"Rassistisch" - Na und?

Caroline Fourest: Absurde Anschuldigungen kultureller Aneignung nicht mehr hinnehmen! - Foto: Jean-Philippe Baltel
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Einst kam die Zensur von der konservativen und moralistischen Rechten. Nunmehr entspringt sie der Linken; oder vielmehr einer bestimmten, nämlich ihrerseits moralistischen und identitären Linken. Wenn sie doch nur gegen die wirklichen Gefahren anschriee: die extreme Rechte und den wiederaufkommenden Wunsch nach kultureller Herrschaft! Aber nein, sie streitet für nichts, ereifert sich über alles und wettert gegen Stars, Werke und KünstlerInnen. Das Zeitgeschehen schäumt über vor unsinnigen Kampagnen, die im Namen der kulturellen Aneignung geführt werden.

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Man rebelliert gegen Rihanna wegen ihrer angeblich „afrikanischen“ Zöpfe; man ruft dazu auf, Jamie Oliver zu boykottieren, weil er einen „jamaikanischen Reis“ kreiert hat; in Kanada fordern Studenten die Streichung eines Yogakurses, um sich bloß nicht die indische Kultur „anzueignen“; an amerikanischen Universitäten fahnden sie nach asiatischen Menüs in der Mensa. Indessen weigern sie sich, klassische Werke zu studieren, da diese „beleidigende“ Passagen enthielten.

Man nimmt Anstoß am geringsten Widerspruch, der als „Mikroaggression“ wahrgenommen wird, was so weit geht, dass man „Safe spaces“ fordert: sichere Räume, in denen die Leute unter sich bleiben und lernen, dem Anderssein und der Debatte zu entfliehen. Selbst das Rederecht wird einer Genehmigungspflicht unterworfen, je nach Geschlecht und Hautfarbe. Eine Einschüchterung, die bis zur Entlassung von Professoren geht.

Diese Kulturpolizei geht insbesondere von einer Jugend aus, die „aufgeweckt“ sein will

Frankreich hält sich noch ziemlich gut. Doch gehen auch in diesem Land bereits Gruppen von Studenten gegen Ausstellungen und Theaterstücke vor, um deren Aufführung zu unterbinden, oder einen Redner, der ihnen missfällt, am Reden zu hindern. Manchmal zerreißen sie auch seine Bücher: Autodafés, die an das Schlimmste erinnern.

Diese Kulturpolizei geht von keinem autoritären Staat aus, sondern von der Gesellschaft und insbesondere von einer Jugend, die „aufgeweckt“ sein will, weil ultraempfindlich gegen jedwede Ungerechtigkeit. Was großartig wäre, wenn sie dabei nicht auf Unterstellungen und inquisitorische Methoden verfiele. Die Millennials gehören weithin einer identitären Linken an, die den wesentlichen Teil der antirassistischen Bewegungen und der LGBTQI-Szene beherrscht und sogar den Feminismus spaltet.

Ohne einen Aufschrei wird ihr kultureller Sieg vollständig sein. Der Einfluss ihrer Netzwerke auf Gewerkschaften, Fakultäten und politische Parteien wird größer, und sie gewinnen die Oberhand über die Welt der Kultur. Ihre Kabale lasten immer schwerer auf unserem geistigen und künstlerischen Leben. Selten bringt jemand den Mut auf, ihnen zu widersprechen.

Obschon wir in einer ungemein paradoxen Welt leben, in der die Freiheit zu hassen nie so zügellos war wie in den sozialen Netzwerken, wurde das Reden und Denken im wirklichen Leben nie so sehr überwacht. Einerseits blüht, dank Nachgiebigkeit und Deregulierung, das Geschäft mit der Aufstachelung zum Hass, zur Lüge und zur Desinformation wie noch nie, geschützt im Namen der Redefreiheit. Andererseits genügt es, dass eine kleine Gruppe von Inquisitoren sich für „beleidigt“ erklärt, um Entschuldigungen eines Stars oder die Zurücknahme einer Zeichnung, eines Produkts oder eines Theaterstücks zu erwirken.

Diese Streitigkeiten markieren den wirklichen Bruch sowohl inmitten des Antirassismus als auch zwischen den Generationen. Gestern kämpften Minderheiten gemeinsam gegen Ungleichheiten und patriarchale Herrschaft. Heute kämpfen sie, um herauszufinden, ob der Feminismus „weiß“ oder „schwarz“ ist. „Sag mir, welcher Herkunft du bist, und ich werde dir sagen, ob du reden darfst!“

Weit entfernt davon, die ethnisierenden Kategorien der suprematistischen Rechten in Abrede zu stellen, bestätigt diese identitäre Linke sie und schließt sich selbst darin ein.

Wir dürfen die absurden Anschuldigungen kultureller Aneignung nicht hinnehmen

Statt Vielfalt und Mischung zu erstreben, zerteilt sie unser Leben und unsere Debatten in „rassifiziert“ und „nichtrassifiziert“, bringt die einen Identitäten gegen die anderen auf und setzt schließlich die Minderheiten in Konkurrenz zueinander. Statt sich eine neue, mannigfaltigere Welt vorzustellen, ergeht sie sich in Zensur.

Das Ergebnis ist ein geistiges und kulturelles Ruinenfeld, das den Nostalgikern der Herrschaft zugute kommt. Man braucht nur „kulturelle Aneignung“ – ein Begriff, der sich seit erst zwölf Jahren in die öffentliche Debatte gedrängt hat – bei Google einzugeben, um 40.200.000 Treffer zu zählen. Eine Sintflut. (…)

Der Fall der Mauer und das verkündete Ende der Ideologien haben der Rückkehr des Tribalismus den Weg bereitet. Wir befinden uns nichtmehr im Kalten Krieg, sondern in einem Krieg der Identitäten. Der Generation Y, den Millennials, sind Sklaverei, Kolonialismus, Deportationen oder Stalinismus gänzlich unbekannt. Obschon sie die Welt durch das Internet auf anachronistische Weise und losgelöst von allen Zusammenhängen wahrnehmen, halten sich manche dennoch für versklavt, eingeboren oder von Völkermorden bedroht.

Das digitale Lynchen ist ihnen zu gleichen Teilen politische Schulung, Partei und politische Bewegung. Beseelt von dem Wunsch, die größte Zahl an „Likes“ zu ernten, haben sie gelernt, sich noch vom geringsten Tweet mitreißen zu lassen und gleich loszuschreien. Das geht bis zur grandiosen Nachahmung der guten alten Moskauer Prozesse, die einfacher denn je zu organisieren sind. Sie finden heutzutage an den Universitäten statt.

In einem Dossier zum Thema „Rassenbesessenheit“ beschreiben Étienne Girard und Hadrien Mathoux, zwei Journalisten der linksliberalen Zeitschrift Marianne, den „Krieg der Fakultäten“, der sich in Frankreich vor allem in der Soziologie abspielt. Das Ergebnis ist deutlich: Die Universalisten haben verloren, und die Identitären haben sich überall fest etabliert. An der Hochschule für Sozialwissenschaften, den Universitäten Paris 1 und Paris 8 oder auch an der École Normale Supérieure repräsentieren Anti-Charlie-Linke und Anhänger der „Indigenen der Republik“ nun die Norm. Die „Indigenen“ setzten sich zum Beispiel dafür ein, dass Workshops nach „Rassifizierten“ und „Nicht-Rassifizierten“ segregiert werden, „kulturelle Appropriation“ verboten und der Vorwurf der „Islamophobie“ zur Dauerbedrohung wird.

Die postmoderne Linke befindet sich im freien Fall – und die Rechte gewinnt an Bedeutung

In der öffentlichen Meinung jedoch befindet sich die postmoderne Linke im freien Fall. Wann immer sie das Wort ergreift, gewinnt die Rechte an Bedeutung. Die Linke zog sich also in die Universität zurück, so wie es die amerikanische religiöse Rechte tat, nachdem sie im Streit um Kreationismus und Evolutionstheorie den Kürzeren gezogen hatte. Im Schutz dieser Mauern hat sie eine neue Generation herangezüchtet, die sich rächt für die Niederlage der Linken.

Anstatt sie zu lehren, beim Urteilen stets Intention und Kontext zu berücksichtigen, indoktrinieren diese Linken ihre Studenten mit der identitären und opferzentrierten Ideologie des Antirassismus. Die kommende Generation, die begonnen hat, wichtige Positionen in den Bereichen der Kultur, Medien oder auch Politik zu besetzen, ist ganz der Identitätspolitik verpflichtet.

Die „Nicht-Mischung“ ist an sich noch nicht dramatisch. Sie kann sogar die freie Rede befördern. Und sie ist nachvollziehbar, wenn es etwa darum geht, die Besucherinnen eines lesbischen Filmfestivals vor Spannern und Perversen zu schützen. Die Universität jedoch muss ein Ort bleiben, an dem Ideen ausgetauscht werden und der allen offensteht. Hier darf keinerlei Rassentrennung stattfinden – auch keine umgekehrte.

Solange die identitäre Linke den Antirassismus in einer die Freiheit bedrohenden sektiererischen Manier lächerlich macht, wird die identitäre Rechte die Köpfe und Herzen und letztlich auch die Wahlen gewinnen. Indem jene die Zensur, die Abstammung, die Religion und den Partikularismus verteidigt, überlässt sie dieser die schöne Rolle, die Freiheit zu verteidigen.

Lange ist es her, dass das Unglück die Unterdrückten sowohl mit Würde als auch mit einem dicken Fell ausstattete. Die Älteren haben wirkliche Erniedrigungen erduldet, keine „Mikroaggressionen“. Die „Beleidigten“ der identitären Linken haben die Gewalt des Kampfes gegen die Rassentrennung, die Apartheid oder den Nazismus nie kennengelernt. Sie haben sich weder für das Recht auf Abtreibung geschlagen noch für das Recht zu lieben, ohne verhaftet zu werden (wie bei den Stonewall-Unruhen in New York 1969). Sie proben den Aufstand gegen asiatisches Essen in der Kantine und gegen Yoga. Ihre empfindliche Haut reagiert allergisch auf den geringsten Verdruss. Diese zur Verletzlichkeit gesteigerte Empfindsamkeit gibt den Antirassismus der Lächerlichkeit preis.

Wir müssen den Mut haben, uns als „islamophob“ bezeichnen zu lassen

Mehrere Dinge kommen zusammen, die ein solches Abdriften erklären mögen. Zunächst der legitime Wunsch, ein vulgäres, demütigendes und gehässiges Vokabular zu bekämpfen. Wenn auch die „politische Korrektheit“ heute offenkundig jedes Maß verloren hat, steht eine Rückkehr zur einst tonangebenden Sprache außer Frage. Zu Recht wird die Anstiftung zum Hass oder gar zum Mord geahndet und „hate speech“ in den sozialen Netzwerken ebenso wie den traditionellen Medien kontrolliert.

Jedoch ist die Brutalität einer Rede oder einer Zeichnung mit der einer Tat nicht zu verwechseln. Wenn man der Redefreiheit jedes Mal Einhalt gebietet, sobald eine Gruppe oder eine Person daran Anstoß nimmt, wird jede Diskussion, ja jede bloße Unterhaltung und sogar die Demokratie erstickt. Aus diesem Höllenkreis muss man ausbrechen, indem man all das nicht länger geschehen lässt; indem man sich weigert, diese inquisitorische und sektiererische Vorstellung von Identität und Kultur ernst zu nehmen.

In einem glänzenden und durch Belege gestützten Pamphlet klagt der amerikanische Politologe Mark Lilla die identitäre Linke an, sie habe „Amerika in Stücke gehauen“. Auch er plädiert für einen universalistischen Begriff von Fortschritt: „Wir müssen eine republikanische Linke werden.“ Zu dieser Linken zähle ich mich selbst; diese universalistische Auffassung halte ich der identitären Linken entgegen, und zwar in dem Gefühl der Dringlichkeit, das im Laufe meiner zwanzig Jahre währenden Untersuchung extremistischer Bewegungen wie des Front National oder der amerikanischen religiösen Rechten gewachsen ist. Der Weg der Identität führt niemals zur Gleichheit, sondern nur zur Vergeltung.

Eine konstruktive Kritik der Identitätspolitik oder der politischen Korrektheit wird nicht aus dem konservativen Lager kommen. Dort prangert man die „Tyrannei der Minderheiten“ nur an, um die Herrschaft der Privilegierten wiederherzustellen, und kehrt die Fehler des Multikulturalismus nur hervor, um zum Monokulturalismus zurückzukehren.

Diese Tyrannei des Beleidigtseins erstickt uns. Es ist Zeit, Luft zu holen

Die wahre Alternative kann nur von aufrichtigen Antirassisten kommen. Dazu bedarf es eines gewissen Muts, denn man muss sich mit Freunden und Genossen herumärgern und es aushalten, als „rassistisch“ und „islamophob“ beschuldigt zu werden. Was furchtbar anstrengend ist. Dennoch muss man der Einschüchterung trotzen, wenn man dem Krieg der Identitäten Einhalt gebieten will.

Eine solche Intervention erfordert, dass man die absurden Anschuldigungen kultureller Aneignung nicht länger hinnimmt; dass man Orte und Stellen an den Universitäten zurückerobert; dass man von Neuem lernt, die Gleichheit und nicht nur die Vielfalt zu verteidigen. Ohne der Versuchung nachzugeben, den Kampf gegen soziale Ungleichheiten mit dem gegen Diskriminierungen in Konkurrenz zu setzen.

Die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie ist weder zweitrangig noch ein bloß „bürgerliches“ Gefecht. Diskriminierung tötet, vernichtet und entwürdigt.

Derart giftige Vorurteile muss man weiterhin angreifen, doch auf intelligente Art, mit dem wirklichen Ziel, zu überzeugen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Stereotypen abzubauen, die Ketten der ethnischen Zugehörigkeiten zu sprengen und die Aufteilung der Rollen und Geschlechter zu überprüfen. Der Traum fluider Identitäten, freier Sexualitäten, des Transkulturalismus und einer gemischten Gesellschaft bezeichnet das genaue Gegenteil der Welt der identitären Linken, die sich von Konflikten, die die Menschen in ihre jeweilige Schublade stecken und Opferkonkurrenz nährt.

Diese Tyrannei des Beleidigtseins erstickt uns. Es ist Zeit, Luft zu holen und von neuem zu lernen, die Gleichheit zu verteidigen, ohne der Freiheit zu schaden.

CAROLINE FOUREST

Der Text ist ein Auszug aus dem gerade erschienenen Essay von Caroline Fourest: „Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer“, Ü: Carstiuc/Feldon/Hesse (Edition Tiamat, 18 €).

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