Maria Sibylla Merian - geniale Malerin

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Im Jahre 1699 segelt eine 52-jährige Frau mit ihrer Tochter von Amsterdam nach Südamerika. Maria Sibylla Merian wagt die abenteuerliche Reise in die neue Welt hundert Jahre früher als Alexander von Humboldt. Ihr Ziel ist Surinam, eine holländische Kolonie nördlich von Brasilien.

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Maria Sibylla Merian reist weder im Auftrag eines Fürsten noch einer Handelsgesellschaft. Sie will die Schmetterlinge des tropischen Regenwaldes beobachten und zeichnen. Nach drei Monaten auf See geht sie in Surinams Hauptstadt Paramaribo an Land.

Die reichen Plantagenbesitzer, die in weißen Holzvillen residieren, belächeln ihr ungewöhnliches Interesse: "Die Menschen haben dort auch keine Lust, so etwas zu untersuchen, ja sie verspotten mich, daß ich in dem Land etwas anderes suche als Zucker."

Sie war eine der ersten modernen Naturwissenschaftlerinnen überhaupt

Spott und Mißtrauen haben die Merianin jedoch noch nie abgehalten, ihren Weg zu gehen. Nur so konnte aus ihr eine geniale Malerin und Insektenforscherin werden, eine der ersten modernen Naturwissenschaftlerinnen überhaupt.

Maria Sibylla Merian kam am 2. April 1647 in Frankfurt am Main auf die Welt. Im Alter von drei Jahren verlor sie ihren Vater, den berühmten Kupferstecher und Buchverleger Matthäus Merian. Auf dem Totenbett soll ihr Vater prophezeit haben: „Bin ich schon nicht mehr da, wird man noch sagen: Das ist Merians Tochter." Maria Sibyllas Horizont war also schon früh weit gespannt.

Für die Merian-Tochter war auch die zweite Heirat der Mutter, Johanna Sibylla Merian, mit dem Blumenmaler Jacob Morell ein Glücksfall. Morell erkannte und förderte die Talente seiner Stieftochter. Er gab ihr einen Arbeitsplatz in seiner Malwerkstatt und einen Lehrmeister zur Seite. Maria Sibylla lernte früh den Umgang mit Öl- und Wasserfarben, sie malte auf Papier und Pergament und übte sich im Kupferstich.

Mit etwa 12 Jahren brachte Maria Sibylla erstmals in einem Kistchen Raupen aus einer Seidenraupenzucht mit nach Hause und fütterte die Tiere mit Maulbeerblättern. Eines Tages sah sie, wie ihr "Seidenwurm" sich in einem Kokon einsponn und schließlich aus dem Gespinst ein Falter schlüpfte, der Seidenspinner. Diese wunderbare Verwandlung, die in Maria Sibylla  Merian  eine  tiefe  Neugier weckte, hielt sie in Zeichnungen fest. Dies war "Anno 1660 in Frankfurt am Main meine erste Unterfindung."

Mit 12 begann sie "Dattelkerne" zu sammeln, die Puppen von Schmetterlingen

Fortan sammelte sie alle dunklen, länglichen und harten Gebilde. Es waren die Puppen der Schmetterlinge, die damals "Dattelkerne" hießen. Sie widmete sich den " Sommervögeln" und ihren Entwicklungsstufen: Ei, Raupe, Puppe und Falter. Dieser rätselhafte Zyklus, dieses Werden und Vergehen, faszinierte das ernste Mädchen: "Ich entzog mich deshalb aller menschlichen Gesellschaft und beschäftigte mich mit diesen Untersuchungen." Zwischen ihrem 13. Und 18. Lebensjahr fand Maria Sibylla das Arbeitsgebiet, dem sie ihr Leben lang treu bleiben sollte. Ihre Kunstfertigkeit stellte sie in den Dienst der Naturbeobachtung.

Auch die Heirat mit dem Nürnberger Maler Johann Andreas Graff im Jahre 1665 und die Geburt der Tochter Johanna Helene drei Jahre später brachten sie nicht davon ab. Maria Sibylla, die neue Frau Gräffin, zog 1670 in die Heimatstadt ihres Mannes. In Nürnberg bewohnte die Familie ein großes Haus mit Garten am Milchmarkt. Dort entfaltete sie in den ersten zehn Nürnberger Jahren eine ungeheure Aktivität.

Maria Sibylla Merian gründete eine Stick- und Malschule für die Damen der oberen Schichten und belieferte diese "Jungfern-Company" mit Malutensilien und Farben. Sie bemalte Atlas und Linnen für Fürstinnen und schmückte ein Feldherrenzelt mit bunten Blumen und Schmetterlingen. Diese Aufträge und kunstgewerblichen Arbeiten sicherten den Lebensunterhalt der jungen Familie, zu der 1678 noch die zweite Tochter Dorothea Maria hinzukam.

Maria Sibyllas Ehemann konnte - oder wollte - nicht so viel zum Unterhalt der Familie beitragen. Gemeinsam gab das Ehepaar Graff die begehrten Stick- und Malvorlagen als "Blumenbuch" heraus; 1675 erschien der erste, zwei Jahre später der nächste und 1679 der dritte und letzte "Blumen-Theil".

Merian arbeitete autonom, mit Intuition und
viel Disziplin

Trotz aller Arbeit betrieb Maria Sibylla Merian ihre Forschungen in Nürnberg systematischer als je zuvor. Wochen- und manchmal monatelang suchte sie geduldig nach dem fehlenden Glied in einer Verwandlungskette, zählte und notierte sie die Lebenstage von Raupen und Puppen. Sie tat dies ohne jede Anleitung, autonom und souverän, mit Intuition und viel Disziplin.

Ihren enormen "Fleiß, Zier und Geist" lobte Joachim von Sandrart im Jahre 1675 in seiner ersten deutschen Kunstgeschichte. Der Autor konnte es sich nicht verkneifen zu betonen, dass Frau Gräffin zwar "immerdar" der römischen Göttin Minerva "ihre Tugenden aufopfert", dass sie dies aber schaffe "neben der regulierten guten Haushaltsführung." Karrierefrauen wurden also schon damals kritisch beäugt.

Sicher tuschelten die Bewohner der Altstadtgassen auch über diese seltsame Frau, die nach "Gewürm" in der Erde wühlte. Denn Mücken und Raupen galten im 17. Jahrhundert als aus Schlamm gezeugte Teufelsbrut, Schmetterlinge als Hexenwerk. Einem mittelalterlichen Volksglauben zufolge nahmen Hexen die Gestalt der schönen Tiere an, um so getarnt Milch- und Buttervorräte zu verderben. Das alte Wort "Schmetten" bedeutete Milch und Sahne, und der "Schmetterling" war ursprünglich ein "Schmantlecker", ein Buttervogel oder eine Butterfliege. Im Englischen heißt er noch heute so: butterfly.

Mut gehörte dazu, diesem Aberglauben die eigene Beobachtung entgegenzusetzen, "daß alle Raupen aus ihrem Samen, so die Vögelein gepaart, hervorkommen". Maria Sibylla Merian ging zu ihrer Zeit mit solch scharfsinnigen Aussagen das Risiko ein, als Hexe oder Zauberin angeklagt, gefoltert, ja auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.

Als das erste "Raupenbuch" erschien, wurden Frauen noch als Hexen verbrannt

Im Jahre 1684 verdächtigten die Nürnberger zum Beispiel ein altes Weib, als Spinne das Mädchen Gertraud Sophia in wilde Zuckungen versetzt zu haben, und verbrannten sie auf dem Scheiterhaufen. Das war gerade fünf Jahre nachdem Maria Sibylla Merian den ersten Teil des "Raupenbuches" im Nürnberger Verlag ihres Mannes veröffentlicht hatte. Ihr bahnbrechendes Werk trug den Titel: "Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung''. Es lieferte eine erste bildliche, noch heute verblüffend genaue Systematik der Schmetterlinge.

Die Beobachtungen verteilen sich auf 50 Kupferstiche, die Maria Sibylla alle "nach dem Leben" gemalt, gestochen und auf Bestellung koloriert hat. Im Mittelpunkt jeder Tafel steht die Futterpflanze, auf die ein Falter angewiesen ist. Auf Blättern, Stengeln und neben der Pflanze liegen Eier, kriechen Raupen, hängen Puppen, sitzen oder flattern die "Sommer- und Mottenvögelein". Jeder Kupfer des Raupenbuches bildet eine kleine Welt ab, ohne überladen zu wirken, zeigt einen Kreislauf. Modern ausgedrückt: Maria Sibylla Merian dachte in ökologischen Zusammenhängen.

Keiner der zeitgenössischen Insektenforscher, deren Werke die Merianin kannte, stellte so deutlich die Abhängigkeit der Schmetterlinge von einer Futterpflanze dar. Das war kein Zufall.

Maria Sibylla Merian, als Frau Außenseiterin in der Wissenschaft, setzte die verstehende und systematische Beobachtung an erste Stelle; sie achtete die Natur, sie sezierte und zerstörte nicht. Jede der durchnummerierten Abbildungen des Raupenbuches erläutert die Verfasserin knapp und anschaulich auf zwei Seiten: Eine Raupe, die sich häutet, "schiebt ihre Haut drey oder vier mal ganz ab, eben wie ein Mensch über den Kopf  ein  Hemd auszieht".

Der Zugang zu Universitäten war Frauen zu Zeiten Merians noch verwehrt 

Maria Sibylla Merian schrieb ihre Texte in Deutsch, obwohl damals Latein auf der ganzen Welt als Wissenschaftssprache galt. Doch Latein war auch Herrschaftssprache im wörtlichen Sinne: die Sprache der gelehrten Herren. Frauen hatten noch keinen Zugang zu den Universitäten und kaum die Möglichkeit, Latein zu lernen. Maria Sibylla Merian war eine "gelehrte Frau", der daran lag, Wissen zu vermitteln - und nicht, mit Wissen zu herrschen.

Hinter der Arbeit der Künstlerin und Wissenschaftlerin stand das Motiv, "göttliche Wunder vorzustellen". Im zweiten Band des Raupenbuches, der 1683 erschien, erklärte sie deutlich, warum sie weitergeforscht hatte: "Zumal ich ein sattsames Vergnügen noch täglich darin befinde; indem ich wohl sehe, daß auch das allergeringste Thierlein, so Gott geschaffen, und dabei von vielen Menschen für unnütz gehalten wird, ihnen dennoch Gottes Lob und Weisheit vor Augen stellt."

Zu dieser Zeit lebte Maria Sibylla Merian mit ihren Kindern erneut in Frankfurt und versorgte ihre verwitwete Mutter. Der Umzug war auch der erste Schritt aus ihrer Ehe. Im Jahre 1685 ging sie mit ihrer Mutter und den beiden Töchtern in eine Labadistengemeinde nach Holland. Dort lebte bereits ihr älterer Halbbruder Caspar.

Die lebenstüchtige 38-jährige Maria Sibylla sah, dass die Selbstversorger-Gemeinschaft der Labadisten ihr die Möglichkeit bot, als alleinerziehende Mutter, Künstlerin und Forscherin zu überleben. Die Labadisten, die nach urchristlichen Prinzipien lebten, tolerierten forschende Frauen. Sechs Jahre blieb die Merianin bei den Labadisten auf dem friesischen Schloß Waltha. Sie zog Bilanz, persönlich wie beruflich. Sie ordnete ihre alten Skizzen und Texte in einem Studienbuch, das sie als Archiv und wissenschaftliches Journal anlegte. Sie unterrichtete und bildete ihre Töchter weiter aus im Sammeln und Zeichnen der Tiere. Doch eines Tages erreichten sie in der ländlichen Abgeschiedenheit verlockende Botschaften aus der weiten Welt.

Sie brach die Brücken zu Deutschland ab und zog ins weltoffene Amsterdam

Lord von Sommeldijk, dessen Familie Schloß Waltha der Glaubensgemeinschaft zur Nutzung überlassen hatte, war zu dieser Zeit Gouverneur in Surinam. Über den Ozean schickte er seinen drei Schwestern in der Gemeinde tropische Falter und Pflanzen. Zurückgekehrte Missionare schilderten die Pracht der Tropen. In Maria Sibylla Merian reifte ein Plan.

Mutter und Bruder Caspar waren gestorben, der Rat der Stadt Nürnberg hatte die Scheidung von Johann Andreas Graff offiziell ausgesprochen. Sie war frei! Bewusst brach Maria Sibylla Merian die letzten Brücken zu Deutschland ab und kündigte in Frankfurt ihr Bürgerrecht auf. Sie zog mit den Töchtern in das weltoffene Amsterdam.

Die Verfasserin des Raupenbuches bekam schnell Zugang zu den kostbaren, privaten Naturalienkabinetten. Sie traf Gelehrte und Erfinder. Sie lernte weiter Latein, studierte wissenschaftliche Werke, züchtete und beobachtete wieder Raupen. Genau wie in Nürnberg sicherte sie sich auch in Amsterdam ihren Lebensunterhalt durch Farbenhandel und den Verkauf von Tierpräparaten. Die ältere Tochter Johanna Helena half der Mutter bei Malaufträgen.

Acht Jahre lang arbeitete die Merianin, sparte und knüpfte Kontakte, Surinam immer vor Augen. "Patiencya ist ein gut Kräutlein", hat sie einmal gesagt. Als sie schließlich auch noch einen staatlichen Reisezuschuss bekam, konnte sie die "große und teure Reise" wagen, auf der die 21-jährige Dorothea Maria die Mutter begleitete.

Die Forscherin war entsetzt über die Ignoranz der Kolonialisten

Im September des Jahres 1699 gingen die beiden Frauen in Surinams Hauptstadt Paramaribo an Land. Schon wenige Tage nach der Ankunft begannen sie mit ihren Beobachtungen, zunächst in den Plantagen des Küstenstreifens. Später wagten sie sich in den Dschungel vor, der so dicht war, dass Helfer mit Beilen einen Weg hauen mussten. Feuchte Schwüle und Hitze, Bienen- und Mückenschwärme erschwerten die Arbeit. Doch die Farbenpracht und die vielen Tiere entschädigten die Merian-Frauen. Ihren geschulten Augen entgingen die Schmetterlinge und Raupen nicht, die sich gerne als Blatt oder Blüte tarnen. Sie sammelten, zeichneten und konservierten nach ihren erprobten Methoden.

Entsetzt waren die Forscherinnen über die Ignoranz, mit der die Kolonialisten nur an Profite, an Ausbeutung, nur an Pfeffer und Zucker dachten. Die Früchte des Landes kultivierten sie nicht, weder die Vanille noch die Weintrauben. Mutter und Tochter Merian dagegen interessierten sich für alles Essbare, sie kosteten einheimische Gerichte und fremde Früchte wie die Ananas. Sie erfragten die Namen unbekannter Pflanzen und Tiere und notierten die Rezepte der Heilmittel, die "ihre Indianer" aus Pflanzen brauten.

Das System der Sklaverei stieß Maria Sibylla Merian ab. Deshalb war sie voller Mitgefühl für die Frauen, die mit dem Samen der Flos Pavonis abtrieben, um ihren Kindern kein Sklavenleben zu schenken. In ihr späteres "Surinambuch" flossen alle diese Beobachtungen ein.

Die Sprachwissenschaftlerin Ingrid Guentherodt drei Jahrhunderte später: "Maria Sybilla Merian bezieht sich als Beobachtende verantwortlich in ihr Experiment ein... Sie weist auf Nutzbarkeit hin, beschreibt die Abhängigkeiten, die Zusammenhänge zwischen Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt, ohne Anmaßung und Herrschaftsanspruch."

Das Buch über Tier- und Pflanzenwelt Surinams: der Höhepunkt ihres Schaffens

Die Malaria zwang Maria Sibylla Merian nach zwei Jahren aufs Krankenbett und schließlich zusammen mit der Tochter zur Rückkehr nach Amsterdam. Viele wunderten sich, "das ich noch mit dem Leben davon bin kommen''.

Nach ihrer Genesung machte die 55-Jährige neue Pläne. Lebensgroß wollte sie Falter der Tropen abbilden und – ganz unbescheiden - einen Prachtband herausgeben, in Großfolio und nur auf bestem Papier. Sie rechnete, kalkulierte und nahm das ehrgeizige Werk schließlich in Angriff. Sie wurde ihre eigene Verlegerin.

Maria Sibylla Merian beauftragte zwei Kupferstecher-Meister, ihre gezeichneten Vorlagen auf 60 Kupferplatten zu übertragen. Brieflich suchte sie in England und Deutschland Subskribenten für ihr Werk, das sie als einzigartig und "rar" anpries. Während sie Probedrucke kontrollierte, mit dem Kolorieren begann und die Buchtexte fertigstellte, handelte sie wieder mit getrockneten Tieren und Farben und übernahm sogar Malaufträge, wenn Geldmangel ihr Projekt gefährdete.

Nach drei harten Jahren, im April 1705, war "das ganze Werk getan". Es trug den lateinischen Titel ,,Metamorphosis Insectorum Surinamensium". Das Surinambuch wurde der Höhepunkt ihres Schaffens. Manche der von Maria Sibylla Merian gezeichneten tropischen Schmetterlinge erfasste die Wissenschaft erst um die Jahrhundertwende vollständig.

Sie wurde bewundert - und blieb dennoch von Kollegen ungenannt

Carl von Linné, der 1735 das erste biologische Klassifikationsschema entwickelt hatte, bewunderte die Arbeit der Merian und erwähnte sie in seinem "Systema Naturae". Linné und andere hatten die Tropen selbst nie bereist, sie kannten einige Falter nur aus Maria Sibylla Merians Bildern. Doch das hinderte die Herren nicht daran, die Tiere unter ihrem eigenen Autorennamen einzuordnen. Merian, die erste und wirkliche Autorin blieb deshalb oft ungenannt.

Maria Sibylla Merian wurde 69 Jahre alt. Sie lebte bis zu ihrem Tod in Amsterdam und empfing Bewunderer und Kunden, die sie als "gar muntere und sehr höfliche manierliche Frau" kennenlernten. Sie brachte das Raupenbuch neu heraus und arbeitete an einer Fortsetzung, bis sie zwei Jahre vor ihrem Tod einen Schlaganfall erlitt. Die Drucklegung besorgte die treue Tochter Dorothea Maria nach dem Tode der Mutter.

Im Totenregister stand Maria Sibylla Merians Namen unter den Unvermögenden. Sie starb am 13. Januar 1717, arm, aber weltberühmt.

Charlotte Kerner

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Pionierinnen in der Arktis

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Vor der Reise kamen die Reporter. Eine Frau auf ­Polarexpedition – das hatte es noch nie gegeben. Josephine Diebitsch Peary fuhr dorthin, wo noch kaum ein weißer Mensch gewesen war, in die Hocharktis; dorthin, wo sich auf den Weltkarten bislang nur eine große weiße Fläche ohne klare Umrisse befand. Josephines Entschluss, 1891 ihren Ehemann Robert E. Peary zu begleiten, hatte heftige Reaktionen ausgelöst. Einige Zeitungen hatten ihn dafür kritisiert, seine junge Frau den Gefahren des Nordens auszusetzen. Andere hingegen hatten befunden, Josephine müsse „wegen ihrer Schönheit, ihres Mutes und ihrer Jugend zur Königin der Expedition gekrönt werden“. 

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Man hatte sie aufgefordert, sich fotografieren zu lassen. Der Fotograf, der normalerweise Damen mit großen Hüten vor griechischen Säulen inszenierte, fand Gefallen an dem Auftrag. Er bat sie, passende Kleidung mitzubringen. Sie kam mit Pelzanorak und Gewehr. „Sehen Sie in die Ferne“, rief der Fotograf ihr zu. Ihre Locken kräuselten sich auf der Stirn. Die Zeitungen nahmen das Bild als Vorlage für ihre Illustrationen. Sie sah so jung ­darauf aus, so zerbrechlich. Und doch so mutig. Als ob sie schon dort gewesen wäre. Dabei ging die Reise doch gerade erst los. 

In den folgenden Monaten kommt ­Josephine Peary den Inuit so nahe wie noch kaum ein weißer Mensch vor ihr. Das Tagebuch, das 1893 unter dem Titel „My Arctic Journal“ erscheinen wird, wird zum ersten fundierten Bericht über das Leben der Polareskimos im Norden von Grönland. Während die Völkerkundler damals vor allem Körperbau und Schädelformen „wilder“ Völker vermessen, interessiert sich die in Maryland geborene Tochter deutscher Auswanderer für den Alltag der Menschen im grönländischen Eis. „Die Frauen ziehen normalerweise die Robbenlederstiefel und die Socken aus, wenn sie ins Haus kommen, so dass fast ihr ganzes Bein nackt ist, denn ihre Hosen sind nur bloße Röhren“, notiert sie. „Die Kinder werden durchgehend in der Kapuze getragen, egal, ob sie wach sind oder schlafen, und nur zum Füttern herausgenommen.“ Mehr als einmal ist Peary irritiert von dem, was sie sieht und erlebt. Als sie bei einer Übernachtung mit einer Inuit-­Familie in ihrem Iglu feststellt, dass die Rentierfelle flächendeckend mit Pelzkäfer-Kolonien belebt sind, von denen außer ihr aber niemand Notiz nimmt, kann sie ihren Fluchtdrang nur schwer unterdrücken. 

Eine weitere Herausforderung ist die ­Offenheit, mit der die Inuit mit ihrem Körper umgehen. Wird es ihnen im Haus der Familie Peary zu warm, entledigen sie sich schlicht ihrer Fellkleidung. Komplett. „Es ist also wahr, dass sie im Iglu fast immer ganz nackt sind“, schreibt Josephine in ihr Tagebuch, „und dass ­besuchende Eskimos, sobald sie einen Iglu betreten, alles ausziehen, so wie wir unsere Umhänge und Mäntel ablegen. Das wird von ­beiden Geschlechtern so gehandhabt.“ 

Josephine Pearys erste Reise in die Arktis wird nicht ihre letzte sein. So still, dass sie heute fast vergessen ist, hat sie sich in eine Männerdomäne geschlichen. Denn Arktis und Antarktis gelten bis heute als Regionen, wo der Mann Held sein kann. Das große Zeitalter der Pol-Entdeckungen, das Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, fällt in die Epoche der Ersten Frauenbewegung. Auch die 1863 geborene Josephine, Tochter eines Linguisten und Absolventin des Spence­rian Business College, ist nicht bereit, sich mit der ihr qua Geschlecht zugeschrie­benen Rolle zu begnügen. In ihrer ­Abschiedsrede erklärt die 17-Jährige: „Kochen, waschen und bügeln, die unvermeidlichen Knöpfe annähen und in jeder freien Stunde blaue Pudel auf grünen Stoff sticken, wird als Rundgang durch die Pflichten und Freuden angesehen, die ausreichen sollten, die Zeit, das Herz und den Verstand einer Frau auszufüllen.“ Sie aber fordert: „Lasst zu, dass der Horizont der Frauen sich weitet, ihr Geist und ihre Seele bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kultiviert wird!“ Elf Jahre später wird Josephine in der klirrend kalten Polarnacht an ihre eigenen Grenzen gehen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Expeditionen zu den Polen in etwa das, was später die Reisen zum Mond wurden: Abenteuer, an denen alle Welt Anteil nahm. Dass Josephine Peary in die Arktis reiste, störte das Bild vom heldenhaften Mann. Bei ihrer zweiten Expedition 1893 brachte Josephine kurz vor Beginn der Polarnacht im Basislager sogar ihre Tochter Marie Ahnighito zur Welt. Aber wenn auch zarte Frauen und sogar Babys in der Arktis überleben konnten – dann konnte es so hart und entbehrungsreich dort doch nicht sein. 

Mitreisende Ehefrauen sind in der ­feministischen Geschichtsschreibung bislang eher wenig beachtet worden. So ist es fast vergessen, dass Josephine Peary eine frühe Vorgängerin hatte: Schon 1734 begleitete Maria Prontschischtschew ihren Mann auf die Große Nordische Expedi­tion von Emil von Bering in die sibirische Arktis und kam dabei ums Leben. Ihre Reisegefährten tauften auf der Taimyr-Halbinsel eine Bucht auf ihren Namen: Buchta Marii Prontschischtschewoi.

Ab 1898 haben vor allem auf Spitzbergen gelegentlich Frauen mit ihren Männern in der Arktis überwintert. Das waren die Frauen der Trapper, einfache Frauen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von Josephine Pearys Expeditionen auf der anderen Seite des Atlantiks wussten. Die ersten waren vermutlich Jetta Nisja und Anna Ediassen, die 1898 – also acht Jahre nach Josephine Pearys erster Reise – von Nordnorwegen aus mit ihren Männern zum Überwintern nach Spitzbergen aufbrachen. Weil es Jetta hart erschien, ihre dreijährige Tochter so lange zu anderen Leuten zu geben, kam das Kind mit. 

Mit Spinnrad und Wolle zogen sie, nachdem die letzten Sommergäste zurück in den Süden gereist waren, in das winterfest vernagelte Hotel am Adventfjord. Sie sangen Lieder, um sich die Einsamkeit zu vertreiben, machten Späße mit dem Kind und kämpften gegen Winterdepressionen und Skorbut. Alle überlebten, bis im nächsten Sommer das Schiff kam, um sie wieder abzuholen. 

Die bekannteste unter den norwegischen Polarfrauen war Wanny Woldstad aus Tromsö. Sie war zunächst Taxifahrerin gewesen, was bereits für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Doch dann verliebte sie sich in einen Trapper und zog mit ihm 1932 in die Arktis, wo sie fünf Winter verbrachten. Ihr reichte es nicht, ihm den Haushalt zu führen. Sie erlegte Eisbären und verkaufte die Pelze. Das war ein einträgliches Geschäft. Später schrieb Wanny ein Buch über diese Zeit: „Die erste Frau als Fangmann auf Spitzbergen“. 

„Nein, die Arktis gibt ihr Geheimnis nicht her für den Preis einer Schiffskarte“, schreibt die Deutsche Christiane Ritter in ihrem Buch „Eine Frau entdeckt die Polar­nacht“, das 1938 erschien. „Man muss hindurchgegangen sein durch die lange Nacht, durch die Stürme und die Zertrümmerung der menschlichen Selbstherrlichkeit. Man muss in das Totsein aller Dinge geblickt haben, um ihre Lebendigkeit zu erleben. In der Wiederkehr des Lichtes, im Lebensrhythmus der in der Wildnis belauschten Tiere, in der ganzen hier in Erscheinung tretenden ­Gesetzmäßigkeit alles Seins liegt das ­Geheimnis der Arktis und die gewaltige Schönheit ihrer Länder.“ 

Auch Christiane Ritter war „nur“ eine mitreisende Ehefrau. „Lass alles liegen und folge mir in die Arktis“, hatte ihr Gatte ihr geschrieben, als er bei einer Expedition die Wildnis des Nordens für sich entdeckte. Sie ließ sich darauf ein. Doch statt Eisbären zu erlegen, versuchte sie, die Tiefe der Erfahrung auszuloten. Ihr Buch ist ein Klassiker geworden, ein spirituelles Lese-Abenteuer, das bis heute Menschen für den hohen Norden begeistert. 

50 Jahre hat es danach noch gedauert, bis eine Frauentruppe die Männerdomäne im Eis geknackt hatte. 1990 überwinterte zum ersten Mal eine reine Frauen-Expedition in der Antarktis. In der deutschen Georg-von-Neumayer-Station hatten sich vier Wissenschaftlerinnen, zwei Ingenieurinnen, eine Köchin, eine Funkerin und eine Ärztin für diese Aufgabe gefunden. Neun Monate lang waren sie völlig auf sich gestellt. Man sprach von einem „neuen Kapitel in der Geschichte der ­Polarforschung“, von einem „weiblichen Einbruch in die Männerwelt der Antarktisüberwinterer“.

Dass jede dieser Frauen inhaltlich hervorragend für die Aufgabe qualifiziert war, stand eigentlich außer Zweifel. Und dennoch kratzte das Projekt am Selbstbild mancher männlichen Kollegen, für die ein Winter im Eis oft nicht nur eine hervorragende Gelegenheit zum Forschen bedeutete, sondern auch, sich als Mann zu beweisen. So mancher sprach den Frauen also schon im Vorfeld die Qualitäten ab, die notwendig waren, um das Projekt zu meistern. Doch der Erfolg gab den Frauen recht. 

Seither sind bei den meisten Polarforschungsreisen Männer wie Frauen beteiligt, und im aktuellen Web-Auftritt der Georg-von-Neumayer-Station posiert die Luftchemikerin Kathrin Höppner im ­Minirock fürs Gruppenfoto – auch wenn der unter dem dicken Polaranorak kaum hervorguckt.

Josephine Peary hatte nach der vierten Expedition genug vom ewigen Eis. Das lag aber nicht an den strapaziösen ­Lebensbedingungen, sondern daran, dass sie, als sie ihm auf eigene Faust Nachschub in sein Basislager brachte, eine unschöne Entdeckung machen musste: Robert hatte eine Affäre mit einer Inuit-Frau. Josephine zog sich schockiert zurück.

Ihren Mann hingegen trieb es immer wieder in die Arktis. Und immer wieder nahm ihm Josephine das Versprechen ab, dass diese Expedition die letzte sei. Und immer wieder brach er dann doch noch einmal auf. 18 Jahre hat es gedauert, bis er endlich den Pol erreichte – oder auch nicht, da sind sich die Wissenschaftler bis heute nicht einig. Währenddessen schrieb Josephine Bücher, hielt Vorträge, organisierte Sponsoren. Gab Interviews und hielt die Reporter in Schach. Und wenn ihr Mann endlich wieder nach Hause kam, war sie immer wieder bereit, ihn aufzubauen. So wurde die Entdeckung des Nordpols zum Familienunternehmen. Lexika und Atlanten nennen bis heute nur ihn als Entdecker. Erst 1955 ehrte die National Geographic Society die 92-jährige Josephine Peary wenige Monate vor ihrem Tod mit ihrer höchsten Auszeichnung, der „Medal of Achievment“. 

Ihrem Mann, der bereits 1920 gestorben war, war schon immer klar, wie groß der Beitrag seiner Frau zum Erfolg war. Als er vom Pol zurückkehrte, schenkte er ihr eine silberne Puderdose. Klappt man den Deckel auf, findet man die Inschrift: „Für die ‚tapfere, edle kleine Frau‘, die durch ihre stetige Hingabe die großartige Tat ihres heroischen Ehemannes, die Entdeckung des Nordpols am 6. April 1909, möglich gemacht hat“. Wir unterstellen mal, dass in diesem Satz eine Portion ironischer Selbstironie mitschwingt – und das Wissen um die Unentbehrlichkeit der „tapferen kleinen Frau“. 

Weiterlesen
Cornelia Gerlach: Pionierin der Arktis – Josephine Pearys Reisen ins ewige Eis (Kindler, 19.95 €), 
Kari Herbert: Polarfrauen – Mutige Gefährtinnen großer Entdecker (Malik, 14.99 €), Christiane ­Ritter: Eine Frau entdeckt die Polarnacht (Ullstein, 8.95 €).

                              

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