"Sie können nicht mehr kompensieren"

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Frau Köhler, arbeiten Sie mehr als vor der Pandemie?
Auf jeden Fall. Die Arbeitsbelastung ist hoch. Wir machen keine Mittagspausen mehr, arbeiten durch. In unserer Gemeinschaftspraxis haben wir gerade sehr viele Anfragen. Von PatientInnen, die bisher nicht in Therapie waren, aber auch von PatientInnen, die schon mal bei uns in Behandlung waren und die jetzt durch diese anhaltende Ausnahmesituation vollkommen dekompensieren – erkranken.

Hat Sie dieser Andrang überrascht?
Nein, das war absehbar. Die psychische Gesundheit ist noch mehr als die körperliche verbunden mit sozialen Sicherungsfaktoren. Und da verändert sich gerade viel: Verlust von Aufgaben, Verlust der Tagesstruktur im Homeoffice, Angst vor Arbeitslosigkeit, Homeschooling der Kinder, fehlende Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, der Jahresplanung. Das destabilisiert jeden von uns und kann zur Ausprägung von psychischen Beschwerden führen.

Kommen mehr Frauen als Männer zu Ihnen?
Ja, aber nicht erst seit der Corona-Pandemie. Es ist sowieso so, dass Frauen mit psychischen Beschwerden eher vorstellig werden als Männer, weil sie eine geringere Schamschwelle haben zu sagen: Mir geht’s nicht gut. Der hohe Frauenanteil bei Patienten kommt wahrscheinlich in den ausschließlich psychotherapeutisch arbeitenden Praxen noch deutlicher zum Tragen als in meiner psychiatrischen Praxis, in der es vor allem um Diagnostik, Behandlungsplanung und medizinisch-pharmakologische Interventionen geht.

Besonders Frauen zwischen 30 und 49 leiden in der Corona-Krise: Woran liegt das?
Die Zeit von Anfang 30 bis 50 ist ja die, wo viel Kraft in die Lebensplanung und die berufliche Karriere gesteckt werden muss. Es ist aber auch die Zeit, in der Frauen Kinder kriegen und großziehen. Und da geht es noch lange nicht gleichberechtigt zu. Das galt schon vor Corona und jetzt gilt es umso mehr: Wer größere Lasten zu tragen hat, und das sind die Frauen, erkrankt schneller.

Wer depressiv ist, braucht eine Behandlung. Aber was kann jemand tun, der nur etwas durchhängt, ein wenig niedergeschlagen ist?
Wenn jemand in einer Krise ist, aber nicht krank, überlegen wir, was der Auslöser dieser Krise ist und welche Ressourcen ein Mensch hat, sie zu überwinden. In jedem Fall gehen wir mit den PatientInnen in ein intensives Gespräch über individuelle Handlungsmöglichkeiten und Optionen.

Zum Beispiel?
Wenn ältere Menschen traurig sind, dass sie ihre Enkel nicht sehen können, weisen wir etwa auf die Möglichkeit telefonischer Kontakte hin. Die Pfiffigen probieren auch mal Skype aus und sind stolz, wenn es klappt.

Das Gespräch führte Leonie Feuerbach.

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