unterzubringen. Die drei von Kentler ausgesuchten „Leihväter“ waren Hausmeister und hatten sich im Gefängnis kennengelernt, wo sie wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger eingesessen hatten.

Welche Gegenleistung die vorbestraften Täter von den Jungen erwarteten, wusste Kentler nur zu gut. „Mir war klar, dass die drei Männer vor allem darum so viel für ‚ihren Jungen‘ taten, weil sie mit ihm ein sexuelles Verhältnis hatten.“ Eines der Hauptmotive der Pädophilen sei, so Kentler, dass sie „Kinder froh und glücklich machen wollen“.

Heute, vier Jahrzehnte später, ist die Empörung über das skandalöse „Experiment“ groß. Denn jetzt hat sich das „Göttinger Institut für Demokratieforschung“ um den Politologen Franz Walter der Sache angenommen. Die Göttinger ForscherInnen hatten bereits 2013 die Verstrickung der Grünen und des Kinderschutzbundes in pädosexuelle Netzwerke und ihre Rolle bei der Verharmlosung des sexuellen Missbrauchs untersucht – und dabei viele unangenehme Wahrheiten zutage befördert.

Bei der Aufarbeitung des Pro-Pädo-Netzwerkes von Pädagogen, Politikern und Pädo-Aktivisten hatten die Göttinger Helmut Kentler „als Schlüsselfigur identifiziert“, erläutert Teresa Nentwig. Was die Politikwissenschaftlerin, die Anfang 2016 von der Senatsverwaltung mit der Aufarbeitung der Causa Kentler beauftragt wurde, in ihrem 176 Seiten starken Bericht zutage förderte, ist erschütternd, aber nicht neu. Und genau das ist das Skandalöse: Fast alles, worüber nun alle die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, war schon damals bekannt. EMMA hat in den Jahren von 1993 bis 1997 mehrfach ausführlich darüber berichtet und auch die Rolle von Helmut Kentler genau benannt. Aber niemand wollte es so genau wissen. Und als Nentwig jetzt nachfragte, wollten sich die meisten auch nicht mehr so genau erinnern.  

Denn sie alle hatten mitgemacht bei dem Unwesen, das die pseudo-fortschrittlichen Pädagogen trieben. Scheinheilig erklärten sie Kinder zu „Gleichen“ – was den Sex mit ihnen rechtfertigte – und verkauften das als moderne Pädagogik. Dass Kinder keineswegs gleich, sondern von Erwachsenen abhängig sind, vertuschten sie. Sie leugneten schlichtweg die traumatischen Folgen, die der Missbrauch von Kindern hat. Der Hohepriester dieser Pro-Päderasten-Propaganda war Helmut Kentler.

Der hatte schon 1974 in seinem Vorwort zu dem fragwürdigen Aufklärungsbuch „Zeig mal!“ behauptet: „Werden solche Beziehungen von der Umwelt nicht diskriminiert, dann sind umso eher positive Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten, je mehr sich der Ältere für den Jüngeren verantwortlich fühlt.“

Gegen das Buch, in dem kleine Jungen neben nackten Männern masturbieren und kleine Mädchen dem Betrachter ihre Vulva entgegenstrecken, wurden inzwischen mehrere Indizierungsanträge gestellt. In den Siebzigern erschien es im evangelischen „Jugenddienst-Verlag“ und wurde von Pro Familia empfohlen.

In diesem Klima konnte Helmut Kentler auch frank und frei über sein Berliner Päderasten-„Experiment“ plaudern. Freilich erst Anfang der 1980er, nachdem „die Straftaten, die alle Beteiligten dabei begangen hatten, verjährt waren“. Nun wollte Kentler dazu beitragen, dass das, was die verurteilten Täter ihren Pflegesöhnen angetan hatten, nicht länger unter Strafe stand. Darin war er sich einig mit Teilen der Grünen, die die Abschaffung des Missbrauchs-Paragrafen 174 ebenso ernsthaft debattierten wie die FDP. Und so durfte der Pädagogik-Professor 1981 in einer Anhörung der FDP-Fraktion über sein Berliner Projekt referieren. „Diese Leute“, erklärte er, „haben diese schwachsinnigen Jungen nur deswegen ausgehalten, weil sie eben in sie verliebt, verknallt und vernarrt waren.“ Fazit des Pädagogen: Das Projekt sei „ein voller Erfolg“ gewesen.

Die Reputation des Pädagogik-Professors blieb ungebrochen. 1988 gibt die damalige Berliner Bildungssenatorin Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) gar ein Gutachten bei Kentler in Auftrag. Gerade hatte das Jugendamt begonnen, HIV-positive Jungen in die Obhut von Männerpaaren zu geben. Ausgerechnet Kentler soll nun beurteilen, ob Homosexuelle als Pflegeeltern geeignet sind. Auch in diesem Gutachten berichtet der progressive Pädagogik-Papst über sein Päderasten-Projekt.

Der Aufschrei bleibt aus. Kentler macht weiter. In rund 30 Gerichtsverfahren, in denen es um sexuellen Missbrauch geht, wird er als Gutachter eingesetzt. Im Rückblick erklärte er in der taz: „Ich bin sehr stolz darauf, dass bisher alle Fälle, in denen ich tätig geworden bin, mit Einstellungen der Verfahren oder sogar Freisprüchen für die Eltern beendet worden sind.“

Wie kann es sein, dass Gerichte ausgerechnet einen Mann, der aus seiner Pro-Päderasten-Haltung nie einen Hehl gemacht hatte, als Sachverständigen einsetzten?

Ab 1993 entlarvt EMMA minutiös die Netzwerke aus Pädagogen, Juristen, Gutachtern und Pädophilen, die unter dem Schlagwort „Missbrauch des Missbrauchs“ zurückschlagen. Selbst der Vorsitzende des Kinderschutzbundes ist mit von der Partie. Es ist die Reaktion darauf, dass Feministinnen das Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen problematisiert und sexuelle Kontakte zwischen ihnen als das bezeichnet hatten, was sie sind: ein Verbrechen.

Einer der EMMA-Artikel immerhin hatte Folgen für Kentler. Als der Pädagoge, der in der linken Szene bis heute als Guru der sexuellen Befreiung gilt, am 14. Mai 1997 den von der SPD gestifteten Magnus-Hirschfeld-Emanzipationspreis bekommen soll, stoppt die Jury eine Viertelstunde vor Beginn der Preisverleihung die Zeremonie. Der Preis an Kentler wird zurückgezogen.

Grund für den Sinneswandel ist der EMMA-Artikel „Die Schreibtischtäter“. Darin schreibt die Zartbitter-Gründerin Ursula Enders über den „Hannoveraner Hochschulleher Prof. Dr. Helmut Kentler, der behauptet, päderastische Verhältnisse könnten sich sehr positiv auf Jungen auswirken“. Und sie berichtet auch über Kentlers Berliner Projekt. Es hätten also alle wissen können. Aber offenbar ist erst jetzt die Zeit gekommen, auch den einstigen Star der Sexualpädagogik vom Thron zu stoßen.

Zur selben Zeit, als das Berliner Experiment lief, vermittelte übrigens ein Fachleiter der Behörde ebenfalls verstörte und verhaltensauffällige Jungen an einen anderen notorischen Päderasten: an Gerold Becker, den Leiter der Odenwaldschule. Martin Bonhoeffer, den Becker aus Göttinger Studienzeiten kannte, schickte ihm die Jungen aus Berlin nach Ober-Hambach, wo der sie reihenweise missbrauchte. Forscherin Nentwig geht davon aus, dass diejenigen, die das Kentler-Projekt genehmigten und diejenigen, die Becker seine Opfer zuführten, zumindest unter einem Dach saßen. „Es ging ja immer um Berliner Kinder, die in Heimen untergebracht waren oder von der Straße geholt werden sollten. Es muss also letztlich die gleiche Zuständigkeits-Ebene gewesen sein.“

Und noch eine Frage stellt sich: Bediente Kentler nur sein pädosexuelles Netzwerk mit Jungen – oder bediente er sich auch selbst? Was die Göttinger Forscherin herausfand, spricht dafür, dass Kentler nicht nur „Schreibtischtäter“ war. „Helmut Kentler hatte immer mindestens einen Pflegesohn bei sich“, sagt Teresa Nentwig. Drei von ihnen hatte er adoptiert. In einem 1995 erschienenen Aufsatz schildert Kentler den Umgang mit den von ihm betreuten Jungen: „Um die Sexualfunktion zu fördern, habe ich ein Körperempfindungstraining entwickelt, das ich als Massage bezeichne und das im Zentrum eines ganzen Arrangements von Behandlungen steht“, schreibt der Pädagoge. Und weiter: „Ich kann jetzt hier nicht schildern, wie ich mit dem Jungen gearbeitet habe.“

Da stellt sich die Frage: Wie viele Kentlers treiben eigentlich noch als Gutachter ihr Unwesen an den Gerichten? Die Göttinger Untersuchung hat darauf keine Antwort. Zu hoffen, dass die Wahrheit nicht wieder 40 Jahre braucht. Dann ist es für die Opfer zu spät.

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