Alice Schwarzer schreibt

Wir dachten, wir wären die ersten!

Frauenrechtlerinnen demonstrieren 1915, mitten im Krieg, in Den Haag für Frieden. - Foto: Ullstein
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Als 1971 in Deutschland die Frauen auf die Straße und die Barrikaden gingen, taten sie das etwas später als ihre Nachbarinnen im Westen. Und sie taten es in der Überzeugung, sie seien die ersten deutschen Frauenrechtlerinnen, die öffentlich und vehement gegen die Entrechtung der Frauen protestieren.

Sicher, frau hatte schon mal den Namen Louise Otto-Peters gehört, die „Lerche der deutschen Frauenbewegung“. Sie widmete sich nach ihrem Kampf in der 1848er-Revolution vorrangig den Frauen, mit einem Roman über das Schicksal der Dienstmädchen und später sogar mit einer „Frauenzeitung“, und kooperierte später mit den Sozialdemokraten. Auch geisterte Clara Zetkin durch die gebildeten Köpfe – aber die war keine autonome Frauenrechtlerin, sondern eine engagierte Sozialistin, die sich vorrangig der Frauenfrage widmete. Doch unabhängige Feministinnen? Nein. Die hatte es noch nie vorher gegeben. Wir waren die Ersten! Dachten wir.

Als ich knapp sechs Jahre später die erste EMMA herausgab, wusste ich schon ein bisschen mehr. Ich startete 1977 in der ersten Ausgabe die Serie „Unsere Schwestern von gestern“ (der Titel war liebevoll-selbstironisch gemeint) mit einem Porträt von Louise Otto-Peters (1819 – 1895). In der Ausgabe darauf kam bereits die bis dahin völlig vergessene Hedwig Dohm (1831 – 1919); sie war die radikalste, brillanteste und berühmteste Autorin der historischen Frauenbewegung (und hatte schon 1873 das Frauenwahlrecht gefordert!). Einige Monate später folgten Pionierinnen der ersten deutschen Frauenbewegung: Anita Augspurg (1857 – 1943) und Lida Gustava Heymann (1868 – 1943).

Doch das Ausmaß der historischen Frauenbewegung, ihre allgegenwärtige Präsenz in der Gesellschaft und ihre Popularität, war mir immer noch nicht klar.

Bei unseren Anfängen wussten wir deutschen Feministinnen quasi nichts über unsere Vorgängerinnen. Wir wussten nichts von dem, was sie geschrieben, getan und erreicht hatten. Sie waren, wie fast alle Frauenrechtlerinnen in allen Ländern, in Vergessenheit geraten – doch in Deutschland hatten die Nazis ihnen endgültig den Rest gegeben.

Die feministischen Pionierinnen standen auf den schwarzen Listen der Nazis. Hedwig Dohm und Minna Cauer waren vor 1933 gestorben, zum Glück, möchte man fast sagen. Helene Stöcker starb im Exil in New York, Augspurg und Heymann – die schon 1923 in München die Ausweisung eines gewissen Österreichers namens Adolf Hitler gefordert hatten (!) – starben verarmt 1943 im Exil in Zürich.

Sie alle, Dohm, Augspurg, Heymann und Cauer waren die Pionierinnen der vergessensten Strömung der Frauenbewegung: der Radikalen; also der Frauen, die an die Wurzel des Übels gingen. Die sogenannten Radikalen – in der Geschichtsschreibung fälschlicherweise oft als „bürgerliche Frauenbewegung“ bezeichnet, so hatten sie sich selber nie genannt – waren, ganz wie in der Neuen Frauenbewegung, diejenigen, die eine uneingeschränkte Gleichberechtigung der Geschlechter forderten. In der Tradition dieser Radikalen stehen auch ich und EMMA. Heute nennen die Radikalen sich manchmal "Gleichheitsfeministinnen" oder "Universalistinnen".

Auch damals waren die Radikalen, ganz wie heute, eine Minderheitsströmung innerhalb der Frauenbewegung. Aber sie waren die Provokantesten, im Denken wie Handeln. Und die Erfolgreichsten. Das hat die Französin Anne-Laure Briatte nun in ihrer beeindruckenden Studie recherchiert und belegt.

Die zweite Strömung der Frauenbewegung, die sogenannten „Bürgerlichen“ (oder „Reformistinnen“, wie wir heute sagen würden), trieben die Radikalen vor sich her. Hinzu kam und kommt die dritte Strömung: die damals sozialistischen, heute „linken“ Feministinnen. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie ihr „sozialistisches“ bzw. „linkes“ Anliegen über die Sache der Frauen stellen, sich aber gleichzeitig für die Frauenfrage engagieren.

Das galt früher für Frauen wie Clara Zetkin und ihre „proletarische Frauenbewegung“ innerhalb der SPD. Es galt Anfang der 1970er Jahre für Feministinnen im Kontext linker Parteien/Organisationen wie der DKP, den Maoisten oder Trotzkisten etc. Und es gilt heute für Feministinnen innerhalb der sich als „links“ verstehenden Strömungen, zurzeit sind da die „Anti-Rassistinnen“ tonangebend. Immer geht es dabei um den Haupt- und Nebenwiderspruch, das untergeordnete Anliegen sind dabei die Frauen.

Interessant ist, wie Briatte schreibt, dass die historischen Radikalen als radikale und klassenbewusste Demokratinnen, die sich früh für Arbeiterinnen, Dienstmädchen, Prostituierte oder ledige Mütter engagierten, immer wieder den Schulterschluss mit der sogenannten „proletarischen Frauenbewegung“ gesucht haben – der aber von den Frauenpolitikerinnen der SPD in der Regel abgeblockt wurde.

Für EMMA bespricht hier die Historikerin Kerstin Wolff dieses für alle Feministinnen so wichtige und augenöffnende Buch von Anne-Laure Briatte: „Bevormundete Staatsbürgerinnen“. Denn zum Lernen ist es ja nie zu spät. Und wir, die feministischen Pionierinnen und Aktivistinnen, können bis heute sehr viel von den Radikalen lernen. Von ihren Siegen. Aber auch von ihren Niederlagen. Und von ihrem mutigen Engagement für den Frieden – gegen fast alle. Außerdem macht es einfach großen Spaß, diese schon vor über hundert Jahren so modernen Frauen zu entdecken.

ALICE SCHWARZER

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Minna Cauer: Freie Radikale

Der "Verband fortschrittlicher Frauen" tagt am 3.10.1901 im Berliner Reichstag. Minna Cauer (4.v.l.) ist natürlich dabei.
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Im späten 19. Jahrhundert, die Frauenbewegung war schon seit ein paar Jahrzehnten aktiv, begann in der wilhelminischen Zeit ab 1890 eine gesamtgesellschaftliche Reformphase. Das mag heute erstaunen, denken wir doch vor allem an Pickelhauben und Militärparaden, wenn über das deutsche Kaiserreich gesprochen wird. Dieses Bild ist auch nicht ganz falsch, aber es ist eben auch nicht ganz richtig.

Das Kaiserreich war gleichzeitig bevölkert von den ersten VegetarierInnen, dem Kampf gegen das Korsett und einer Frauenbewegung, die ab 1890 landesweit so bekannt wurde, dass niemand mehr behaupten konnte, noch nie etwas von den Emanzipationsbestrebungen der Frauen gehört zu haben.

Dass diese Frauenbewegung Fahrt aufnehmen konnte, hatte mit der fundamentalen und offensichtlichen Diskriminierung und Rechtlosigkeit der Frauen zu tun. Dieser Missstand wurde trotz breiter Proteste, nicht nur von Frauenrechtlerinnen, durch die Formulierung des neuen, 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuches festgeschrieben. Gleichzeitig aber war mit dem Rücktritt des alten Reichskanzlers Bismarck und der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. auch eine neue Zeit angebrochen, die sich aufmachte, das Land zu reformieren.

An diesem Reformprozess hatte die Frauenbewegung einen kaum zu unterschätzenden Anteil. Bei genauerer Betrachtung dieser historischen Frauenbewegung fällt auf, dass es sich um eine Bewegung mit mehreren Strömungen gehandelt hat. Grob gesehen gab es drei Strömungen: Erstens die „proletarische Frauenbewegung“, die ihre Heimat in der SPD hatte; zweitens die „gemäßigten Bürgerlichen“, die sich im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) zusammengeschlossen hatten; und drittens eine kleine, aber sehr aktive Schar, die sich selbst als „die Radikalen“ verstand.

Zu dieser Gruppierung gehörten einige der bekanntesten Feministinnen ihrer Zeit: wie Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, Minna Cauer, Helene Stöcker, Käthe Schirmacher oder auch die wortgewaltige Hedwig Dohm. Dennoch gab es zu den Radikalen bisher, hundert Jahre danach, erstaunlicherweise keine eigenständige Forschungsarbeit. Es blieb einer französischen Historikerin, die in Freiburg studierte, Anne-Laure Briatte, vorbehalten, sich diesen Radikalen zuzuwenden. Unter dem Titel „Bevormundete Staatsbürgerinnen“ erkundet sie auf über 420 Seiten die kühne, mitreißende Geschichte der Radikalen, berichtet über ihre Erfolge und Konflikte, über Siege und Niederlagen, über ihre Strategien und Beziehungen. Dabei legt sie einen Schwerpunkt auch auf die wichtige Rolle, die die persönlichen Beziehungen in allen Teilen der Frauenbewegung spielten – auch in den Reihen der Radikalen. Letztendlich war diese Bewegung ein großes persönliches Netzwerk, getragen von Freund- und Liebschaften, aber auch von Feindschaften und Streit. Dieses Netzwerk wirkte sich auf das gesamte Leben der Aktivistinnen aus. So arbeiteten sie eben nicht nur zusammen, sie lebten auch zusammen, gingen zusammen in den Urlaub, fuhren gemeinsam zu Kongressen und verbrachten auch ihre Freizeit zusammen. Damit schufen die Aktivistinnen eine ganz eigene Kultur – eine Frauenbewegungskultur.

Was hat Briatte über das bereits Bekannte hinaus herausgefunden? Zunächst einmal: Es ist gar nicht immer so leicht, eine genaue Unterscheidung zwischen den sogenannten Radikalen und den sogenannten Gemäßigten zu machen. Die Radikalen waren nicht immer nur radikal und die Gemäßigten nicht immer nur gemäßigt. Und überhaupt, was sind eigentlich radikale und was sind gemäßigte Forderungen? Das kann nur im konkreten Zeitbezug und anhand bestimmter Themen konkret beantwortet werden. Briatte sieht – zu Recht – den deutlichsten Unterschied zwischen diesen beiden Flügeln darin, dass für die Radikalen der Kampf um die uneingeschränkte Gleichstellung zwischen Mann und Frau an erster Stelle stand.

Die Gemäßigten gingen von einem wesenhaften, irreversiblen Unterschied zwischen Männern und Frauen aus, ihnen ging es um Reformen und vor allem um einen größeren Einfluss von Frauen auf allen gesellschaftlichen Gebieten. Die Radikalen aber engagierten sich zwar ebenfalls aktiv für die Linderung sozialer Not, aber wollten es nicht dabei belassen. Sie gingen an die Wurzeln des Übels (daher der Selbstbegriff Radikale), wollten eine uneingeschränkte Gleichberechtigung und strebten grundlegende Veränderungen der Gesetze und Verhältnisse an. Damit standen sie übrigens der proletarischen Frauenbewegung in etlichen Punkten sehr viel näher als den Gemäßigten. Wie die Sozialdemokratinnen arbeiteten sie auf einen Systemwechsel hin – allerdings keinen in Richtung Sozialismus.

Wie die Sozialdemokratinnen setzten die Radikalen auf Kooperationen mit den Parteien – in diesem Fall mit fortschrittlichen Liberalen – die sich allerdings als hartleibige Vertreter erwiesen. Der Dreh- und Angelpunkt radikaler Frauenpolitik war der Kampf um die vollen Staatsbürgerrechte. Vor allem die Forderung nach dem Frauenwahlrecht erwies sich, so Briatte, als „neuer Motor des ‚radikalen‘ Flügels der Frauenbewegung“.

Was die Radikalen im Gegensatz zu den Gemäßigten hervorragend verstanden, waren „propagandistische Aktivitäten“, neue Kommunikationsstrategien für ihre Ziele. Vor allem Anita Augspurg – die erste deutsche Juristin, die noch in Zürich hatte studieren müssen – hatte ein sehr gutes Gespür für Themen und Aktionen. Und sie war unerschrocken! So ließ sie sich zum Beispiel 1902 absichtlich von der Polizei verhaften, um damit gegen die Reglementierung der Prostitution und die Folgen für alle Frauen aufmerksam zu machen. Wie die, dass eine Frau abends alleine auf der Straße einfach verhaftet werden konnte, weil sie im Verdacht stand, sich zu prostituieren.

Doch fast wäre Augspurgs demonstrative Aktion schiefgegangen, denn der Polizist versuchte, Augspurg auf dem Weg zur Wache wieder loszuwerden. Dem widersetzte die Verhaftete sich erfolgreich. Sie zerrte den Polizisten quasi hinter sich her und bestand auf einer Anzeige. Der Coup gelang und führte dazu, dass sogar im Reichstag über die polizeilichen Missgriffe aufgrund des repressiven Prostitutionsparagrafen diskutiert wurde.

Solche Skandalisierungsstrategien wandten die Radikalen auch gerne bei öffentlichen Reden oder in der schriftlichen Debatte über Tabuthemen an. Sie nahmen keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung, sondern setzten bewusst auf Provokation und Aufmerksamkeit, wenn es um Themen wie Prostitution, freie Ehe oder Abtreibung ging. So propagierte Augspurg schon mal einen Eheboykott, was eine erregte öffentliche Debatte zur Folge hatte. Oder sie rief Frauen, die in bestimmten Fällen ein kommunales Wahlrecht hatten (in manchen Ländern, wenn sie Hausbesitzerinnen waren), dazu auf, ihre Stimme persönlich abzugeben – was wiederum zu einem Aufschrei führte. Die Radikalen rangen mit allen Mitteln um öffentliche Aufmerksamkeit und politischen Einfluss, um ihren Forderungen nach Gleichstellung der Geschlechter und Befreiung der Frauen Gehör zu verschaffen.

Die gemäßigte Frauenbewegung – mit Protagonistinnen wie Helene Lange und Alice Salomon – organisierte sich 1894 in einem eigenen Dachverband, dem BDF. Die Radikalen traten ebenfalls in den Verband ein, mussten aber bald einsehen, dass ihre Themen und Kämpfe dort nicht mehrheitsfähig waren. Sie gründeten also 1899 einen eigenen Verband: den Verband fortschrittlicher Frauenvereine. An der Spitze standen drei Frauen: Minna Cauer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann.

Das folgende Jahrzehnt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde das goldene Zeitalter der Radikalen. Es gelang ihnen immer besser, ihre Themen zu platzieren und ihre Forderungen öffentlich zu machen. Vor allem durch die Gründung eines eigenen Blattes: „Die Frauenbewegung“, herausgegeben von Minna Cauer.

Hauptthemen der Radikalen in dieser Zeit war der Kampf gegen die Prostitution und für das Wahlrecht. Dabei begannen sie das Parlament als wichtigsten Faktor des politischen Lebens zu entdecken und für sich zu nutzen. Cauer und Augspurg gingen im Reichstag ein und aus, um sich die (auch für Frauen) öffentlichen Sitzungen anzuhören oder die Parlamentsbibliothek zu nutzen. So setzten sie alleine durch ihre Gegenwart die männlichen Parlamentarier unter Druck. Auch versuchten die Frauenrechtlerinnen, auf den Gängen den ein oder anderen für feministische Forderungen zu begeistern.

Briatte stellt in ihrer Arbeit die These auf, dass sich die Radikalen vor allem deshalb auf das Parlament konzentrierten, „weil die Frauenfrage für sie vor allem eine rechtliche Frage war, die im Prozess der Gesetzgebung verhandelt werden muss.“ Dieses Vorgehen schien auch logisch zu sein, übersah jedoch, so Briatte, dass der „Reichstag (…) eine politische Macht zweiten Ranges“ war. Denn im Kaiserreich bestimmte nach wie vor der Kaiser und der von ihm ernannte Reichskanzler die politischen Geschicke. Als lupenreine Demokratinnen aber waren die Radikalen der Überzeugung, dass das Parlament der eigentliche Ort von politischen Entscheidungen sein sollte – eine Vorstellung, die sich erst langsam herauszukristallisieren begann. Trotzdem waren die Radikalen in dieser Phase sehr erfolgreich. Sie konnten Themen setzen und wurden gehört.

Diese Erfolgsphase endete, als sich der „Verband fortschrittlicher Frauenvereine“ dem gemäßigten „Bund Deutscher Frauenvereine“ (BDF) anschloss und die drei Wortführerinnen, Cauer, Augspurg und Heymann, zurücktraten. Dabei spielten auch persönliche Beziehungen und Konflikte eine Rolle. So hatten Anita Augspurg und Lida G. Heymann eine Jahrzehnte währende Liebesbeziehung, bis zu ihrem Tod im Züricher Exil. Und vor der Begegnung Augspurg/Heymann war die Beziehung zwischen Anita und der verwitweten Minna Cauer offensichtlich sehr innig gewesen (das belegen u. a. Tagebucheintragungen von Cauer).

Gleichzeitig öffneten sich 1908 zum ersten Mal die Parteien für Frauen, und es kam im Zuge dessen zu harten Auseinandersetzungen um die Form des Frauenwahlrechts. Heute ist das unverständlich, aber in der damaligen Zeit wurde hart um diese Frage gerungen. Sollten sich Frauen für ein Wahlrecht einsetzen, wie Männer es auch hatten, und damit auch nach Klassen ungleiche Wahlrechte, wie sie es in einigen Ländern und Kommunen gab, akzeptieren? Oder sollten sie sich nicht mit dem Männerwahlrecht befassen und einfach ein „Frauenwahlrecht“ fordern? Oder – und hier finden wir die meisten Radikalen wieder – sollte es darum gehen, gleich ein freies, gleiches und geheimes Wahlrecht für alle (also auch für Männer!) zu erstreiten? An dieser Frage spalteten sich die deutschen Frauenwahlrechtsgruppen und auch die Radikalen waren sich nicht mehr einig.

Als dann auch noch der Krieg dazu kam und sich die radikale Strömung noch einmal in der Frage nach Krieg und Frieden spaltete – die einen, wie Else Lüders oder Käthe Schirmacher, waren patriotisch für den Krieg; die anderen, wie Augspurg und Heymann, werden entschiedene Kriegsgegnerinnen und Pazifistinnen –, zerfiel der radikale Flügel der Frauenbewegung endgültig.

Nach dem Krieg kann in der Weimarer Republik von einer radikalen Strömung der Frauenbewegung nicht mehr die Rede sein. Käthe Schirmacher war ins Völkisch-nationale abgewandert; Heymann, Augspurg und Stöcker engagierten sich für den internationalen Pazifismus; Hedwig Dohm war am 1. Juni 1919 gestorben und Minna Cauer stellte die Zeitschrift „Die Frauenbewegung“ ein. „Meine Aufgabe innerhalb der Frauenbewegung halte ich für erfüllt, da das Bürgerrecht der Frau den Frauen gegeben worden ist“, schrieb sie. „Mein Organ kämpfte 25 Jahre dafür, seine Aufgabe ist mithin ebenfalls erfüllt.“

Keine der feministischen Protagonistinnen, abgesehen von Käthe Schirmacher (die sich allerdings in der antiemanzipativen Deutschnationalen Volkspartei, DNVP, engagierte), konnte in dem neuen Parlament 1919 ein Mandat erringen. Briatte bezeichnet diesen Umstand als „Ironie der Geschichte“. „Als Politikerinnen vor den Toren der politischen Sphären im Deutschen Kaiserreich waren die ‚Radikalen‘ die großen Abwesenden bei der konstituierenden Nationalversammlung 1919 und in den folgenden Parlamenten“, schreibt sie. Um im Parlament erfolgreich sein zu können, hätten die Aktivistinnen des radikalen Flügels sich ab 1908 in den Parteien engagieren müssen, was ihnen aufgrund der bürokratischen und hierarchischen Arbeitsweise von Parteien fremd war.

Muss man daraus schließen, dass die Radikalen gescheitert sind? Nein, keineswegs!, resümiert Briatte. Denn paradoxerweise war ein Erfolg der Radikalen vor allem das „Vor sich hertreiben“ der gemäßigten Bewegung, und hier waren die Radikalen ausgesprochen erfolgreich. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Prostitutionspolitik. Zunächst als radikal gebrandmarkt, übernahm der BDF langsam aber sicher die Haltung der Radikalen und wandte sich schließlich mit abolitionistischen Argumenten, also der Forderung nach Abschaffung der Prostitution, gegen die Reglementierungspolitik des Kaiserreichs.

Auch das uneingeschränkte Frauenwahlrecht kann zwar als gemeinsames Projekt der Frauenbewegung, von Radikalen über Gemäßigte bis Sozialdemokratinnen, verstanden werden, doch wurde nur dank der Radikalen stetig weiterverfolgt. Spannend auch zu sehen, dass dank der Radikalität dieses Flügels für Politik und Gesellschaft plötzlich die Gemäßigten als ernstzunehmende Ansprechpartnerinnen galten. Ihre Forderungen schienen vor dem Hintergrund der Radikalen gerechtfertigt zu sein, eben weniger „verrückt“.

Was die Radikalen allerdings überschätzt hatten, war die Macht des Parlaments. Briatte bezeichnet die Aktivistinnen als „parlamentsfixiert“, die nicht mehr Willens waren, andere Einflusskreise und -möglichkeiten wahr zu nehmen.

Dass die Radikalen ihren Erfolg in ihrer Zeit selber nicht sehen konnten und teilweise auch daran verzweifelten, dass die Gemäßigten sich ihrer Themen bemächtigten, ist wohl leider folgerichtig. Es ist erst uns als Nachgeborenen vergönnt, diesen Zusammenhang begreifen zu können und zu erkennen, dass die Radikalen Entscheidendes zur Modernisierung der Geschlechterverhältnisse beigetragen haben. Schließlich waren es die Radikalen, die sich „als Bürgerinnen des Staates ansahen (und) de facto als politische Subjekte im wilhelminischen Deutschland (agierten)“, resümiert Briatte. „Damit befreiten sie sich von ihrer staatsbürgerlichen Bevormundung, noch bevor diese Emanzipierung im November 1918 ihre juristische Entsprechung fand.“

Die Autorin schließt ihr sehr lesenswertes Buch dann auch mit dem Wunsch, dass die Leistungen dieser Frauenrechtlerinnen in der Geschichte wieder sichtbar werden. Diesem Wunsch kann ich mich nur anschließen – es ist nun an uns, ihn in die Tat umzusetzen.

KERSTIN WOLFF

WEITERLESEN: Anne-Laure Briatte: Bevormundete Staatsbürgerinnen. Die „radikale“ Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich. Ü: Meiken Endruweit (Campus, 49 €)

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