Kapitäninnen: Gegen den Wind

Foto: Till M. Egen/ Sea-Watch.org
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Wieverröck an Bord, dat gift Malheur.“ – „Alles, was nicht im Stehen über die Reling pinkeln kann, hat an Bord nichts zu suchen!“ – „Frauen und Schweine gehören nicht an Bord.“ Matrosen-Sprüche. Seemannsgarn. Männer aus Stahl, Boote aus Holz. Frauen nicht erwünscht. Eine Frau an Deck war bis ins 19. Jahrhundert sogar eine größere Katas­trophe als ein Mastbruch, die Pest an Bord oder Heimsuchungen durch den Klabautermann.

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Erst 1945 hob die Seeberufsgenossenschaft das Arbeitsverbot für Frauen in seemännischen Berufen auf. Zehn Jahre später erwarb Annaliese Frieda Sparbier als erste Frau in Deutschland das Kapitänspatent – zuvor hatte sie sich als Junge an Bord geschmuggelt, der angeblich einen Aufsatz über Heringsfang schreiben wollte. Der Kapitänin wollte nur leider keine Reederei einen Kahn anvertrauen. Erst 1987 stand erstmals ein weiblicher Kapitän auf der Kommandobrücke. Bis heute sind sie eine Seltenheit. Doch es gibt sie: mutige Frauen auf See.

Eine Kapitänin wurde in diesem Sommer zu ihrem Gesicht. Carola Rackete. Die Frau, die es wagte, mit der „Sea Watch 3“ politischen Sprengstoff in den Hafen Europas zu manövrieren. Die 31-Jährige legte an und damit den Zynismus der Flüchtlingspolitik offen.

„No, I will proceed!“ (Ich mache weiter) sprach sie mit stoischer Ruhe ins Schiffsmikro als das Polizeiboot sie aufforderte, den Motor auszuschalten und das Anlegen im Hafen von Lampedusa zu stoppen. Der Rest ist Geschichte. Die Tatsache, dass Rackete eine Frau, eine Kapitänin ist, macht sie umso spektakulärer.

„La Capitana“ war Italiens Innenminister Matteo Salvini entgegengetreten. Dem selbsternannten „Capitano“ der rechten Lega-Partei. Eine 31-jährige Kapitänin ohne Lametta auf den Schultern, dafür im Tank-Top, mit Dreadlocks, gepiercten Ohren und wilder Entschlossenheit in den Augen. Ein Schlag in Salvinis Männerehre und ein Stich das Herz seiner Migrationspolitik, die illegales Anlegen an italienischen Küsten rigoros verbietet und die Gewässer vor Italien zu Massengräbern macht. Racketes Worte: „Ich bringe sie jetzt in Sicherheit“, gingen um die Welt.

„Hilf lieber den Kindern und Behinderten in Deutschland, statt Schiffe zu lenken!“ höhnte Salvini. Als „deutsche Zecke und Kommunistin“, als „verwöhnte Nervensäge“, als „kleine Angeberin, die nicht steuern kann“ beschimpfte er „das dumme deutsche Mädchen“. Einen Kapitän hätte der Italiener auf diese Weise sicher nicht beleidigt. „Sie soll in Afrika Blowjobs machen“ rieten gar seine Parteifreunde.

Wieso traut die 1988 in Preetz bei Kiel geborene Rackete sich sowas? Und wie ist sie Kapitänin geworden? Nach dem Abitur 2007 studierte Carola Nautik an der Seefahrtschule Elsfleth, wo sie 2011 ihr Studium abschloss. Sie fuhr für Kreuzfahrtreedereien zur See und setzte von 2015 bis 2018 noch in England ein Studium des „Conservation Management“ drauf (das ihr bei Salvini genutzt hat). Bevor sie sich bei „Sea-Watch“ engagierte, stand Rackete für „Greenpeace“ und das Alfred-Wegener-Meeresforschungsinstitut auf der Schiffsbrücke, da ging es um Polarforschung.

Jüngst verlieh Paris den beiden deutschen Kapitäninnen Carola Rackete und Pia Klemp die höchste Verdienstmedaille der Stadt. Und 100.000 Euro Soforthilfe für die französische Seenotrettungsorganisation „SOS Méditerranée“. 100.000 Euro sind gerade mal ein Fünftel von dem, was Kapitänin Pia Klemp brauchen wird, um aus den Folgen ihrer Rettungsmission heil herauszukommen. Auch Pia Klemp fuhr Einsätze für „Sea Shepherd“ und „Sea Watch“ und hat mehr als 5.000 Menschen das Leben gerettet. Und genau wie Rackete droht auch Klemp als Kapitänin der „Iuventa“ wegen „Beihilfe zur illegalen Einwan­derung“ in Italien eine Anklage – allerdings in mehreren Fällen.

Die Brücke ihrer „Iuventa“ war verwanzt, Telefonate wurden abgehört, es gab verdeckte Ermittler des italienischen Geheimdienstes. Klemp drohen heute 20 Jahre Haft und eine Geldstrafe von 15.000 Euro pro geretteter Person. Ein jahrelanger Schauprozess steht ihr bevor. Die gebürtige ­Bonnerin geht zwar nicht von einer Verurteilung aus, doch allein die Anwalts- und Gerichtskosten belaufen sich auf etwa 500.000 Euro. Eine ­Spendenaktion läuft (iuventa10.org).

Andere italienische Gerichte haben festgelegt, dass die Rettung von Menschen aus Seenot alleroberstes Gebot sei. Es gibt mehrere Präzedenzfälle, bei denen es die gleichen Vorwürfe gab. Die Angeklagten wurden allesamt freigesprochen. „Das Verfahren bezweckt etwas ganz anderes: Uns für eine Zeit lahmzulegen und andere Hilfsorganisationen abzuschrecken“, sagt Klemp.

Sie nennt das zentrale Mittelmeer eine „Todeszone“. RetterInnen würden kriminalisiert, traditionelles Seerecht beschädigt. „Das Seenotrettungsrecht ist nicht dafür ausgelegt, mit Leuten umzugehen, die niemand haben will.“ Klemp weiß, dass Handelsschiffe ihre Routen verlegt haben, um nur ja keinem Schiffbrüchigen zu begegnen. Sie sah italienische und französische Kriegsschiffe an MigrantInnen vorbeifahren, die um ihr Leben kämpften. Sie sagt, sie wisse von Notrufen, die die zuständige Koordinationsstelle in Rom, das MRCC, nicht weitergeleitet habe.

Einmal konnte Klemp 60 Menschen retten – 30 nicht. Sie ertranken. Darunter ein zweijähriger Junge. Das Ärzteteam zog ihn aus dem Wasser, Wiederbelebung zwecklos. Da keines der anwesenden EU-Kriegsschiffe helfen wollte und die Behörden keinen Hafen zuweisen wollten, fuhr Klemp drei Tage lang mit dem toten Jungen im Tiefkühler umher. Die Mutter war dabei.

Erlebnisse wie dieses beschreibt Kapitänin Klemp in ihrem gerade erschienenen Buch mit dem Titel „Lass uns mit den Toten tanzen“. Zurzeit sitzt sie in Bonn auf dem Trockenen, der Prozess in Sizilien kommt einem Berufsverbot gleich. Einen festen Wohnsitz hat sie seit zehn Jahren nicht. Dabei könnte Klemp ein gutsituiertes Leben als Biologin führen. Pia stammt, wie sie selbst sagt, aus „der oberen Mittelschicht“, einem „liebevollen, tollen Elternhaus“. Als Tauchlehrerin in Indonesien verliebte sie sich in die Schönheit des Meeres, sah jedoch gleichzeitig die katastrophale Entwicklung des Ökosystems. So kam Pia zunächst zur internationalen Meeresschutzorganisation „Sea Shepherd“. Sie heuerte als ungelernte Deckshand an, arbeitete sich zur Decks­managerin und Offizierin hoch. Es folgte der „Master of Yachts“, ein Zertifikat, um Schiffe der NGOs fahren zu dürfen.

Klemp zog verbotene Netze aus dem Golf von Kalifornien, um den bedrohten Totoaba-Barsch zu schützen, fuhr Kampagnen gegen illegalen Walfang in der Arktis. Ihr Körper ist übersät von maritimen Tattoos.

2015 wechselte sie bewegt von der Tragödie im Mittelmeer zur privaten Seenotrettung: „Ich bin Seefahrerin, ich kann das, und als Deutsche und Europäerin habe ich einen Riesenanteil an den Ursachen für Flucht“, sagt sie.

Weltweit gibt es heute rund 100 Kapitäninnen, das sind ein Prozent aller Seefahrer. Sie haben in der Handelsmarine, auf Kriegs- und Kreuzfahrtschiffen das Kommando. Die Handels- und Kreuzfahrtschifffahrt ist die letzte große Männerbastion. Und sie fällt nur sehr, sehr langsam. Unter Seeleuten, in Häfen herrscht noch immer ein raues Klima.

Für Dagmar Klenk, ehemalige erste Vorsitzende der Frauenorganisation „Women‘s International Shipping & Trading Association Germany“ (Wista-Germany), ist die schwierige Vereinbarkeit von Kapitäninnen-Job und Familienleben ein Grund, warum Frauen eher nautische Karrieren an Land anstreben: „Ausbildung und Studium dauern ungefähr neun Jahre und dann muss ein Kapitän auch noch berufen werden. Das wiederum kann Jahre dauern.“ Hinzukommen Bereitschafts-, Wach- und Schichtdienste und monatelange Abwesenheit von zuhause. „Lange gab es in der Branche Vorbehalte – etwa, dass Frauen für den schweren Job zu zart besaitet seien“, sagt Klenk. Angesichts der zunehmenden Automatisierung an Bord spiele es aber keine Rolle mehr, wie viele Kilo man schleppen könne. Bei „Wista-Germany“ sind unter anderem Juristinnen, Beraterinnen, Disponentinnen, Schiffsmanagerinnen oder Sicherheitsexpertinnen organisiert. Sie arbeiten bei Reedereien, Werften, Ship-Brokern oder in der Hafenverwaltung.

Drei Monate zur See und drei Monate zu Hause – der heute gewünschte Rhythmus auch unter Männern. Die Boote sind nicht mehr aus Holz, die Männer nicht mehr aus Stahl. Nicht mal mehr im Fernsehen. Zum Jahreswechsel wird Florian Silbereisen mit dem „Traumschiff“ in See stechen. Nicht gerade ein Seewolf.

Frauen auf See sind zwar mittlerweile gern gesehene Arbeitskräfte, allerdings nur im Servicebereich. Tief unter Deck in den Großküchen und Wäschereien der Kreuzfahrtschiffe, als Zimmermädchen, Restaurantbedienung oder Wellness-Beauftragte arbeiten weltweit mehr Frauen als Männer auf Schiffen. Je höher der Rang, desto weniger Frauen.

In Deutschland sind laut „Verband deutscher Reeder“ gerade mal 14 Frauen unter 1.029 Kapitänen, die das „große Patent“ besitzen, also die ganz großen Pötte steuern dürfen. Fünf von ihnen sind auf Frachtschiffen auf großer Fahrt. Eine von ihnen ist Beate Stelzer.

EMMA spricht mit ihr per Satellitentelefon, da schippert sie gerade durch einen Sturm an der Westküste vor Chile nach San Antonio. Seit 2018 ist Beate Kapitänin unter anderem auf der „Santa Ursula“, einem riesigen Containerschiff der traditionsreichen Reederei Hamburg Süd: 60.000 PS, 8.200 Container, 24 Mann Besatzung. Vor ihrem Leben als Kapitänin war Beate Stelzer Krankenschwester – ihre Mutter wollte es so. Stress, herablassende Ärzte, schwierige PatientInnen. Beate will raus aus all dem. Nur wohin? Als Kind hatte die gebürtige Hannoveranerin im Ostsee-Urlaub den großen weißen Schiffen am Horizont hinterher geträumt. Das ist es: Kapitänin werden! Die Mutter ist entsetzt. Die Tochter fest entschlossen.

Trotz ihrer 35 Jahre und viel Gegenwind kündigt sie, holt das Abi nach und beginnt ein Nautik-Studium an der Hochschule Emden-Leer. Die Kommilitonen machen Witze über die 40-jährige Studentin und eine von zwei Frauen im Hörsaal. Sechs Semester später hält sie das Diplom in der Hand und gehört zu den Jahrgangsbesten. Abschlussnote: 1,0.

„Den Panamakanal liebe ich besonders“, sagt die Kapitänin. „Auch den Amazonas bis hoch nach Manaus!“ Fasziniert ist sie von großen Meeresschildkröten, die manchmal an der Bordwand schwimmen, von Walen, vom Sonnenaufgang über der Sahara, von Hurricanes bei ordentlichem Seegang. Einmal hat sie am Himmel einen Kometen entdeckt. Und noch immer freut sich die Kapitänin über den Sternenhimmel, wenn sie nachts aus der Brücke tritt. „So etwas sieht man an Land nie.“

Und wie läuft es so mit der Mannschaft? „This is our captain!“, prahlen die Männer ihrer Besatzung gern, wenn sie beim Anlegen in fremden Häfen dem Bodenpersonal begegnen. Es kam auch schon vor, dass die komplette Besatzung eines Schwesternschiffes vorbeischaut – nur um sich zu vergewissern, dass die Gerüchte über eine Kapitänin wirklich stimmen.

Einmal, als Stelzer noch dritte Offizierin war und Ladungswache hielt, wurde sie von chinesischen Männern der Crew umringt und nicht aus dem Kreis rausgelassen. Über Funk rief sie Hilfe, machte sich breitschultrig und packte einen der Jungs am Kragen. „In solchen Momenten muss man Power zeigen!“, sagt sie. Die strikte Hierarchie, die auf Schiffen herrscht, hilft dann. „Die Ränge werden akzeptiert. Einfach weil jeder weiß, dass eine Nichtbeachtung bestraft wird.“

Und auch Carola Rackete hielt sich an die Hierarchie, die auf Schiffen unumgänglich ist. Der Kapitän hat das Steuer in der Hand, er trifft die Entscheidungen, er haftet dafür. Er ist für die Menschen an Bord verantwortlich. Er geht als letzter von Bord. Oder sie. Racketes Crew schlief in Kajüten, die Flüchtlinge hinten auf dem Achterdeck. Das Essen, die Toiletten, alles ist streng voneinander getrennt.

„Aye, Aye, Frau Kapitän“, heißt es an Bord der „Alexander von Humboldt“. Als bundesweit erste Frau gibt Maren Reif auf einem Großsegler (65 Meter lang) die Kommandos. (Dem großen Publikum ist der markante Dreimaster mit den grünen Segeln als das „Aushängeschiff“ des Becks Bieres ein Begriff.) Ein wunderschöner Windjammer.

Maren Reif betrat ihn im Jahr 2003 als Trainee zum ersten Mal. Das sollte ihr Leben verändern. Maren: „Der Törn von Travemünde durch die ­Biskaya nach Lissabon hat mich so begeistert, dass ich danach meinen Job als Kommunikationsdesignerin überdacht und ein Nautik-­Studium begonnen habe.“ Nach Abschluss des Studiums ging sie zu einer Hamburger Reederei, erwarb auf Containerschiffen das internationale Patent zum „Kapitän auf Großer Fahrt“ und arbeitet heute als Nautische Inspektorin.

Seit ihrer Leichtmatrosenprüfung 2004 zählt Maren Reif zur Stammbesatzung auf dem Großsegler und seit 2011 auch auf der Nachfolgerin „Alexander von Humboldt II“. In dieser Zeit hat sie an Bord fast alle Positionen bis zum Kapitän durchlaufen. Sie kletterte hoch in die Takelage, setzte die Segel, schrubbte unten das Deck. Nun also das Kommando.

Dass eine Frau auf diesem Segler das Sagen hat, könnte symbolträchtiger nicht sein. Es ist diese Art Segelschiff, mit dem alle Seefahrt begann. Die Schiffe, um die sich alle großen Geschichten, alle Mythen ranken. Der Inbegriff der Seefahrer­romantik.

Auf solchen Schiffen waren Frauen lange Zeit nur als barbusige Gallionsfiguren erlaubt. Sie sollten Glück bringen und mit ihrem wogenden Busen Neptun besänftigen. Jetzt gibt eine Frau Neptun die Befehle. Und vielleicht wären Carola Racketes stoischen Worte beim Anlegemanöver von Lampedusa ein gutes Mantra für alle Frauen, die sich auf die Brücke und gegen den Wind stellen wollen: „I will proceed.“

Weiterlesen: Pia Klemp: Lass uns mit den Toten tanzen (Maro, 20€)

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