Helga Schütz: Im Land geblieben

Foto: Christian Werner
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Männliche Helden agieren bei ihr sonst eher auf den ­Nebengleisen, doch die ersten Seiten in ihrem jüngsten Buch gehören einem Mann. Helga Schütz hat ihm ihren Geburtsort zum Nachnamen gegeben: Falkenhain. Dort, in Niederschlesien, wurde sie vor 80 Jahren geboren. Im November 1944 kam sie nach Dresden, wo sie bei den Großeltern aufwuchs. An der Hand ihrer Großmutter lernte sie die Stadt noch kennen, bevor die Bomben fielen.

Um mit Thomas Falkenhain „Die Kirschendiebin“ zu beginnen, sagt Helga Schütz, habe sie ihn erst einmal an ihren eigenen Schreibtisch gesetzt. Der steht nun lange schon in Potsdam-­Babelsberg. Der Mann blickt in den Garten. Er sieht nicht, was die Autorin beim Schreiben sah: einen Zwiesel. Ein Zwiesel ist kein Tier, sondern ein Baum, der sich gabelt.

Helga Schütz ist eine Pflanzenkennerin. Ihr lehr- und assoziationsreiches Buch „Dahlien im Sand“ kündet davon. Sie hat eine Gärtnerlehre absolviert im zerstörten Dresden. Wie es damals war, als Bettgestelle zu Hochbeeten wurden, als noch Trümmer und Metall in der Erde lagen, wo neues Leben entstehen sollte, kann man in anderen Büchern von ihr finden. Im Roman „Knietief im Paradies“ wird Eli Gärtnerin, im folgenden Buch „Sepia“, 2012 erschienen, verlässt Eli Dresden, um nach Potsdam zu gehen. Die Kinematographie lockt sie dorthin. Auch das hat sie mit der Autorin gemein, die 1958 bis 1962 an der Filmhochschule studierte.

Beim Schreiben ihres letzten Romans schaute sie auf eine Buche, deren Stamm in zwei fast gleichen Teilen weitergewachsen sei, erzählt Helga Schütz bei einer Lesung im Berliner Brecht-Haus. Nach Jahrzehnten hätten die Stämme sich wieder angenähert und getroffen. Der Baum kann für die Kurzfassung der „Kirschendiebin“ herhalten: Falkenhain liebte in jungen Jahren seine Kommilitonin Melina Weiß, die aber in den Westen abhaute. Dass sie ihm noch Briefe schickte, erfuhr er erst, als er seine Stasi-Akten einsah, zu spät. Schließlich begegnen die beiden sich wieder.

„Es weiß sowieso niemand, was Liebe ist“, lautet ein Zitat aus dem Buch auf dem Umschlag. Wenn man Helga Schützens ­Bücher liest, drängt sich jedoch der Gedanke auf, dass diese Autorin eine Menge über die Liebe weiß. Über die heimliche und still leidende, die überraschend alles verdrängende und jene, die bleibt. Und dass den Deutschen so oft die Politik dazwischen funkte: „Annas Liebe taugte nichts, so wie die Landeswährung nichts taugte, die Liebe war löchrig, wie die Straße“, heißt es im Roman „In Annas Namen“ von 1986.

Helga Schütz gehört zu einer Schriftstellergeneration, der in der DDR eine besondere Rolle zukam. Sie ist im Lande geblieben, als sie erfahren musste, wie Filme, für die sie das Drehbuch geschrieben hatte, nicht in die Kinos gelangten. Damals lebte und arbeitete sie mit dem Regisseur Egon Günther zusammen. „Wenn du groß bist, lieber Adam“, 1966 entstanden, wurde verboten. Der Film deckte auf komische Weise Lügen in der Gesellschaft auf, mit einer magischen Taschenlampe. Seine Premiere erlebte er 1990.

Helga Schütz schrieb für dasselbe Publikum wie Christa Wolf, Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner, Helga Königsdorf, und die Leser, Leserinnen zumal, verehrten sie dafür, weil diese Bücher Lücken des Nichtgesagten füllten. Sie erzählte von einer Jugend im Nationalsozialismus in ihrem Debüt „Vorgeschichten oder schöne Gegend Probstein“ (1970). Sie blieb ihrer damals erfundenen Figur Jette und deren Weg treu, erzählte mit ihr von den Anfängen in der DDR, „Jette in Dresden“ (1977), stellte diese Jette als Erwachsene mit erwachseneren Namen 1980 ins Zen­trum von „Julia oder Die Erziehung zum Chorgesang“. Wer den Roman damals im Osten las, wusste, dass eine Gemeinschaft wie ein Chor eine Heimat bedeuten kann, aber auch Zwang.

Helga Schütz hatte da bereits gezeigt, dass sie sich nicht alles gefallen lässt, mit ihrer Unterschrift unter die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Die Staatssicherheit fasste die Spitzelberichte über die Autorin im Operativen Vorgang „Jette“ zusammen.

In den Endjahren der DDR, als man nicht ahnte, dass es die letzten sind, kam eine Gruppe von Frauen zusammen, Autorinnen wie Christa Wolf oder Daniela Dahn, Filmemacherinnen auch, die einen Austausch abseits der offiziellen, kontrollierten Kanäle suchten. Freundschaften von damals hat Helga Schütz ­behalten, exklusiv geblieben sind die „Weibertreffs“ auch.

Die genaue, nicht psychologisierende Schreibweise dieser Autorin wird gern mit ihrer Arbeit für den Film erklärt, weil man auf der Leinwand ja auch nicht sehen kann, was in den Figuren vorgeht. Was Julia oder Jette, Anna oder Eli, was Adam („Vom Glanz der Elbe“, 1995) oder Thomas Falkenhain und Melina Weiß im jüngsten Buch denken und tun, ergibt sich aus dem, was sie erleben.

Drehbücher schreibt Helga Schütz schon länger nicht mehr, aber sie wird noch oft nach Potsdam ins Filmmuseum zu Gesprächen eingeladen oder als Gast an die Filmuniversität Babelsberg, wo sie jahrelang lehrte. Liest Helga Schütz die Sätze vor, ruhig, mit fester Stimme, hat jede Gestalt ihren eigenen Rhythmus. Was ihre Figuren sehen, teilt sich in poetischen Bildern mit. Wie es ihnen ergeht über die Jahrzehnte, das fügt sich zu einer detailreichen Chronik ostdeutschen Lebens. Leicht zu verfilmen ­wären ihre Bücher nicht.

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Helga Schütz: Die Kirschdiebin (Aufbau, 18€)

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