Alice Schwarzer schreibt

Reden wir über die Liebe!

© Bettina Flitner
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Margarete, lass uns über die Liebe reden.
Tja. Was ist Liebe? Schon das zweite Gebot lautet: Liebe deinen Nächsten wie dich selber. Und das Interessante ist, dass es nicht heißt: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selber, sondern wie. Das heißt, du musst dich selber lieben, um deinen Nächsten lieben zu können. Wenn du also keinen guten Zugang zu dir selber hast, nicht weißt, was du an dir magst und was nicht; nicht weißt, wer du bist, dann kannst du auch keinen Zugang zu anderen finden. Das habe ich bei meinen Patienten kapiert – und auch bei mir selber.

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Gemeinhin wird Selbstliebe ja negativ gesehen.
Das ist ein Grundfehler. Selbstliebe als Selbstsucht zu verstehen. Wenn du keinen Weg findest, dich aufgrund deiner speziellen Fähigkeiten und Werte einzubringen, dann bist du nicht in der Lage, innerlich mit dir Frieden zu schließen. Man muss herausfinden, was man eigentlich will, und wofür man gerne lebt. Den Sinn des Lebens an sich gibt es natürlich nicht, jeder muss selber seinem Leben einen Sinn geben, der sicherlich im laufe der geistigen Entwicklung eines Menschen variieren kann. Wenn man das schafft, erkennt man auch, ob und wo der andere seinen Sinn findet.

Seit fast 60 Jahren liegen die Menschen bei dir auf der Couch und reden, reden, reden. Wie häufig reden sie über die Liebe?
Zu 90 Prozent. Über alle Arten der Liebe, wie die berühmte Mutterliebe, Freundesliebe, Vaterlandsliebe etc. etc. Aber wir verstehen heutzutage ja unter Liebe meist erotische Liebe, die – nicht immer mit Recht – zunehmend gleichgesetzt wird mit Sexualität.

Und welche Rolle spielt die Sexualität in der erotischen Liebe?
Die körperliche Liebe ist unendlich wichtig. Aber die kann unabhängig von der emotionalen Liebe sein. Ich könnte zig Varianten aufzählen, die ich von meinen Patienten in Sachen Liebe und Sexualität im Laufe meines Lebens zu hören bekommen habe. Und ich kann natürlich auch über die typisch weibliche und typisch männliche Sexualität reden oder über die Liebe zum gleichen Geschlecht. Aber wenn ich von mir ausgehe, muss ich sagen, dass ich zwar mit 16, 17 diverse Flirts mit Männern hatte, mit denen ich knutschte, aber nicht mehr. Die wurden mir aber vollkommen gleichgültig, als ich mich in meine Lehrerin verliebte. Die war nicht besonders schön, aber ungeheuer attraktiv für mich und meine Freundinnen. Doch merkwürdigerweise erinnere ich mich nicht, dass ich eine körperliche Anziehung für sie empfunden hätte. Das Verbot steckte wohl zu tief. Ich hatte ja auch eine sehr enge Beziehung zu meiner Mutter, da war der Gedanke an Homosexualität tabu. Als ich allerdings Jahre später von meiner besten Freundin hörte, dass diese Lehrerin ihr ein erotisches Angebot gemacht hatte, da dachte ich: Wie unverschämt! Warum nicht mir?! Man muss also manchmal zwischen Verliebtheit und Begehren unterscheiden. Es gibt also viele Formen der Liebe – auch der erotischen, die nicht immer mit einem Wunsch nach körperlicher sexueller Vereinigung verbunden sind. Wie oft Verdrängung dabei eine Rolle spielt, sei dahingestellt.

Du hast eben erwähnt, dass Männer und Frauen bei dir unterschiedlich von Liebe sprechen.
Letztendlich geht ja auch die körperliche Liebe im Gehirn vor sich, das gilt für Männer wie Frauen. Aber ich muss gestehen, dass ich immer bewundert habe, wie offen manche Männer über Sexualität reden. Mit wem sie Sex hatten, ob auch oral oder vaginal, ob sie onanieren oder impotent sind etc. Manche Männer konnten sich so distanziert betrachten, dass man den Eindruck hat, ihr Wunsch nach Selbsterkenntnis sei größer als ihre Scham. Bei Frauen ist das seltener so.

Liegt das nicht auch an der traditionell männlichen Trennung zwischen Liebe und Sex?
Sicher, aber nicht nur. Auch der Wunsch nach Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber und der nach Verständnis für andere kann eine Rolle spielen.

Und die Frauen?
Die vermischen viel stärker Liebe und Sexualität. Obwohl auch sie spontanes Begehren ohne Liebe kennen. Auch ich kannte das, obwohl ich glücklich verheiratet war. Hier und da fand ich einen anderen Mann so attraktiv, dass ich sofort mit ihm geschlafen hätte – wenn ich nicht Konsequenzen für meine Ehe befürchtet hätte. Heutzutage wird so was vielleicht leichter ausgelebt.

Und, ist das besser?
Nicht unbedingt. Obwohl ich, wenn ich zurückschaue, bereue, dass ich nicht ein bisschen freizügiger war (lacht). Nur, ich würde deswegen nicht jemanden, den ich liebe, verletzen wollen.

Welche Rolle spielt nach deiner Erfahrung überhaupt die sexuelle Treue in der Liebe?
Ich bin überzeugt, dass es Menschen gibt, denen die sexuelle Treue nicht so wichtig ist.

Gilt das für Männer wie Frauen?
Vor allem für Männer, so lange es um die eigene Treue geht. Von ihren Frauen erwarten allerdings 90 Prozent, dass sie treu sind.

Wie praktisch.
Was die Frauen betrifft: Die sind unterschiedlich. Ich persönlich hätte es niemals verkraftet, wenn mein Mann mir nicht treu gewesen wäre. Aber ob Alexander das wirklich immer war, wage ich zu bezweifeln. Zumindest hat er es stark versucht, weil er wusste, wie mich das verletzen würde. Zu Beginn unserer Beziehung hat er mir mal was gestanden. Und obwohl das schon länger her war, habe ich alle seine Briefe in den Ofen gesteckt, mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren …

Die Soziologin Eva Illouz hat ein sehr kluges Buch über die Liebe geschrieben. Sie kommt darin zu dem Schluss, dass die „serielle Sexualität“ von Männern eine Frage der „emotionalen Macht“ über Frauen ist. Sie halten damit die Frauen in Unsicherheit.
Das mag durchaus der Fall sein – aber ob es für alle Männer gilt?

Und was ist mit den so genannten „freien Beziehungen“, in denen angeblich jeder macht, was er bzw. sie will – und man sich dennoch liebt?
Nach meiner Erfahrung ist das sehr selten, dass beide unter solchen Umständen Vertrauen zueinander entwickeln. Es handelt sich in diesen Fällen meist um emotional relativ distanzierte Beziehungen, die allerdings durchaus von Dauer sein können.

Es gibt in der Liebe ja eine körperliche Intimität, deren Verletzung den anderen verunsichert …
… enorm verunsichert! Meistens gehen Beziehungen an Untreue kaputt. Wenn überhaupt, sollte es sich um ein kurzes Verhältnis handeln, möglichst weit weg. Und man sollte dem anderen auf keinen Fall die Wahrheit sagen. Das verursacht nur Qualen.

Wenn was gewesen wäre, hättest du es zugegeben?
Niemals! Ich hätte es total geleugnet! Ich erwarte ja auch Treue vom anderen. Obwohl ich mir selber ein Abenteuer zugestehen würde – das aber nur mich etwas angeht.

Von sich selber glaubt man ja auch zu wissen, welchen geringen Stellenwert so was hat.
So ist es. Aber wenn man am Bekenntniszwang leidet, und es dem Partner erzählt, bekommt es in dessen Fantasie Ewigkeitswert. Was zur Qual für alle Teile werden kann.

Reden wir gerade wie die Männer, Margarete?
Genau! Aber die Männer müssen es dann auch noch erzählen. Die sind naiver als Frauen. Frauen sind raffinierter.

Das müssen sie als das schwächere Geschlecht ja auch sein. Sie konnten sich schließlich Jahrhunderte lang eine Gefährdung der Beziehung oder die offene Konfrontation überhaupt nicht erlauben.
Wenn die Liebe andauern soll, muss natürlich weiterhin eine körperliche Sympathie vorhanden sein. Man muss den Körper des anderen mögen, zumindest darf man keine Abneigung fühlen.

Dabei gibt es viele enge Beziehungen, heterosexuelle wie homosexuelle, in denen Sexualität überhaupt nicht mehr gelebt wird.
Absolut. Manchmal bricht ja die körperliche Beziehung ab, aber die geistige bleibt. Meistens sucht sich dann der Mann eine Geliebte oder heute auch die Frau einen Geliebten. Was zur Zeit der Feudalgesellschaft in den oberen Schichten schon immer der Fall war.

Reden wir noch mal über die Konditionen einer beginnenden Liebe. Wenn dir jemand erzählt: Ich habe mich verliebt. Unter welchen Umständen sagst du dir dann innerlich: Oh Gott, hoffnungslos … Oder aber: Hört sich gut an. Wo also liegen die Gefahren, wo die Chancen für eine Liebe?
Die größte Gefahr ist, die Realität nicht sehen zu wollen, zu projizieren. Wenn der/die Verliebte den anderen gar nicht richtig wahrnimmt, weil in seinem Gefühl so viel Wunschdenken, so viel Idealisierung steckt. Eine Liebe, die auf Projektionen beruht, bricht bei der Konfrontation mit der Realität zusammen. Das passiert ja alternden Männern manchmal: Dass die Frau an ihrer Seite sie gut, zu gut kennt – und sie in eine idealisierende Projektion, zu einer Jüngeren flüchten. Zukunft hat das nicht.

Sind Frauen wie Männer nach deiner Erfahrung gleich gefährdet, ihr Wunschdenken für Realität zu halten?
Ich fürchte, ja. Männer allerdings verlieben sich sehr schnell und idealisieren eigentlich immer …

… nach Beauvoir nicht zuletzt, um das objektive Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau subjektiv auszugleichen, also die Frau zu erhöhen.
Aber unbewusst schleicht sich dann doch die Realität ein. Ich bin ja in zwei Ländern aufgewachsen, in Dänemark und Deutschland. Und ich muss sagen, dass man in Dänemark in der Liebe viel weniger idealisiert als in Deutschland. Es gibt „eine deutsche Art zu lieben“, wie Alexander und ich im Untertitel zu unserer „Unfähigkeit zu trauern“ geschrieben haben. Die Idealisierung als Vorbedingung für Liebe ist unter den Deutschen besonders verbreitet.

Du hast jetzt die Voraussetzungen für die Gefahren der Liebe benannt. Was wären denn die Voraussetzungen für eine Chance in der Liebe?
Dass die Sicht des Anderen eben nicht zu stark auf Idealisierung beruht. Dass der/die Andere eine ähnliche Richtung bei der Sinngebung des Lebens hat. Und dass die das Leben bestimmenden Werte sich vereinen lassen. Dass man also gemeinsam etwas machen kann, was beiden Spaß macht. Denken, Arbeiten, Reisen, Hobbys, egal – aber etwas Gemeinsames.

So wie du und Alexander bei der Entdeckung und Entwicklung der Psychoanalyse?
Genau.

Margarete, sind wir für heute durch mit der Liebe?
Ja. Sofern man überhaupt jemals durch sein kann mit der Liebe.

Mehr über Margarete Mitscherlich
Der Mitschnitt des Symposiums "100 Jahre Margarete Mitscherlich" sowie Gespräche und Artikel mit Mitscherlich und über sie auf www.margarete-mitscherlich.de.

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100 Jahre Margarete Mitscherlich

Margarete Mitscherlich im Mai 2010. Foto © Bettina Flitner
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Die 1917 in Dänemark geborene Tochter einer deutschen Lehrerin und eines dänischen Landarztes ist in den ersten Jahren nicht zur Schule gegangen, sondern zu Hause unterrichtet worden. Der normale Anpassungsprozess blieb ihr also erspart. Das hat sich ein Leben lang gehalten.

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Ihre anarchische Lebendigkeit war bis zu ihrem Tod mit 94 Jahren ungebremst. Wofür viele Menschen sie liebten, manche aber sie auch fürchteten. Denn Margarete war unberechenbar. Und im Zweifelsfall immer auf der anderen Seite des Establishments.

Zusammen mit ihrem Mann Alexander hatte Margarete die Psychoanalyse in den 1960er Jahren aus dem Exil zurück nach Deutschland geholt, das Freud-Institut in Frankfurt gegründet und ab Mitte der 70er Jahre zahlreiche feministische Bestseller geschrieben.

Mit der 1967 veröffentlichten „Unfähigkeit zu trauern“, die Margarete und Alexander Mitscherlich zusammen geschrieben haben, stieß das Paar eine Debatte zur deutschen Vergangenheitsbewältigung an, die bis heute andauert. Alexander Mitscherlich starb 1982 – was sie nun ungeschützt der Häme ewig Gestriger und der Anti-FeministInnen dazu auslieferte.

Aber Margarete Mitscherlich stand es durch; lebte, lernte, dachte, arbeitete weiter. Noch kurz vor ihrem Tod plante sie ein Buch über die Liebe.

Margarete Mitscherlich war von der ersten Ausgabe 1977 an bis zu ihrem Tod eine treue Begleiterin von EMMA und eine inspirierende Autorin. Nachfolgend das letzte Interview, das ich im Jahr 2010 für EMMA mit ihr führte.

Und gerade plane ich, zusammen mit ihrem Sohn Matthias Mitscherlich, zwei Gedenktage am 4. und 5. November 2017, an denen WeggefährtInnen, KollegInnen und weitere Persönlichkeiten erzählen werden, warum das Werk von Margarete Mitscherlich weiterlebt.

Alice Schwarzer

www.margarete-mitscherlich.de
 

 

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