Hatun Sürücü: Nur eine Frau?

Almila Bağriaçık spielt beeindruckend die Hauptrolle in "Nur eine Frau".
Artikel teilen

Der Film beginnt mit einem Bild vom Tatort. Am 7. Februar 2005 liegt Aynur, wie Hatun Sürücü im Film heißt, tot an einer Hausecke in der Oberlandstraße in Berlin-Tempelhof. Ihr Körper ist von einer weißen Plane verdeckt, man sieht ihre Füße, eine blutige Hand, neben ihr einen zerbrochenen Porzellan­becher. Schnitt. Junge Frauen mit und ohne Kopftuch und Kinderwagen gehen über die Sonnen­allee in Berlin-Neukölln. Eine von ihnen könnte Hatun/Aynur sein. Eine Stimme aus dem Off. Es ist Hatun/Aynur. Sie erzählt uns ihre Geschichte.

Anzeige

Hatun ist eins von acht Kindern kurdisch-sunnitischer Eltern, die in Berlin-Neukölln leben. Mit 15 Jahren muss sie das Gymnasium verlassen und wird 1997 in Istanbul mit einem Cousin per Imam-Ehe zwangsverheiratet. Schwanger flieht sie vor dem prügelnden Ehemann zurück nach Berlin zu ihrer Familie. Die nimmt sie zwar auf, verlangt aber Demut von der Tochter, die mit ihrem 1999 geborenen Sohn Can mit ihren drei Schwestern im „Mädchenzimmer“ der Vierzimmer­wohnung leben muss.

Mit 15 wird die in Berlin lebende Hatun zu einer Imam-Ehe mit dem Cousin gezwungen

Mit Hilfe des Jugendamtes bekommt sie ein Zimmer in einem Mutter-Kind-Heim, holt ihren Schulabschluss nach, beginnt eine Lehre als Elektroinstallateurin und bekommt schließlich eine eigene Wohnung in Berlin-Tempelhof. Sie lernt einen Dachdeckergesellen kennen und verliebt sich in ihn. Die Beziehung zerbricht nach etwa einem Jahr und Hatun bereitet sich auf ihre Gesellenprüfung vor.

Ihre Familie ist ihr gegenüber kritisch eingestellt. Die Mutter behandelt sie wie eine Dienerin, die der Familie Schande gemacht hat. Der Vater schweigt. Die Brüder verkehren wie der Vater in der Moschee, in der der Imam Abgrenzung von den Ungläubigen und Unterwerfung der Frauen predigt.

Hatun strengt sich an, um in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Sie lernt, übernimmt Verantwortung für sich und für ihren Sohn. Sie wird von Freunden, auf der Arbeit und der Behörde unterstützt. Die Brüder haben einen tödlichen Plan, der die „Ehre der Familie“ wiederherstellen und sie in den Besitz von Can bringen soll. Die Polizei nimmt ihre Angst vor den Nachstellungen der Brüder nicht ernst.

Hatun Sürücü wird im Februar 2005 in Berlin-Tempelhof an einer Bushaltestelle nahe ihrer Wohnung von ihrem jüngsten Bruder mit drei Kopfschüssen getötet. Die Freundin des Mörders gibt der Polizei den entscheidenden Hinweis zur Verhaftung. Er gesteht den Mord und wird zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Die beiden mitangeklagten Brüder werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen und setzen sich in die Türkei ab. Hatuns Sohn Can wird, trotz Bemühungen der älteren Schwester, nicht zur Familie Sürücü, sondern in eine Pflegefamilie gegeben, wo er seitdem lebt.

Im Jahr 2017: 570 Fälle von (versuchter) Zwangsverheiratung allein in Berlin

Soweit die reale Geschichte. Der Film lässt Hatun selbst ihre Geschichte erzählen. Sie ist ein besonderer, aber kein Einzelfall. Der „Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung“, der nach der Ermordung von Hatun gegründet wurde, hat für 2017 allein in Berlin 570 Fälle erfolgter bzw. versuchter Zwangsverheiratung dokumentiert. Die Internetseite Ehrenmord.de registriert für dasselbe Jahr bundesweit 51 vollendete bzw. versuchte Morde „im Namen der Ehre“.

Der Film macht in starken Bildern das räum­liche wie geistige Eingesperrtsein fast körperlich erfahrbar. Ein Schock auch die in den Spielfilm eingespielte dokumentarische Szene – wohl mit einem Handy gefilmt, mit der echten Hatun.

Die Regisseurin Sherry Hormann, die sich bereits mit dem Film „Wüstenblume“, über das Leben des Models Waris Dirie, mit Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung auseinandergesetzt hat, vermeidet jeglichen Kitsch. Selbst der Mörder und seine Brüder werden mit ihren Zweifeln und Nöten nicht als Killer, sondern als verlorene Söhne eines Systems dargestellt. Die Hauptrolle spielt beeindruckend Almila Bağriaçık, Produzentin ist Sandra Maischberger.

Der Mörder sagte im Gericht, dass er „seit dem Mord wieder ruhig schlafen“ könne, weil er seinen Vater nicht enttäuscht habe. Das Opfer Hatun hatte in diesem Prozess keinen Verteidiger. Nur ein tapferes junges Mädchen stand an ihrer Seite. Melek, die Zeugin der Anklage. Ohne sie wäre der Mord nie aufgeklärt worden. Die Zeugin der Anklage lebt seither mit ihrer Mutter anonymisiert in einem Zeugenschutzprogramm – es könnte sie sonst Hatuns Schicksal ereilen.

Termine: "Nur eine Frau" am am Sonntag, 2. Februar, 20.15 Uhr auf ONE und in der ARD-Mediathek

Artikel teilen

Koalition: Verbot von Kinderehen

Foto: Stephanie Sinclair
Artikel teilen

Auslöser war ein Urteil des Oberlandesgerichts Bamberg gewesen, das landesweit Schlagzeilen machte. Die RichterInnen hatten im Mai 2016 die Ehe zwischen einer 14-Jährigen und ihrem 21-jährigen Cousin für gültig erklärt. Das „Ehepaar“ war im ­Februar 2015 von einem syrischen Scharia-Gericht verheiratet worden, bevor es zur Flucht über die Balkanroute aufbrach und schließlich in Deutschland ankam. Hier hatte das Jugendamt die „Ehefrau“, die mit 14 vor dem deutschen Gesetz noch als Kind gilt, in Obhut genommen und vom „Ehemann“ getrennt. Der klagte – und gewann.

Anzeige

Spätestens jetzt war klar: Es gibt gesetz­lichen Handlungsbedarf. Denn diese Kinderehe ist kein Einzelfall. Mit den Flüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan kommen immer mehr „Kinderbräute“ nach Deutschland. 1.475 verheiratete Minderjährige – also unter 18-Jährige – meldeten die Bundesländer im Juli 2016, davon 1.152 Mädchen. 361 von ihnen waren sogar jünger als 14 Jahre.

Zentralrat des Muslime: Eheverbot der falsche Weg

Nach langen Debatten legte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) schließlich einen Gesetzentwurf vor, der Anfang April vom Kabinett beschlossen wurde. Künftig soll in Deutschland nur noch heiraten dürfen, wer mindestens 18 Jahre alt ist. Bisher konnte ein Familiengericht in Ausnahmen eine Ehe mit einer Person ab 16 Jahren genehmigen. Das soll nicht mehr möglich sein. Für im Ausland geschlossene Ehen gilt: Alle Ehen, bei denen ein Ehepartner – meist das Mädchen – unter 16 ist, werden automatisch annulliert. Sind die Eheleute zwischen 16 und 18 Jahre alt (oder eineR von beiden), muss das Jugendamt ein so genanntes „Aufhebungsverfahren“ einleiten. Dann entscheidet ein Familiengericht, ob die Ehe für ungültig erklärt wird. Laut Gesetz soll die Auflösung der Ehe der „Regelfall“ sein.

Und schließlich soll auch verboten werden, dass Imame Minderjährige in einer religiösen Ehe trauen.

Prompt wurde Kritik laut. Zum Beispiel vom „Zentralrat der Muslime“. Der scharia-­orientierte Islam-Verband – der überhaupt nur ein Prozent der in Deutschland lebenden Muslime vertritt – war vorab vom Justizministerium als „Experte“ um eine Stellungnahme gebeten worden. Der Zentralrat erklärte erwartungsgemäß: „Ein pauschales Heiratsverbot unter 18-Jähriger und mehr noch die nahe gelegte behördliche Aufhebung von rechtmäßig im Ausland geschlossenen Ehen“ seien „der falsche Weg“.

Da sind die Grünen ganz bei Aiman ­Mazyek und seinem Zentralrat. Sie finden das Gesetz „populistisch“ und stimmten jetzt im Bundestag dagegen. „Die pauschale Nichtigkeit der Ehe ist keine Lösung im Sinne der Betroffenen“, erklärt Katja Keul, rechtspolitische Sprecherin der Grünen. Die Zwangsgetrennten verlören ihre Unterhalts- und Erbansprüche, eventuelle Kinder gälten als nichtehelich. Deshalb müsse ein Fami­liengericht in jedem Einzelfall entscheiden, ob „die Aufhebung der Ehe dem Kindeswohl dient“. Wohlgemerkt: Wir sprechen hier von 12-, 13- oder 14-jährigen Mädchen.

Die Jugendämter sind schon jetzt überfordert

Das sieht nicht nur die Frauenrechts­organisation Terre des Femmes ganz anders. Es gebe durch die Auflösung der Ehe „gar keine rechtlichen Nachteile“, erklärt Myria Böhmecke, Referentin für „Gewalt im Namen der Ehre“. Die in Deutschland aufgelöste Ehe habe im Herkunftsland nach wie vor Bestand. In Deutschland hingegen könne das Mädchen „sämtliche Jugendhilfemaßnahmen in Anspruch nehmen“. Und eventuelle Kinder aus der Verbindung gälten hierzulande zwar als unehelich, hätten aber nach deutschem Recht dadurch keine Nachteile. „Der Vater ist nach wie vor unterhaltspflichtig.“ Auch der Aufenthaltsstatus der „Ehefrau“ sei durch die Ehe-Annullierung nicht gefährdet. „Das hat der Gesetzgeber ausdrücklich ins Gesetz geschrieben.“

Dennoch hat auch Terre des Femmes Kritik an dem Gesetz, das in der Theorie gut klingt, in der Praxis aber an Grenzen stoßen wird. Denn was genau passiert ­eigentlich, wenn zum Beispiel eine 15-jährige Kinderbraut samt Ehemann und ­Familie in einer Flüchtlingsunterkunft ankommt? Der Familie wird künftig erklärt, dass die Ehe in Deutschland keine Gültigkeit hat. Aber wenn dem keine Taten folgen, kann es passieren, „dass die Ehe trotzdem einfach weiter­gelebt wird“, fürchtet Böhmecke. „Deshalb muss das Jugendamt in jedem Fall sehr genau schauen, ob das Mädchen in Obhut genommen werden muss, um es zu schützen.“

Die Jugendämter aber seien „jetzt schon überfordert“. Wenn das jetzt verabschiedete Gesetz im Juli in Kraft tritt, wird sich die Lage weiter verschärfen. Deshalb fordert Terre des Femmes, dass das Personal der Jugendämter „massiv aufgestockt wird“. Außerdem gebe es noch nicht genügend Einrichtungen für geflüchtete Mädchen.

„Das Gesetz allein reicht nicht aus“, sagt Myria Böhmecke. „Da muss noch ganz viel passieren, und zwar schnell!“

Deutsche Richter erlauben Kinderehen (6/16), Scharia-Staat mitten in Deutschland (3/15)

Weiterlesen
 
Zur Startseite