Erziehung zum Ungehorsam

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In den siebziger Jahren war ich meistens ein Junge. Meine beste Freundin Silke war es auch. Wir nannten uns „Branko und Hans“, trugen Hosen und die Haare kurz. Wir waren stolz, wenn jemand glaubte, dass wir wirklich so hießen, Branko und Hans, und lästerten auf der Straße laut über „die blöden Weiber“. Wir klemmten Pappen in die Speichen unserer Fahrräder, damit sie klangen wie Harleys. Wir kletterten auf jeden Baum, bis in jede Krone. Wenn wir über die Wiesen rannten, streckten sich Brenn­nesseln nach uns aus und streiften unsere Arme. Im Sommer waren meine Füße am Abend so schwarz, dass ich sie nie ganz sauber bekam. Ich fand das dunkle Muster in den kleinen Rissen meiner Hornhaut schön. Ich mochte die Brombeerbuschkratzer auf meinen Beinen, den Sonnenbrand im Nacken, die kleinen Schnittwunden in den Fingerkuppen, die ich mir beim Schälen eines Astes mit dem Taschenmesser zugezogen hatte.

Branko und ich waren allerdings keine Transgender-Kinder. Am Abend, wenn die Straßenlaternen angingen, zum Zeichen, dass wir nach Hause mussten, wurden wir wieder Mädchen. Silke ging zurück in ihr Haus mit den Butzenscheiben, der Eichenschrankwand und den Barbiepuppen. Und ich ging zurück zu meinen fortschrittlichen 68er-Eltern, ihren Antiatomkraft-Aufklebern und den gelben Märzheften im Bücherregal, die meistens Titel hatten wie „Soll Erziehung politisch sein?“ oder „Erziehung zum Ungehorsam“. Anders als Silke durfte ich keine Barbiepuppen haben, die waren meinen Eltern zu kapitalistisch, aber dafür baute ich mir aus meinem Fischertechnik-Baukasten meine eigenen Puppen mit aufklappbaren Geheimfächern im Bauch.

Die Frage, die ich mir heute stelle, wenn ich an Branko und Hans zurückdenke: Warum konnten wir wohl nur dann so frei sein, wenn wir Jungen waren, nicht aber als Mädchen? Warum „durften“ wir nur dann Rallye fahren, in den verbotenen Steinbruch klettern, heimlich kokeln und uns mit den anderen Jungs kloppen, solange wir Branko und Hans hießen? Es stieß sich ja niemand daran, dass wir wild waren, Silkes kreuzbrave ­Eltern nicht, schon gar nicht meine so entschiedenen. Trotzdem gehorchten wir wohl einer unausgesprochenen Regel, nämlich der, dass „blöde Weiber“ bestimmte Dinge nicht taten, nicht einmal dann, wenn sie, wie ich, 68er-Töchter waren und Laubsägen und Matchbox­autos besaßen. Obwohl Mitte, Ende der 70er die Frauenemanzipation die Gesellschaft schon so verändert hatte, dass meine Mutter Mathe und Physik studierte, mein Vater die Wäsche aufhängte und, Seitenblick auf das Dunkle, die Frauen der RAF wie harte Kerle mordeten, ­kamen Silke und ich nicht auf die Idee, gleichzeitig Mädchen und frei sein zu dürfen. Was wir als Kinder nicht erkannten: Wir waren, wie wohl viele andere Mädchen und Frauen damals, Gefangene eines historischen Double-Bind: Die ­Befreiung der Frau führte über die ­Abwertung der Frau.

Nachträglich fällt mir auf, dass die 68er-Bewegung die Frauen zwar angeblich befreien wollte, weil Befreiung nun einmal dazu gehörte – dass sie die Frauen aber nicht liebte. Das zumindest ist der Ausschnitt der 68er-Bewegung, den ich selbst als Kind mitbekommen habe.

Wenn ich an die Stücke aus dem subversiven Berliner Gripstheater zurückdenke, bis heute eine legendäre linke Institu­tion, dann fällt mir wieder ein, wie irritierend ich manches fand. Ich hatte die Stücke auf Schallplatte und hörte sie ständig. Das Gripstheater wollte Kinder zu neuen Menschen machen – antikapitalistisch, rebellisch, traditionsfrei und ­damit natürlich emanzipiert. Es war ­anstrengend, diesem Programm zu gehorchen, und genau wie die Kinder in den Gripstheaterstücken Lehrer, Hausmeister, Polizisten und Diktatoren von morgens bis abends als Feinde nicht nur zu entlarven, sondern auch zu besiegen. Ich wusste nicht, wie ich das schaffen sollte. Und es war anstrengend, ständig etwas in sich selbst erkennen zu müssen, was offenbar nicht in Ordnung war, um es dann zu zerstören.

Ich hörte auf den Platten, die mit den Jahren immer stärker knisterten, dass zum Beispiel die starke Trixie aus dem Stück „Mannomann“ Puppen doof fand und Fußbälle toll, die petzende, weinerliche Annemarie aber ständig ihre Puppe mit sich rumschleppte. Also war ich, wenn ich mit Puppen spielte, eine petzende Heulsuse? Warum durfte Trixie, wenn es nach dem männlichen Stückeschreiber ging, nicht beides genießen, die Puppe und den Fußball? In all den Stücken des Gripstheaters wurde der Begriff „Mädchen“ mit dem Rollenklischee gleichgesetzt, und es gab nur einen einzigen Ausweg, wollte man zu den Gewinnern der Geschichte zählen: nämlich Mädchen und damit sich selbst zu verachten.

Stattdessen sollten wir Mädchen uns in männliche Idealfiguren verwandeln, und wohl darum wurden meine Freundin Silke und ich zu Branko und Hans und lästerten auf der Straße über „blöde Weiber“. Ohne zu wissen, was wir taten, fügten wir uns, wie wohl viele andere, in das Handlungsmuster der Zeit. Ich halte das, bei allen Errungenschaften, für den ini­tialen Fehler der 68erInnen. Statt den ­Begriff des Weiblichen zu erweitern und ­damit zu stärken, wurde er auf seine ­negativen Konnotationen reduziert – auf das dahinter stehende Klischee vom Frauchen, die Rolle als Hausfrau und Mutter, das Opferdasein, das peinliche Schwachsein, die Abhängigkeit vom Mann – und dann, in einem Akt der Anpassung an ein altmodisches Männerbild, überwunden.

In einem berühmten Gripstheaterlied werden Mädchen bis zur Unkenntlichkeit beschimpft: „Wer sagt dass Mädchen schwächer sind / wer sagt dass Mädchen immer zickig sind / wer sagt dass Mädchen affig sind / der spinnt, der spinnt, der spinnt!“ Im Verlauf des Liedes werden die Beschimpfungen gegen Mädchen immer bösartiger, bis endlich der erlösende Refrain ertönt: „Mädchen sind genau so schlau wie Jungen / Mädchen sind genau so frech und schnell / Mädchen haben so viel Mut wie Jungen / Mädchen haben auch ein dickes Fell!“

Sobald ich das hörte, war ich erleichtert, dass es diesen Ausweg aus dem offenbar indiskutablen Mädchensein gab, nämlich zu werden wie ein Junge. Das Referenzsystem für das Richtige und Wichtige im Leben, das lernte ich damals, war ein männliches, dem es sich schleunigst anzupassen galt, wollte ich mich nicht verdächtig machen. In diesem Sinne waren auch Silke und ich einem ähnlichen Gewaltakt ausgesetzt wie die Genossinnen von Andreas Baader, die er grundsätzlich „Fotzen“ nannte, um sie politisch zu dressieren.

Dass aber eine Frau alles sein kann, was sie möchte, und wenn sie möchte alles zugleich – mütterlich, weich, schön, burschikos, herb, stark, erobernd, rücksichtslos, maskulin – das lernten wir nicht. Offenbar hatte die Emanzipation bis dahin nur getrickst. Sie erlaubte Frauen nicht, zu sich selbst zu finden. Ein richtiger Mensch war man nur als Mann. Dass die Möglichkeit, sich in vielfältigen Formen auszudrücken, nicht an eine sexuelle Identität gebunden ist, erkannten Branko und ich damals nicht. Und wahrscheinlich war diese Möglichkeit auch noch gar nicht gegeben.

Was 1968 bewirkt, was zerstört hat, lässt sich nur noch jeweils subjektiv interpretieren. Und noch bevor die Deutungen greifen, hat sich die Geschichte mit all ihren Folgen schon wieder verändert. Das war auch in meiner Familie so. Die Emanzipation blieb eine kurze Utopie. Bald hörte mein Vater auf, die Wäsche abzuhängen, und machte stattdessen Karriere. Dafür half täglich ich im Haushalt, mein Bruder dagegen gar nicht. Und meine Schwester spielte mit Barbiepuppen.

Manchmal glaube ich in der Gegenwart das Echo von 68 zu hören. Wenn zum Beispiel die Genderdebatte die Möglichkeit zu eröffnen versucht, zwischen vielen, verschiedenen Geschlechtern frei zu wählen, ist das für mich auch ein Nachklang der damaligen Flucht vor einem negativen Frauenbild, vor der Demütigung, eine Frau zu sein. Statt einen großen, neuen, aufregenden Begriff von Frau zu erschaffen, entstehen jetzt ganz viele ganz kleine Begriffe. Die Zersplitterung in zahllose Geschlechter ist ja dann auch eine Form der Kategorisierung, vielleicht auch der Pathologisierung. Aber warum darf denn die vielgerühmte Vielfalt zwar in der Gesellschaft bestehen, nicht aber in mir selbst, nicht ohne dass ich mich in Begriffe zerlegen lassen muss? Ich kann ja heute alles sein, queer oder queer-trans, demisexuell, cisgender, androgyn, maverique oder fem – alles, bloß keine Frau. Vielleicht sind, marxistisch gesprochen, die vielen neuen Geschlechter Ausdruck eines noch immer falschen Bewusstseins, oder, psychologisch gedeutet, die Folge einer traumatischen Dissoziation, die vor dem Hass auf das Weibliche schützt. Anders wohl können wir das Dilemma Frau nicht lösen.

Und an dieser Stelle glaube ich manchmal ein weiteres Echo auf 68 zu hören. Denn all diese Gender-Begriffe zielen immer auch auf die politische Orientierung, und das ist so ähnlich wie damals, als die weiblichen Genitalien zum Schauplatz der politischen Befreiung wurden. Nicht zufällig macht jener Slo­gan „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ den Mann zum handelnden Subjekt, nicht die Frau. Er ist derjenige, der sich von der verhassten Klassengesellschaft lossagt, während die Frau ihm zu diesem Zweck lediglich sexuell zur Verfügung steht und danach nicht mehr gebraucht wird. Wie in der nicht zufällig damals erstarkenden Pornoindustrie wurden auch in der sexuellen Befreiungsbewegung die Genitalien weniger gefeiert als verdinglicht. Sie waren Politinstrumente, denn es ging ja nicht um sexuellen Genuss, um Erotik, Geheimnis und Begegnung, sondern um Klassenkampf, um die Auflösung althergebrachter Beziehungsstrukturen und damit der Klassengesellschaft. Der sexuelle Missbrauch war der 68er-Bewegung damit eingeschrieben. Etliche Dokumente der Zeit zeugen von dieser Abtrennung des Genitalen vom Intimen. Der Fotoband „Show me“ von Will McBride zum Beispiel, der 1974 auf Deutsch („Zeig mal“) erschien und heute ein gefragtes Fundstück für Pädophile ist, stellt Erwachsene und Kinder als Genitalträger aus, nicht als Menschen, indem es ihre in allen Varianten interagierenden Geschlechtsteile in Großaufnahmen zeigt.

Und dass die Mitglieder der Kommune 1 auf jenem legendären Foto, auf dem sie alle an der Wand lehnen, ihre nackten Hinterteile, nicht aber ihre Gesichter zeigten, war nicht nur Provokation, sondern auch Ausdruck der damals beginnenden Aufspaltung von Sexualität und Persönlichkeit, die selbst vor Kindern nicht halt machte. Wie jeder weiß, wurden die beiden Kinder der Kommunen 1 und 2 im Namen der sexuellen Befreiung missbraucht, vor den Augen der Öffentlichkeit, die den entsprechenden Bericht im Kursbuch 17 lesen konnte. Weder kam es damals zur Strafverfolgung der Täter, noch entschuldigten sie sich jemals bei ihren Opfern, bis heute nicht. Der zugehörige lila gefärbte Bilderbogen zeigt die nackt tobenden Kinder, unterlegt die Fotos mit Sprüchen wie „Kuck mal, meine Vagina“. Und wie bei Will McBride wird das weibliche Genital schließlich in Großaufnahme präsentiert. Dies, so die Aussage des Bilderbogens, ist der Ort der allen verfügbaren Befreiung, und eben nicht der Ort des Allerpersönlichsten.

Vielleicht waren Branko und Hans in diesem Sinne auch der Schutz vor dem politischen Zugriff auf unser wahres Geschlecht. Ich vermisse Branko und Hans bis heute. In der Pubertät verlor ich den Kontakt nicht nur zu Silke, sondern auch zu den zwei kleinen Avantgardisten der Freiheit, die Figuren von 68 waren und Gegenfiguren zugleich. Mein Körper beging Verrat an ihnen, sobald er weiblich wurde. Manchmal träume ich, dass ich zu Silke gehe, über die Waschbetonplatten zur Haustür mit den gelben Butzenscheiben, und unseren geheimen Code klingele, den nur Branko kannte. Er kam dann raus, und wir rannten in den nahen Wald. Auch heute, im Traum, stehe ich wieder an der Tür und warte. Aber niemand öffnet.

 

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