Die neue Wehrhaftigkeit

Cem Özdemir bei einer Wehrübung in der Lagenstein-Kaserne der Feldjäger. - Foto: Moritz Frankenberg
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In der Raucherecke unseres Jungengymnasiums trafen sich die Meinungsführer, manche pafften nur. Optisch dominierte die Farbe Olivgrün, das lag an den Bundeswehr-Parkas, in den 1970er Jahren trug sie mindestens jeder zweite Schüler. Ich mochte den Military-Look nicht, bevorzugte meinen Dufflecoat mit den altmodischen Knebelverschlüssen. Der Kampfanorak mit Deutschland-Fahne am Revers passte weder zu den langen Haaren noch zu unserer Haltung zum Militär. Denn wir waren fast alle Pazifisten. Und als die Musterung kam, versuchten manche, untauglich zu sein, andere flohen nach (West)Berlin, wo man wegen des Vier-Mächte-Status unbehelligt von der Bundeswehr blieb. Der Rest verweigerte und leistete Zivildienst.

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Ende der 1920er Jahre geboren, gehörte mein Vater zur skeptischen Generation (so der Soziologe Helmut Schelsky). Diese Alterskohorte war um ihre Jugend betrogen worden, musste die Schule abbrechen, um in letzter Minute noch an die Front zu gehen. Mit 17 landete mein Vater bei einer Ausbildungseinheit der Marine im ostfriesischen Leer.

Dass „der Russe kommt“, habe ich von ihm nie gehört, eher von meiner vertriebenen Mutter. Sie erlebte auf der Flucht die Bombardierung Dresdens. Nach Kriegsende kehrte sie nach Schlesien zurück, aber das frühere Wohnhaus war mit Neuankömmlingen aus Ostpolen belegt. Sie arbeitete als Dienstmädchen und wurde 1947 endgültig ausgewiesen. In ihrer Herkunftsfamilie hat sie als einziges Kind überlebt. Ein Trauma, würde man heute analysieren, damals interessierte das niemanden. Ob sie vergewaltigt wurde, weiß ich nicht, sie hat darüber nie geredet.

Hofreiter und Strack-Zimmermann haben nie "gedient". Und so machen sie auch Politik.

In der Spätpubertät las ich Hesse, Sartre und Kierkegaard, schwankte zwischen Existenzialismus, Buddhismus und Philosophie. Doch das christliche Erbe war nicht völlig verschwunden. Jesus, wie er sich der Brutalität im römischen Palästina mit Gewaltlosigkeit entgegenstellt, blieb eine imponierende Figur. Meine schriftliche Begründung zur Kriegsdienstverweigerung war vom Konzept der Nächstenliebe geprägt, wie sie in der „Bergpredigt“ zum Ausdruck kommt. Mit politischen Analysen zur Rolle der USA in Vietnam konnte man den Prüfern der Gewissensgründe ohnehin nicht kommen. Ich fiel trotzdem durch, wusste danach wenig mit mir anzufangen.

Erneut traf ich eine christliche Wahl, wurde „Jahreshelfer“ in einer von Nonnen geleiteten Psychiatrie im westlichen Münsterland. Die dort untergebrachten Patientinnen hatten nur dank der couragierten Predigten des Kardinals Clemens August Graf von Galen die Euthanasie-Morde der Nazis überlebt. Das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) brach ich nach acht Monaten ab, in zweiter Instanz wurde ich endlich als Verweigerer anerkannt, doch das FSJ zählte nicht. Im Zivildienst war ich später Pfleger auf einer Krebsstation der Uni-Kinderklinik, die vollen 16 Monate lang. Zusammengerechnet habe ich dem Staat zwei Jahre für ein Taschengeld „gedient“. Da können Anton Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann nicht mithalten. Ihre biografische Bilanz ist simpel: null Monate. Und so machen sie auch Politik.

„Campino stellt alte Grundsätze auf den Prüfstand“, schrieb im Mai 2022 die Frankfurter Rundschau. Auf den Ukraine-Krieg angesprochen, bekannte der Rocksänger, passenderweise Frontmann einer Band mit dem Namen „Die Toten Hosen“: Er persönlich habe 1983 den Kriegsdienst verweigert, aber „das würde ich heute wahrscheinlich nicht mehr tun“. Zuvor hatte sich ein noch bedeutenderer Prominenter vom Antimilitarismus losgesagt: Olaf Scholz, Erfinder des Unwortes „Zeitenwende“. Wie Campino gehört der Kanzler zu jener mehrere Millionen Männer umfassenden Gruppe in Deutschland, die den Kriegsdienst verweigert hat.

Die Forderung nach "mehr Männlichkeit" erinnert an AfD-Rechtsaußen Björn Höcke

Gleich nach der russischen Invasion polemisierte der Münchner SZ-Journalist Tobias Haberl im Spiegel gegen angeblich verweichlichte Männer. Unter der reißerischen Überschrift „Pesto schützt nicht vor Pistolen“ forderte er mehr „Männlichkeit in Zeiten des Krieges“. In den Zeitungen häuften sich die Klagen über die mangelnde „Wehrhaftigkeit“ des deutschen Mannes. Der Tonfall erinnert an AfD-Rechtsaußen Björn Höcke und dessen Forderungen nach mehr „Maskulinität“.

Männerforscher Thomas Gesterkamp bevorzugte in seiner Jugend den Dufflecoat.
Männerforscher Thomas Gesterkamp bevorzugte in seiner Jugend den Dufflecoat.

Solche Appelle werden nun plötzlich in der „bürgerlichen Mitte“ salonfähig, trotz ihrer problematischen Anschlussfähigkeit an nationalmilitaristische und -sozialistische Diskurse. Mit ähnlichen Argumenten hatten die Nazis die Freizügigkeit der Weimarer Republik kritisiert. Später kämpften deutsche Männer „hart wie Kruppstahl“ für Familie, Frauen und Kinder – und töteten Millionen nichtdeutscher Familien, Frauen und Kinder. Die mit Abstand meisten zivilen und militärischen Opfer beklagte im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion: Von 27 Millionen Toten gehörten sieben Millionen zur Zivilbevölkerung.

Auch der Schriftsteller Ralf Bönt („Das entehrte Geschlecht“) bekannte im Freitag öffentlich, dass er den Wehrdienst heute nicht mehr verweigern würde, lieber läge er „bewaffnet hinter einem Sandsack und trüge zum Kampf um die Zukunft bei“. In den Schützengraben könnten auch Anton Hofreiter (Grüne) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) liegen. Als die Liberale, die nicht müde wird, Waffenlieferungen zu fordern, von der heute-Show gefragt wurde, ob sie „gedient“ habe, konterte die 64-Jährige mit fragwürdiger Ironie, sie sei „gut für den Volkssturm“. Das war so wenig witzig wie jüngst Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die bei der Verleihung des Aachener „Ordens wider den tierischen Ernst“ verkündete, sie sei bewusst nicht als Leopard kostümiert erschienen. Tusch!

Die kampfeslustigen Promis finden im gemeinen Volk nur wenig Nachahmer

Die kampflustigen Promis finden derweil im gemeinen Volk nur wenige Nachahmer. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer innerhalb der Bundeswehr hat sich – trotz ausgesetzter Wehrpflicht – in jüngster Zeit verfünffacht. 2022 stieg sie laut Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) auf 951 Personen, 2021 gab es nur 201 Anträge. Dem standen im selben Jahr 304 Verweigerungs-Widerrufe gegenüber – 2016 waren es ganz ohne „Zeitenwende“ mit 718 erheblich mehr.

Dennoch versucht so manches Feuilleton, die „neue Wehrhaftigkeit“ herbeizuschreiben. Doch im „Ernstfall“, bei einer Intervention durch NATO-Bodentruppen und einer Abkehr von der Berufsarmee, hätte die Bundeswehr ein massives Mobilisierungsproblem. Zwischen veröffentlichter Meinung und pazifistischer Grundstimmung in der Bevölkerung klafft eine riesige Lücke. Das kann Campino so wenig ändern wie die Zeitenwendehälse Scholz und Habeck - ein weiterer früherer Antimilitarist, der jetzt Waffen in Krisengebiete schickt. Grüne Ex-Maoisten wie Ralf Fücks oder Jürgen Trittin dagegen mussten ihre Ansichten nicht so sehr revidieren. Ihre stalinistischen Kaderzirkel waren keineswegs pazifistisch, dort fantasierte man von einer „allgemeinen Volksbewaffnung“.

Fücks‘ wie Trittins Verweigerungen wurden nicht anerkannt; ersterer wurde einfach nicht eingezogen, zweiterer hatte Erfolg mit seiner Klage und konnte nach einem halben Jahr den Grundwehrdienst abbrechen. Fücks, früher Mitglied im „Kommunistischen Bund Westdeutschland“ (KBW) und später Chef der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, leitet heute das „Zentrum Liberale Moderne“ – eine mit Staatsgeldern finanzierte „Denkfabrik“ auf bellizistischem Hardliner-Kurs, die jede Diplomatie mit Wladimir Putin ablehnt. Parteifreund Reinhard Bütikofer, ebenso einst KBW, scheut bei Resolutionen im Europaparlament, die sich gegen das „Zaudern“ von Bundeskanzler Olaf Scholz richten, nicht die Kooperation mit Konservativen und Reaktionären.

So schließt sich der Kreis: Moralisch einwandfrei kehren die Herren (und auch manche emanzipierte Damen) zurück zu den Feindbildern ihrer Väter und Großväter.

THOMAS GESTERKAMP

Eine Langfassung des Textes erschien zuerst im Freitag. - Der Autor ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Männerforschung. Von ihm erschienen u.a. die Bücher "Die Krise der Kerle" und "Jenseits von Feminismus und Antifeminismus. Plädoyer für eine eigenständige Männerpolitik". - Mehr auf www.thomasgesterkamp.com

 

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