Polnische Richterin darf bleiben!

Foto: Agencja Gazeta/Reuters
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Noch ist Polen nicht verloren – aber es ist fünf vor zwölf. Seit zwei Jahren zerschlägt die nationalkonservative Regierung Stück um Stück die Unabhängigkeit der Justiz. In einem letzten Akt will sie sich der unbequemen Präsidentin des Obersten Gerichts (SN) entledigen: Małgorzata Gersdorf. Die Rechtsprofessorin hat laut Verfassung eine sechsjährige Amtszeit, die 2020 endet, soll aber jetzt schon gehen. Dagegen wehrt sie sich vehement. Und weil das Oberste Gericht die letzte Bastion des formal demokratischen Rechtsstaates ist, gilt die Juristin inzwischen als eine Art polnischer Jeanne d’Arc.

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„Seit Monaten haben wir es in Polen mit einem beispiellosen Angriff auf das Gerichtssystem zu tun“, klagt Gersdorf. Die Juristin für Arbeitsrecht, seit zehn Jahren als Richterin am SN und seit 2014 dessen Präsidentin, ist mit ihren 65 Jahren selbst höchst demokratieerfahren. Aber gerade das Alter der Richterin wird jetzt als Waffe gegen sie gewendet. Die „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) will sie in den Zwangsruhestand schicken.

Gersdorf wehrt sich. „Ich stelle fest, dass meine Amtszeit bis zum 30. April 2020 andauert und ich kraft des höchsten Rechts der Republik Polen, der Verfassung, zur Amtserfüllung verpflichtet bin”, bekräftigte die Oberste Richterin in einem Brief an Staatspräsident Andrzej Duda und kehrte vorzeitig aus dem Urlaub zurück. Bei ihrer Ernennung zur Gerichtspräsidentin 2014, und damit zur einflussreichsten Juristin in dem konservativen und patriarchalisch geprägten Polen, hatte sie für „das Vertrauen, das damit Frauen entgegengebracht wird“, gedankt.

Die gebürtige Warschauerin, rhetorisch sehr gewandt, wehrt sich seit einem Jahr gegen die geplanten Justizreformen. Sie trat im Parlament auf, gab zahlreiche Interviews. Anfang Juli nun erklärte die Vollversammlung der 63 Obersten Richterinnen und Richter sich solidarisch mit ihrer Chefin. Daraufhin legte die PiS ein weiteres Gesetz nach, um neue Richter in den Obersten Gerichtshof zu hieven, die Präsidentin Gersdorf abwählen sollen – die polnischen Richter konterten mit einer Klage beim Europäischen Gerichtshof.

Der Streit um die Oberste Richterin ist nicht der erste in der nunmehr fast dreijährigen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Justiz, in der Gersdorf eine zentrale Rolle spielt. Die zum zweiten Mal verheiratete Mutter eines Sohnes war früher eine gute Bekannte des heutigen PiS-Parteichefs Jarosław Kaczyński. „Wir lebten in Warschau Haus an Haus”, erinnert sich Gersdorf, deren Eltern im kommunistischen Polen hochrangige Juristen waren. Ab 1980 war sie, wie auch Kaczyński, in der großen Gewerkschaftsbewegung Solidarność aktiv.

Als Gerichtspräsidentin ist Gersdorf zugleich Vorsitzende des Staatstribunals, vor das Politiker, die gegen die Verfassung verstoßen, zitiert werden können. Der Begriff „Verfassungsbruch“ ist in der öffentlichen Debatte in Polen in den letzten Jahren einer der geläufigsten. Zudem ist das Oberste Gericht die Kontrollinstanz für die allgemeinen Gerichte – auch bei Wahlbeschwerden. In der Opposition werden daher Vermutungen laut, die PiS wolle die Macht über das Oberste Gericht, auch um Wahlen manipulieren zu können.

Dass Gersdorf und das Gros ihrer RichterkollegInnen sich so entschlossen zur Wehr setzen können, hat auch mit der Unterstützung von Millionen PolInnen bei den Protesten zu tun, bei denen auffallend viele Frauen im Vordergrund stehen. Der „Polenweite Frauenstreik“ etwa am 8. März ist inzwischen eine feste Größe. Als am 18. Juli 2018 Menschen vor dem Parlament, dem Sejm, protestieren, wurde ein Foto zur Ikone: das von der Schriftstellerin Klementyna Suchanow, der Polizisten Handschellen anlegen. Suchanow hatte an das Parlamentsgebäude in großen Lettern geschrieben: „Zeit für das jüngste Gericht“. Im Polnischen heißt das jüngste Gericht das „letzte“.

Und das letzte Gericht ist das von Gerichtspräsidentin Małgorzata Gersdorf. Von ihr wird in den kommenden Wochen das Schicksal Polens abhängen.

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