Fräuleins for Future

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Als ich gestern nach langer Zeit wieder in meiner Heimatstadt war, habe ich die Farbe Lila gerochen. Der Duft kam aus einem Fahrradgeschäft im Riemekeviertel. Es war nur ein Hauch, der zum Bürgersteig wehte und mich magisch in den Laden zog. Der sogenannte Bike-Shop passt nicht so recht in das wilhelminische Haus.

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Als eines von wenigen Gebäuden in der Innenstadt wurde es nicht im Zweiten Weltkrieg zerstört. Auch die Drogerie im Erdgeschoss, wo heute Fahrräder verkauft werden, hatte die Bombenangriffe überstanden. Ich bin ein Nachkriegskind. Aber meine Mutter erzählte mir so anschaulich von Parfümen, Ölen, Salben und Seifen in Jugendstilregalen, dass ich mir einbildete, selbst aus einer Trümmerwüste in ein Reich der Sinne gelangt zu sein. Für meine Mutter war es ihr „verloren geglaubtes Paradies“.

Der Gedanke, dass Ehelosigkeit auf freier Entscheidung beruht, kommt nur Wenigen

In Muttis Paradies regierte eine Evastochter: Elisabeth Sommer, einziges Kind des Firmengründers, seit ihrer Geburt im Februar 1889 „das Elsbett“ genannt, auch noch als sie im November 1981 mit 92 starb. In Paderborn wurden bis weit in die 1980er Jahre hinein – trotz Gleichberechtigung im Grundgesetz und Gleichstellungsstelle im Rathaus – alle unverheirateten weiblichen Menschen vom Säugling bis zur Greisin durch „das“ und „es“ versächlicht. Zum Beispiel: „Es studiert jetzt? Dass das das darf! Es heiratet doch sowieso.“

Wenn eine Frau jenseits der 30 ledig blieb, wurde geraunt: „Das hat keinen abgekriegt.“ Trug sie Kleidung in Lila, galt dies als „esses letzter Versuch“, sich einen Mann zu angeln. Immerhin, an einigen Paderbornerinnen war die Neue Frauenbewegung nicht unbemerkt vorbeigezogen. Manch eine schlüpfte sogar in eine lila Latzhose, also quasi in die Flagge des Feminismus.

Das Gros kritisierte vor allem sprachliche Diskriminierungen, dabei war es beliebt, die Verkleinerungsform „Fräulein“ als sexistisch zu geißeln. Und es galt als politisch korrekt, dass eine Kundin die ledige Drogistin eines Tages mit „Frau Sommer“ ansprach. Das Drama, das darauf folgte, beobachtete ich durch einen Türvorhang aus Perlenschnüren zwischen dem Verkaufsraum und dem Hinterzimmer, wo ich mich zur Teestunde eingefunden hatte.

Elisabeth Sommer, damals 89, ging gebückt. Doch jetzt richtete sie sich zu voller Größe auf, wobei ihr frisch gestärkter weißer Kittel krachte. Ihre wegen Rosazea gerötete Nase – und nicht etwa wegen des unmäßigen Konsums von Klosterfrau Melissengeist, wie böse Zungen behaupteten – glühte purpurrot vor Zorn: „Was erlauben Sie sich? Ich bin ein Fräulein!“ – „Und ich bin EMMA-Leserin“, erwiderte die Kundin drohend. – „Ihr Ehering passt aber besser zur Brigitte“, spottete die Drogistin und erklärte dann, warum sie nicht mit „Frau“ angeredet werden wollte: „Da könnte ja der Eindruck entstehen, dass ich verheiratet bin.“

Sie bebte vor Empörung: „Abscheulich! Eine Ehefrau gibt nicht nur ihren Namen, sondern auch sich selber auf.“ – „Ich habe einen Doppelnamen“, rechtfertigte sich die Kundin. Ihr eigener Name stehe vor dem Bindestrich und der ihres Mannes dahinter. Das sei neuerdings erlaubt. – „Wie großzügig“, höhnte das Fräulein Drogistin und empfahl der Kundin, ihre Drogerieartikel künftig im Seifen-Platz zu kaufen. „Der hat auch einen Bindestrich.“ An diesem Nachmittag war ich ausnahmsweise allein im Hinterzimmer. Dort trafen sich werktäglich Paderborner Fräulein, alle über 85 – außer dem „Jungspund“ Leonie Schmitz, früher Studienrätin, seit vielen Jahren pensioniert.

Als einzige Ehefrau durfte meine Mutter – die treueste Stammkundin von allen, Männer sind mitgemeint – an der Teerunde teilnehmen. Ich war seit früher Kindheit dabei. Weil ich mich aus Sicht der Fräulein gut entwickelte, hatten mich die vom Aussterben Bedrohten dazu auserkoren, ihre Nachfolgerin zu werden.

Manchmal trank ein Mann mit uns Tee: der Lokalredakteur Theo Röper. Trotz seiner fünf Kinder von zwei Ehefrauen – die erste verstorben, von der zweiten geschieden – wurde ihm nachgesagt, er sei „vom anderen Ufer“. Noch schlimmer: In Köln, wo er einmal im Monat ein Wochenende verbrachte, war er in Frauenkleidung gesichtet worden. Sein schlechter Ruf verschlechterte sich im November 1981 durch seinen angeblich „pietätlosen“ Nachruf auf Elisabeth Sommer.

Ich zitiere: „Noch erklingt das melodiöse Ding-Ding-Dong an der Ladentür, doch die Seele des Ganzen ist entschwunden. ‚In den Himmel?‘ fragt sich der Stammkunde traurig und wünscht sich kindlichen Herzens höhere Gefilde, die verstorbenen Fräulein vom Kaliber der Riemeke-Drogistin vorbehalten sind – jenen ledigen, kinderlosen Frauen, die trotz Spott und Hohn das Wagnis der Selbstbestimmung auf sich nehmen. Die am Freitag verstorbene Drogistin war nicht das letzte Paderborner Fräulein. Noch leben wenige Vertreterinnen einer Lebensform, die meist als Mangel oder Makel wahrgenommen wird.

Der Gedanke, dass Ehelosigkeit auf einer freien Entscheidung beruhen und ein Frauenleben ohne Mann glücklich verlaufen kann, kommt nur Wenigen.

Der Gedanke, dass Ehelosigkeit auf einer freien Entscheidung beruhen und ein Frauenleben ohne Mann glücklich verlaufen kann, kommt nur Wenigen. Insbesondere ist dies die Stammkundschaft der RiemeDer Gedanke, dass Ehelosigkeit auf einer freien Entscheidung beruhen kann, kommt nur Wenigen. Ding-Ding-Dong. Noch ist es leise zu vernehmen.

Wer wohl wird uns Frauenfreiheit vorleben, wenn die letzten Fräulein von uns gegangen sind?“ Das vorletzte Fräulein war Leonie Schmitz. Sie starb durch einen Unfall mit ihrem knallroten Karmann Ghia – beide waren wegen ihres hohen Alters nicht mehr verkehrstüchtig. Mit ihrem nur äußerlich sportlichen Auto, das einen Käfer-Motor hatte, war die Französischlehrerin früher jeden Sommer in die Provence gezuckelt. Dort erstand sie bei einer Bäuerinnen-Kooperative namens „Les Demoiselles de Lavande“ („Die Lavendel-Fräulein“) eine Wagenladung Lavendelöl für die Riemeke-Drogerie. Elisabeth Sommer führte auch Lavendelparfüm: Uralt-Lavendel und Mouson-Lavendel.

Das Fräulein-Öl mochte sie lieber, unter anderem wegen des Flacons. Im Gegensatz zu den Parfümfläschchen war er lila. „Diese Farbe“, erklärte mir die Drogistin, „ist ein Symbol für Gleichberechtigung.“ – „Und für Frauenliebe“, ergänzte Leonie Schmitz: „Das wusste schon die antike Lyrikerin Sappho.“ Der liebevolle Blick, den sie Elisabeth Sommer zuwarf, schien zu sagen: „Und wir wissen es auch.“ Nach der Lavendelernte 1980 schlossen die französischen Fräulein ihre Öl-Destille aus Altersgründen. Ein Jahr später – also in ihrem Todesjahr – überreichte mir die Drogistin ihren letzten Flacon aus der Provence und trug mir auf, ihn nie zu öffnen. „So schaffst du die Illusion“, sagte sie, „der Duft der Farbe Lila sei für immer und ewig konserviert.“

Ich habe den Flacon nicht geöffnet, ich habe ihn zerdeppert. Er fiel ins Waschbecken, als ich im Spiegelschrank einen Lippenstift suchte. Das Lavendelöl war verdorben, es roch modrig, und ich spülte es in den Orkus. Seither suche ich wie besessen nach dem Duft der Farbe Lila, als dessen Hüterin ich auserkoren wurde – ich, das letzte Fräulein.

Ehrlich gesagt bin ich nur noch ein Fräulein im Geiste. Ich gestehe, dass ich letztes Jahr geheiratet habe: einen Mann! Mein Fehltritt fällt nicht auf, weil ich meinen eigenen Namen behielt – ohne Bindestrich. Das darf frau seit 1994. Von diesem hart erkämpften Recht macht aber nur jede achte Braut Gebrauch, ich zum Beispiel. Ich war „Frau Filter“ und bin „Frau Filter“, kein Unterschied zwischen vorher und nachher. „Fräulein“ sagt ja heutzutage niemand mehr – leider. „Fräulein Filter“ klang so melodisch wie Ding-Ding-Dong, es war pure Poesie, und es schien nach der Farbe Lila zu duften.

Ich träume davon, mit anderen Fräuleins eine Bewegung in Gang zu setzen

Als ich gestern den Bike-Shop betrat, hüpfte mein Herz vor Freude: Neben der Kasse stand ein Karton mit lilafarbenen Lavendelöl-Flacons. Der Fahrradhändler desillusionierte mich. Sein Öl rieche zwar wie das echte Öl, sei aber synthetisch und spottbillig, sagte er: „Ich verwende es als Werbeträger für Radreisen durch die Provence.“ Er gab mir einen Flyer, auf dem ein Foto mit zwei Radlerinnen in einem blühenden Lavendelfeld prangte, und schenkte mir einen Flacon. Das synthetische Lavendelöl scheint ein Rauschmittel zu sein – es stimmt mich euphorisch.

Seit gestern träume ich von einer Utopie. Ich träume davon, gemeinsam mit anderen Fräulein im Geiste – alten und jungen, weiblichen und männlichen – eine Bewegung in Gang zu setzen. Ihr Name: „Fräuleins for Future“. Auf ihrer Homepage könnte Folgendes stehen: „Das Patriarchat ist eine reale Bedrohung für die menschliche Zivilisation – die Abschaffung des Patriarchats ist die Hauptaufgabe des 21. Jahrhunderts. Wir fordern eine Politik, die dieser Aufgabe gerecht wird. Fräuleins for Future: Das sind alle, die gegen ausbeuterische Machtstrukturen und für den Fortbestand der Erde demonstrieren. Unsere Bewegung ist international, überparteilich, autonom und dezentral organisiert. Mach mit!*“

* Dieser Text ist einem Text von fridaysforfuture.de nachempfunden, in dem es nicht um das Patriarchat, sondern um die „Klimakrise“ geht.

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