Ostfrauen verändern die Politik

Frauenbrigade in den Leuna-Werken 1973. - Foto: Straube/akg-images/dpa
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Die West-Frauen hatten die Frauenbewegung, die Ost-Frauen hatten Männerberufe & Ganztagskrippen. Beide hatten die Doppelbelastung. Und heute? EMMA zieht Bilanz: Wie die Ost-Frauen Deutschland verändert haben – und was sie dennoch bis heute trennt von den West-Frauen.

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In dem 18-Seiten-Dossier erzählen Ost-Autorinnen wie Sabine Rennefanz, warum sie trotz ihres Erfolgsweges im Westen immer noch Ossi sind. Und dass die Wessis ihnen endlich zuhören sollten!

Nein, das Plakat zeigt nicht Angela Merkel, sondern eine unbekannte Genossin. Auch der Slogan ist original.
Nein, das SED-Plakat von 1981 zeigt nicht Angela Merkel, sondern eine unbekannte Genossin. Auch der Slogan ist original.

Sie erzählen die Erfolgsgeschichte von Politikerinnen wie Manuela Schwesig oder Franziska Giffey, die im Osten starteten und Berlin veränderten. Und Alice Schwarzer analysiert, warum es kein Zufall ist, dass die erste deutsche Kanzlerin eine Ossi ist – und eine Wessi das niemals gewagt hätte.

Die Ost-Frauen erzählen vom damaligen Leben in der verfemten Platte, das gemeinschaftlicher und heimeliger war als das im heutigen chicken, aber isolierten Loft.

Und: Die Geschichte einer Revolution in einem fränkischen Kleinstädtchen (früher an der DDR-Grenze gelegen)! Da sind jetzt fast alle Mütter berufstätig. Warum? Weil eine Kindergärtnerin aus Sachsen eine Ganztagskrippe betreibt.

Alice Schwarzer analysiert in ihrem Editorial „Das Gestern dräut im Heute“, warum wir jetzt eben nicht „endlich mal nach vorne schauen“ können und die Ossis „aufhören sollen zu jammern“. Weil der Westen 1990 den Osten überwältigt hat. Und 30 Jahre nicht viel sind für die Verarbeitung eines kollektiven Traumas.

Das ganze Osten-Dossier: www.emma.de/thema/dossier-ostdeutschland-337107

Das ganze Dossier in der aktuellen EMMA. Am Kiosk und im EMMA-Shop!

 

 

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Hört uns endlich zu!

Sabine Rennefanz, links bei ihrer Einschulung. - Fotos: Privat
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Immer, wenn ich einen Film über den Osten sehe, muss ich weinen. „Gundermann“, den Film über den singenden Baggerfahrer und Stasi-­IM, sah ich mir deshalb zu Hause an, weil man es keinem Kinozuschauer zumuten kann, wenn jemand nebenan schluchzt.

Ich weiß noch, wann es mit den Tränen anfing. Es war eine Zeit, in der mein Leben perfekt aussah. Ich war 29 Jahre alt, Zeitungskorrespondentin in London, mein Traumjob. Ich lebte in einem Stadtteil voller netter Pubs und Cafés, in der Nachbarschaft wohnte ein sehr blonder Mann, der abends öfter mal von seinem Rad fiel, später sollte dieser Mann einmal Premierminister Großbritanniens werden.

In jener Zeit, man nannte sie die Nullerjahre, lief in meinem Kino in Islington Green ein deutscher Film, „Good Bye, Lenin“, hieß er. Wenn die Engländer Lenin sagten, klang es ein bisschen wie Lennon. Mein damaliger Freund, ein Mexikaner, überredete mich, den Film zu sehen. Ich wollte eigentlich nicht. Ich hatte alles, was mit dem Osten zu tun hatte, aus meinem Leben getilgt.

Und dann saß ich in diesem Kino in London und auf einmal ging es los mit den Tränen. Ich glaube, es war an der Stelle, als die Mutter, gespielt von Katrin Sass, aus dem Koma aufwacht und ihr Sohn (Daniel Brühl) versucht, sie davon abzulenken aus dem Fenster zu gucken, weil draußen der abmontierte Lenin-Kopf aus dem Thälmannpark vorbeischwebt.

Während sie im Koma liegt, fällt die Mauer, und ihr Sohn will sie nicht unnötig aufregen, gaukelt ihr also vor, dass die DDR weiterexistiert. Es sollte eine Komödie sein, aber ich musste weinen. Ich saß in diesem Kino in London und mir liefen die Tränen herunter. Ich starrte auf den Leninkopf. Er schwebte durch die Luft, ohne Ziel, ohne Funktion. Ein bisschen wie der Osten.

Ich war 15, als die Mauer fiel. Ich gehöre zur Generation, auf der große Hoffnungen lagen, wir waren die erste gesamtdeutsche Generation, von der viele damals dachten, dass sie die Einheit vollenden werde. Dass Ost und West für uns keine Rolle mehr spielen würde. Die „Dritte Generation Ost“ nannte man uns. Inzwischen weiß man, dass es selbst bei Jüngeren, die nach 1989 geboren sind, die also die DDR selbst gar nicht erlebt haben, noch große Unterschiede zwischen Ost und West gibt.

Ich habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, meiner Geschichte und meiner Herkunft zu entkommen. Ich habe in einer Kleinstadt in Brandenburg an der polnischen Grenze, Eisenhüttenstadt, Abitur gemacht und begann ein Studium in West-Berlin, später ging ich nach Hamburg.

Das größte Lob, das man damals als Ostdeutsche lange bekommen konnte, lautete: „Sieht man dir gar nicht an, dass du aus dem Osten kommst.“ Ostdeutschsein war irgendwie peinlich, Ostdeutsche sprachen komisch, trugen billige Klamotten. „Hier sind wir alle noch Brüder und Schwestern, hier sind die Nullen unter sich, hier ist es heute nicht besser als gestern, und ein Morgen gibt es hier nicht.“ Mit diesen Worten besang der Liedermacher Gundermann das schlechte Image.

Keiner meiner neuen Westbekannten schien Brigitte Reimann oder Maxie Wander, Keimzeit oder Tamara Danz zu kennen, aber alle wussten über die DDR bestens Bescheid. In den Erzählungen der Medien bestand die DDR nur aus der Stasi-Männern und Dissidenten. Ich kannte weder Stasi-Leute noch Dissidenten. Ich trainierte mir den Dialekt ab und sprach nicht mehr über den Osten. Mein Lenin hieß jetzt Jesus. Ich ging nach Russland, um Bibeln zu verteilen. Weiter weg von der DDR, dem Land des Atheismus, ging es nicht. Nach der religiösen Phase holte ich alles andere nach. Ich wurde Musikredakteurin bei einem Frauenmagazin, flog durch die Welt, interviewte Stars, rauchte Gauloise, die roten. Wenn mich jemand fragte, woher ich komme, sagte ich: aus Berlin. Manchmal sagte ich auch: aus Bremen, weil ich dann sicher sein konnte, dass niemand nachhaken würde: Ost oder West. Du redest wie ein Wessi, sagte meine Schwester, wenn ich nach Hause kam.

Erst in London änderte sich was. Und es änderte sich mit den Tränen im Kino. Wenn mich die Engländer nun fragten, woher ich komme, fing ich an zu erzählen. Und es war anders, es ging leichter. Die Engländer hatten ein echtes Interesse an Geschichte und Erfahrungen – und weniger Vorurteile als die Westdeutschen. Es ging ihnen nicht dauernd drum zu zeigen, was sie wissen, sie wollten nicht dauernd gewinnen und zeigen, dass ihr System das überlegene war. Man könnte sagen, dass ich mein Coming-Out als Ostdeutsche erst in England, im Ausland, hatte.

Es dauerte noch bis Ende 2011, bis ich das erste Mal über den Osten und die DDR geschrieben habe. Mein Text hieß „Uwe Mundlos und ich“, es ging um das NSU-Trio, dessen Mitglieder alle in meinem Alter waren, vierzehn, fünfzehn zur Zeit des Mauerfalls. Ich schrieb über die 90er Jahre, den massiven Abbau der Arbeitsplätze, das Verschwinden des Alltags, die Ratlosigkeit der Eltern.

Viele meiner Generation verstanden nach 1990 die Welt nicht mehr. In einer Zeit, in der man besonders viel Halt und auch Reibung braucht, waren wir auf uns allein gestellt, weil unsere Eltern, Lehrer und alle anderen Erwachsenen mit sich selbst befasst waren. Viele von uns suchten Halt woanders. Die „unbehauste Generation“ nannte uns der Soziologe Bernd Lindner einmal.

Ich habe in den vergangenen sechs Jahre unzählige Debatten geführt, die am Ende immer wieder auf die gleichen zwei Fragen hinauslaufen: Wen interessiert das noch? Warum jammert ihr Ossis so viel?

Im Herbst 2013 saß ich im Schloss und hörte Bundespräsident Joachim Gauck zu. Er sagte, dass Unterschiede zwischen Ost und West heute kaum noch eine Rolle spielen. Er sprach von uns als „Enkelgeneration“. Das war natürlich die konservative Erzählung nach der Wende: die Einheit ist gut gelaufen und was nicht so gut läuft, wird bald besser. Gauck als Ossi hätte es besser wissen können, dass er es nicht konnte oder wollte, hat sicher dazu geführt, dass er im Osten besonders unbeliebt war.

Ostdeutsche sind im Schnitt ärmer und machen seltener Karriere als Westdeutsche. Es gibt mehr Amerikaner in den Dax-Vorständen als Ostdeutsche. Es gibt keinen einzigen ostdeutschen Hochschulrektor. Nicht mal in den fünf Ost-Ländern. Wer im Osten aufgewachsen ist, hat andere Bücher gelesen, andere Musik gehört, er hat womöglich auch einen anderen Blick auf die Rolle von Frauen und soziale Gerechtigkeit.

Um den Osten, um Deutschland zu verstehen, muss man die Vergangenheit betrachten. Und zwar nicht erst seit 1989, die Unterschiede in der Entwicklung reichen viel tiefer. Der Westen bekam nach 1945 den Marshall-Plan, der Osten Reparationsforderungen. 1989 fiel die Mauer, krachte zusammen, wurde zum Einstürzen gebracht – und schon wieder mussten die Ostdeutschen von vorne anfangen.

Wie existenziell die Umbrüche waren, die die Bürger und Bürgerinnen verkraften mussten, das wissen viele immer noch nicht: Nach 1990 sind innerhalb kürzester Zeit zwei Millionen Menschen im Osten arbeitslos geworden. 3,6 Millionen Ostdeutsche gingen zwischen 1991 und 2017 in den Westen, in den neunziger Jahren verließen manche Abiturjahrgänge geschlossen ihre Heimat.

Ein französischer Journalist wollte einmal von mir wissen, ob der Kommunismus, die Erziehungsdiktatur, die Ostdeutschen verbogen, gekrümmt, apathisch gemacht habe. Ich sagte, ja, vielleicht waren wir schon verbogen, aber wir lagen nicht auf dem Boden, das kam erst später. Ich erzählte, wie das damals war, Anfang der 1990er-Jahre, als mein Vater wie viele andere seine Arbeit verlor, und damit auch seine Funktion. Als zahllose Betriebe stillgelegt wurden, als Abschlüsse wertlos wurden, in der Kaufhalle vertraute Produkte verschwanden, als alles anders schmeckte. Ich sagte, dass ich damals die Welt nicht mehr verstand. Waren das die blühenden Landschaften, die der frühere Kanzler Helmut Kohl versprochen hatte?

Es ging vielen so, manche haben sich von dem Glaubensverlust bis heute nicht erholt, sie sitzen in blühenden, leeren Landschaften, sind wütend auf alles, was sie nicht verstehen, auf Fremde, Migranten, Homosexuelle. „Glauben Sie, dass die Erfahrungen der unbearbeiteten DDR- und Wendejahre immer wieder wie ein Bumerang zurückkommen, solange sie nicht bewältigt sind?“, fragte der Journalist. Ja. Der Bumerang heißt Ohnmacht, heißt AfD, heißt Pegida. Bis heute sind die Reaktionen nur Abwehr, wenn wieder mal neue Umfragen zur Stärke der AfD rauskommen. Dann heißt es: Soli streichen, Mauer hochziehen, ostdeutsche Länder boykottieren.

Kürzlich saß ich auf einem Podium bei der Heinrich-Böll-Stiftung, es ging um „abgehängte Orte“. Neben mir saß der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck. Ich erzählte von meiner alten Heimat Eisenhüttenstadt, eine Industriestadt, die seit 1990 mehr als die Hälfte ihrer Einwohner verloren hat. Ich erzählte von Dörfern ohne Läden, ohne Arzt, ohne Busverbindung. Ich zitierte die Statistiken, die Einkommens- und Vermögensunterschiede, die fehlende Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen. Habeck antwortete, im Westen gebe es auch Probleme. Außerdem nerve ihn diese Ost-Nostalgie. „Wir müssen jetzt zusammen nach vorne schauen“, sagte er.

Ich habe dieses Argument in den vergangenen sechs, sieben Jahren so oft gehört, ich kann es nicht mehr hören. Der Zweite Weltkrieg liegt 70 Jahre zurück, wirkt immer noch in Debatten und Familien nach. Würde irgendjemand auf die Idee kommen, dass man darüber nicht mehr diskutieren müsste? Der Blick auf Ostdeutschland ist immer noch eng, vernebelt. Man will nichts sehen. Nur kurz vor Wahlen zum Beispiel ziehen mal Reporterteams und Spitzenpolitiker durch die Ostländer, die sie sonst links liegen lassen.

„Ignoriert den Osten“, forderte kürzlich ein Autor der Zeit. Na, prima, die Strategie hat ja schon in den vergangenen dreißig Jahren gut geklappt.

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