Ukraine-Krieg - und der Westen?

Präsident Wladimir Putin und Bundeskanzler Olaf Scholz am 15.2. in Moskau. - Foto: Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool/IMAGO
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Am 25. September 2001 hielt Wladimir Putin, der ein Jahr zuvor zum Präsidenten Russlands gewählt worden war, eine ungewöhnliche Rede im Deutschen Bundestag. Er hielt sie in perfektem Deutsch und war sich bewusst, was es bedeutet, dass zum ersten Mal ein Präsident der Russischen Föderation an diesem Ort spricht. Das Gefühl, an einem Kristallisationspunkt europäischer Geschichte zu sein, teilte ich damals mit allen im Plenarsaal. Damals war noch alles möglich.

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Unter langanhaltendem Applaus sagte Putin: „Der Kalte Krieg ist vorbei.“ Er bot – 14 Tage nach dem 11. September 2001 – ein gemeinsames Vorgehen gegen den faschistoiden islamistischen Terror an und erinnerte an die einstige Anti-Hitler-Koalition. Im Angesicht der Jugoslawien-Kriege bat er darum, endlich wieder mit Russland zu reden. Er erinnerte an die Verehrung der Russen für den Humanismus Lessings und Wilhelm von Humboldts. Selbst zwei Weltkriege hätten das nicht auslöschen können. Und er versicherte: „Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel.“

Putin vergaß nicht, die ökonomischen und sozialen Krisen zu erwähnen, die sein Land nach 1990 erschüttert hatten und lud die deutschen Unternehmer ein, zu fairen Bedingungen ins Land zu kommen, Russland brauche Freunde und Partner. Die Essenz seiner Rede lautete: „Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf, und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des gemeinsamen Hauses.“ Bei Gerhard Schröder stieß Putin damals auf offene Ohren, bei Joschka Fischer auf Skepsis.

Putins Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. In der Ära Angela Merkel ist das deutsch-russische Verhältnis in den ewigen Permafrost abgedriftet. Der bilaterale Frühling wurde jäh gestoppt. Vorbei die Regierungskonsultationen auf höchster Ebene, die bi- und multilateralen Foren, die Intensivierung der Wirtschafts- und Kulturkontakte, der zivilgesellschaftliche Petersburger Dialog, blühende Städtepartnerschaften, der Nato-Russland-Rat, die G8, Russlands Beteiligung am Europa-Rat, die Abrüstungsabkommen, das gemeinsame Nein zum Irak-Krieg. Heute gibt es die meisten dieser Gremien und Initiativen nicht mehr oder sie führen ein Scheinleben.

WiedervereiniJuni 2007. Die Ehepaare Merkel/Sauer und Putin beim G8-Treffen in Heiligendamm. Da scheint noch eitel Sonnenschein. - © IMAGO/UPI Photo
Juni 2007. Die Ehepaare Merkel/Sauer und Putin beim G8-Treffen in Heiligendamm. - © IMAGO/UPI Photo

Vor dieser Eiszeit hat es noch ein solides Grundvertrauen zwischen den Eliten beider Länder gegeben. Dieses Vertrauen war auf sowjetischer Seite durch die lange Phase der Entspannungspolitik gewachsen: von Brandt über Kohl bis Schröder. Auf deutscher Seite hatte noch keiner der führenden Politiker vergessen, wem das Land letztlich die Wiedervereinigung verdankte: Es waren nicht die USA mit ihrer Politik der Dominanz, schon gar nicht die eher zögerlichen Briten und Franzosen und auch nicht allein die friedlichen Demonstranten auf den Straßen der DDR – es waren Michail Gorbatschow und die Sowjetunion, die es wagten, ihre Soldaten – immerhin 500.000 auf dem Boden der DDR – im entscheidenden Moment in den Kasernen zu lassen, um ein Blutbad zu vermeiden.

Aus der Sicht der meisten heutigen Russen hatte Gorbatschow zu viel, zu schnell und zu ungeschützt riskiert, weswegen sein Bild im eigenen Vaterland inzwischen eingetrübt ist.

Ich habe Michail Gorbatschow zweimal im vertrauten Kreis über seine eigene Bilanz dieser Zeit reden hören, zuletzt 2015 bei seinem letzten Treffen mit Egon Bahr. Bei seinen selten gewordenen öffentlichen Reden vor deutschen Medien wirkte Gorbatschow gefasst, um Verständnis werbend. Im kleinen Kreis aber brach es aus ihm heraus: Gemessen an seinem eigenen Einsatz für eine grundlegend veränderte Friedensordnung in Europa habe der Westen nichts gewagt, nichts riskiert. Er habe nur genommen und nichts gegeben. Das grenze an Verrat. Ohne dieses zerstörte Vertrauen sei der spätere Machtpolitiker Putin nicht zu erklären, ja er sei das direkte Ergebnis dieses Prozesses. Putin habe Mühe genug gehabt, Russland vor dem völligen Staatsverfall in der Jelzin-Ära zu retten. Trotz der großen Unterschiede zwischen beiden hat sich Gorbatschow bis heute niemals von Wladimir Putin distanziert.

20 Jahre später, am 22. Juni 2021 startete Wladimir Putin trotz dieser zerrütteten Atmosphäre einen zweiten Versuch des Neuanfangs mit den Deutschen. Anlass war der 22. Juni 1941. An dem Tag hatte die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfallen und einen Vernichtungskrieg begonnen, der alle bisherigen Regeln des Kriegs-Völkerrechts außer Kraft setzte. Zu dem Vielvölkerstaat mit dem Zentrum Moskau gehörten damals auch noch die Ukraine und Belarus. Doch zum 80. Jahrestag dieses Ereignisses schrieb nicht die deutsche Kanzlerin eine Grußbotschaft an die russische Bevölkerung, es war umgekehrt: Wladimir Putin veröffentlichte einen Artikel in der Zeit. Ein bemerkenswerter Vorgang.

Die Zeit präsentierte diesen sensationellen Gastartikel merkwürdig sperrig. Der Text sei ihr angeboten worden, versicherte sie. Gleichzeitig würden zwei Gegenartikel in Auftrag gegeben. Bild mokierte sich noch am selben Tag – Titel „Putin lügt und hetzt in der Zeit“ – darüber, dass so ein Text überhaupt in einer deutschen Zeitung gedruckt würde. Kein einziges deutsches Leitmedium würdigte danach überhaupt die Besonderheit dieser Geste, an diesem Tag, an diesem Ort. Mit dem Inhalt setzte sich schon gar niemand auseinander.

Was hat Putin in diesem Artikel geschrieben? Er erinnerte erneut an die Anti-Hitler-Koalition, in der es für die sowjetischen Soldaten nicht darum gegangen sei, „sich an den Deutschen zu rächen, sondern um eine edle und große Befreiungsmission (...) Trotz der schrecklichen Erlebnisse des Weltkrieges haben die Völker Europas es geschafft, Entfremdung zu überwinden und zu gemeinsamem Vertrauen und Respekt zurückzufinden.“ Die von diesem Geist getragene deutsche Wiedervereinigung habe eine „kolossale Rolle“ bei der Gestaltung der Idee eines größeren friedlichen Europas gespielt.

Wladimir Putin: "Wir spüren unsere untrennbaren Bande zu Europa."

Fast wortgleich zu seiner Rede im Bundestag bot Putin 20 Jahre später erneut an, ein neues Kapitel in der Geschichte beider Völker aufzuschlagen: „Das gesamte europäische Sicherheitssystem ist derzeit in einem desolaten Zustand. Spannungen nehmen zu, das Risiko des neuen Wettrüstens ist greifbar“, schrieb er. „Wir können es uns einfach nicht leisten, die Last früherer Missverständnisse, Kränkungen, Konflikte und Fehler mit herumzuschleppen.“ Der russische Präsident plädierte für einen erneuten Versuch der Wiederherstellung einer umfassenden Partnerschaft: „Wir spüren unsere untrennbaren kulturellen und geschichtlichen Bande zu Europa.“

Das ist mehr als eine ausgestreckte Hand, es ist ein echtes Friedensangebot. Immerhin schien Bundespräsident Steinmeier das geahnt zu haben, als er wenige Tage zuvor im deutsch-russischen Museum die Erinnerung an die 27 Millionen Opfer der Völker der Sowjetunion als bisherige Leerstelle in der deutschen Erinnerungskultur brandmarkte.

Etliche Tage später schlugen Emmanuel Macron und Angela Merkel – wohl auch motiviert durch das überraschende Treffen zwischen Joe Biden und Wladimir Putin – vor, auch die EU solle doch mal wieder mit Putin reden. Von Seiten der EU wurde diese Idee umgehend durch ein Veto der „osteuropäischen“ Staaten abgelehnt. Wenig überraschend. Aber Deutschland und Frankreich sind souverän. Niemand hätte sie hindern können, zu zweit ein solches Gipfeltreffen anzubieten. Sie taten es nicht.

In den Medien und unter den westlichen Politikern jeder Schattierung gilt Wladimir Putin inzwischen als der personifizierte „Böse vom Dienst“ (Hubert Seipel). Er kann sogar „Killer“ genannt werden (Präsident Biden). Sein Land, Russland, wird als zu vernachlässigende „Regionalmacht“ gedisst (Barack Obama). Das könnte eine für uns folgenreiche Fehleinschätzung sein.

Angela Merkel misstraute Wladimir Putin zutiefst – und zwar von Anfang an. Über die Gründe schweigt sie. Wahrscheinlich ist, dass die junge Frau aus dem Osten von Anfang an signalisieren wollte, dass es an ihrer unerschütterlichen Nähe zu den USA und dem Nato-Bündnis nicht den Hauch eines Zweifels geben könne.

Man redet nicht miteinander, man belehrt.
Berauscht vom Überlegenheitsgefühl

Merkel hat auf der internationalen Bühne viel Respekt genossen, Vertrauen zu schaffen war nie ihre Stärke; nicht im Verhältnis zu Emmanuel Macron oder zu Alexis Tsipras, schon gar nicht zu Wladimir Putin. Stück für Stück aber hat sie durch ihre unerschütterliche Treue zur USA den so mühsam errungenen Freiheitsspielraum deutscher Außenpolitik verringert, an dem alle ihre Vorgänger seit Adenauer gearbeitet hatten.

Wir befinden uns mit Russland – dem größten Flächenstaat der Welt, der auch noch Atomwaffen besitzt – auf einem gemeinsamen Kontinent. Eine friedliche Koexistenz mit Russland ist zukunftsentscheidend für Deutschland und Europa. Wir leben eben nicht auf einer Insel wie Großbritannien, die USA oder Australien. Unser Schicksal hängt vom Frieden auf dem euroasiatischen Kontinent ab.

Man muss nicht „Putin-Versteher“, man muss nur fair sein, um zu begreifen, wie schwer rein objektiv die Ausgangssituation der Präsidentschaft Wladimir Putins war. Der Vielvölkerstaat war zerbrochen in instabile Nachfolgestaaten mit teilweise überbordenden reaktionären Nationalismen. Die Wirtschaft lag am Boden, Renten und Lehrergehälter konnten monatelang nicht ausgezahlt werden. Die Lebenserwartung sank. Die einst ruhmreiche Armee war zerrüttet und deklassiert. Der Rechtsstaat und seine Institutionen waren nur schwach entwickelt und korruptionsanfällig. Das Oligarchensystem hat Putin nicht erfunden, es war unter Jelzin erblüht, Putin konnte es nur zügeln. In der Propaganda des Westens allerdings wurden aus den von ihm gemaßregelten Milliardären, die sich am Volkseigentum bereichert hatten (Chodorkowski & Co.) über Nacht Freiheitshelden; aus Eintags-Rebellinnen wie Pussy Riot wurden Stars einer vermeintlich globalen Zivilgesellschaft.

Angela Merkels Vorsicht und Zögerlichkeit gegenüber Russland wurde immer von einer anhaltenden Russlandphobie in den deutschen Medien und Think Tanks begleitet, die allerdings in einem erstaunlichen Gegensatz zur Stimmung in der deutschen wie russischen Bevölkerung stehen. Beide Völker können nicht vergessen, dass wir gegeneinander zwei Weltkriege geführt haben.

Bei den heutigen Berliner Eliten aber hat es einen radikalen Generationenwechsel gegeben, von Entspannungspolitikern zu überloyalen Transatlantikern. Sie fühlen sich sträflich sicher unter dem NATO-Schutzschirm, sie sehen keine Kriegsgefahr weit und breit. Ja, sie werden selbst zu Propagandisten des Menschenrechts-Bellizismus. Lauscht man dem Sound heutiger deutscher Politiker und Medien in Bezug auf Russland, so klingt es wie schwarze Pädagogik: anprangernd und belehrend. Man redet nicht miteinander, man maßregelt; berauscht vom Gefühl der unendlichen moralischen und kulturellen Überlegenheit. Es ist quälend, das zu erleben.

Dabei genügt ein kurzer Blick in die Geschichte seit 1900, um sich zu fragen: Was bitte haben ausgerechnet die Deutschen den Russen in der Frage der Demokratie-Bestrebungen vorzuwerfen? Zu Beginn des Jahrhunderts wurden die ersten russischen Demokraten und Sozialisten, die in Berlin um Unterstützung baten, meist abgewiesen. Am Ausbruch des ersten Weltkrieges war die Schuld des Deutschen Kaisers größer als die des russischen Zaren. Der zweite Weltkrieg ging allein auf das Schuldkonto der Deutschen und forderte in der damaligen Sowjetunion 27 Millionen Opfer. Die stalinistische Diktatur, die heute gern mit der NS-Diktatur gleichgesetzt wird, hat nicht nur bei den Nachbarvölkern, sondern vor allem im eigenen Land gewütet. Sie wurde, anders als in Deutschland, am Ende aus eigener Kraft besiegt, von Chruschtschow bis Gorbatschow.

Angela Merkel hat ihre Kanzlerschaft leider nicht für ein deutsch-russisches Friedensprojekt genutzt. Sie trägt damit Mitverantwortung für ein zerrüttetes Verhältnis im Herzen Europas. Jetzt kommt es darauf an, wer nach ihr kommt. Die SPD hat sich noch nicht ganz, aber doch in der Person ihres Außenministers von der Entspannungspolitik verabschiedet. Die Grünen würden sich außenpolitisch gern bruchlos in die merkelsche Spur einpassen. Ihr Abschied von der Friedensbewegung markiert die größte Entfremdung zu den eigenen Ursprüngen. Wir hatten uns einst die Überwindung der Logik des Kalten Krieges auf unsere Fahnen geschrieben. Dazu gehörte der Abbau von Feindbildern, Ressentiments und Dünkeln. Jetzt stehen die Grünen an der Spitze der Hysterie und aggressiven Moralattitüde gegenüber Russland. Annalena Baerbock hat ihre Welt- und Russlandansichten in der transatlantischen Young-Leaders-Erziehung in London gelernt. Robert Habeck bekennt sich einseitig zur ukrainischen Version des Konfliktes, ohne auch nur die andere Seite anzuhören.

Aber irgendjemand wird anfangen müssen. Irgendwer muss ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland aufschlagen. Einen dritten Versuch kann ein russischer Präsident nicht starten. Der Schlüssel liegt jetzt in Berlin.

Antje Vollmer

Die Autorin ist studierte Pfarrerin und war eine von sechs in dem legendären „Feminat“ der Grünen, dem rein weiblichen Parteivorstand. Ab 1994 war sie Vizepräsidentin im Parlament. Als Pazifistin legte sie sich ab dem vom Grünen-Minister Joschka Fischer 1999 forcierten Kosovo-Krieg mit der eigenen Partei an.
 

 

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