Frauen auf der Flucht

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Eine Architektin? Eine Designerin? Das fragte ich mich auf meiner Zugfahrt nach Köln zur EMMA-Redaktion. Die Frau, die gegenüber vom Gang saß, sah aus wie die junge Katja Riemann und bearbeitete leidenschaftlich mit allerlei Stiften ein Buch. Völlig weg in der Welt, die Buntstifte aus dem Kalbsleder-Etui wie einen Colt aus dem Gürtel ziehend, saß sie da. Hin und wieder spitzte sie sie an.

Als sie zur Toilette ging, fragte sie, ob ich auf ihre Sachen acht geben könnte. „Ja, sicher!“, sagte ich und stürzte mich auf das Buch, kaum, dass sie außer Sichtweite war. Doch da waren weder architektonische Skizzen noch Mode-Entwürfe zu sehen, sondern – ein ausgemaltes Gartenbild. Schön bunt.

Als meine Nachbarin wiederkam, wollte ich es genauer wissen. „Sind Sie Grafikerin?“, fragte ich scheinheilig. Sie: „Nicht direkt, ich liebe Malbücher, die bringen mich total runter. Wollen Sie sich meine Sachen mal anschauen?“ Ich wollte. Etwa hundert Seiten mit immer neuen Garten­variationen – mal mit Vogelhäuschen oder Laterne, und Singvögel auf einer Vogelscheuche. Die meisten waren zur Hälfte ausgemalt. „Ja, äh, toll“, stammelte ich. „Es ist der Klassiker von Basford, gibt es in jeder Buchhandlung, probieren Sie es doch mal aus“, sagte sie strahlend und tauchte wieder in ihre Gartenwelt ab.

In Frankfurt am Bahnhof ging ich stracks in einen Buchladen. Tatsächlich: Ein ganzer Tisch war bedeckt mit Malbüchern für Erwachsene, flankiert von Wohlfühlzeitschriften wie „Hygge“, „Slow“ oder „Flow“, die von Entschleunigung, dem einfachen Glück und veganen Cranberry-Keksen künden. Die Buchhändlerin gab bereitwillig nähere Auskunft. „Ja, von dem Kram verkaufen wir mehr als aus unserem Literatur-Regal. Das geht schon seit zwei Jahren so. Mittlerweile haben wir auch das Equipement im Angebot: Stifte, Federmäppchen, Anspitzer.“ Wer die Malbücher denn so kaufe? „Frauen. Hauptsächlich jüngere, aber auch ältere.“ „Männer auch?“, fragte ich. „Hehe, nee!“, lachte sie lauthals. „Die kaufen doch nicht so einen Kinderkram!“

Meine Recherche ergab: Es gibt inzwischen über 2.000 Titel, die Frauen mit „friedvollen Bildern zu Entspannung und Stressabbau“ verhelfen wollen. Eine Frau dürfte das besonders freuen: die Schottin Johanna Basford. Sie hat vor drei Jahren den Boom der Malbücher ausgelöst. 16 Millionen Mal haben sich ihre Bücher mit Titeln wie „Mein verzauberter Garten“, „Mein Zauberwald“, „Mein phantastischer Ozean“ oder „Mein wundervolles Weihnachten“ verkauft. Die Ausmale­rinnen laden die Werke bei Facebook hoch oder kampieren vor Buchläden, sobald ein neuer Basford-­Titel angekündigt wird.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels verzeichnet seit 2015 einen regelrechten Mal­bücher-Boom mit über 500 Neuerscheinungen pro Jahr. Ausmalbücher für Erwachsene avancierten zu den Topthemen auf dem Ratgebermarkt, auch auf der Leipziger Buchmesse wurden die Bücher ohne Worte als „Megatrend der Branche“ angepriesen.

PsychotherapeutInnen verkünden, in den Malbüchern für erwachsene Frauen „heilende“ Ansätze zu erkennen. Die wiederkehrenden Muster sollen beruhigend wirken. Beim Ausmalen könne „die Künstlerin zu sich finden“. Ein fertiges Bild gebe „das Gefühl, etwas Kreatives geschaffen zu haben“. Ein „Erfolgserlebnis für die Seele“. Eine „Entschleunigung in einer immer schneller werdenden Welt“.

„Terroranschlag am Hauptbahnhof“ – „Jede vierte Frau erkrankt an Brustkrebs“ – „Altersarmut vorprogrammiert“ – Was soll‘s, ich mal erstmal ein Einhorn aus.

Bleibt die Frage, warum gerade wir Frauen so anfällig für diese Art Flucht sind. Sehnen wir uns so sehr nach unserer Kindheit zurück? Weil da alles einfacher war? Weil jemand anders die Verantwortung getragen hat? Weil die große weite Welt keine Rolle gespielt hat? Und vielleicht auch, weil da nicht so viel von uns erwartet wurde.

Die Kinderrolle ist aber schon besetzt – von richtigen Kindern. Auf der Flucht zurück zu sein, ist nicht zielführend. Für die Flucht nach vorn gibt es ja zum Glück die EMMA. 

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