Forschung: Die Sinne der Tiere

Foto: Dalibor Gluck/CTK Photo/IMAGO
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Stellen wir uns einmal einen Elefanten in einem Raum vor. Nicht das sprichwörtliche offensichtliche Problem, das niemand sehen will, sondern einen echten, schweren Elefanten. Stellen wir uns weiter vor, der Raum sei groß genug für ihn, beispielsweise eine Schulturnhalle.

Jetzt stellen wir uns vor, dass auch eine Maus dort hineingehuscht ist. Neben ihr hüpft ein Rotkehlchen. Auf einem Balken über unseren Köpfen sitzt eine Eule. Eine Fledermaus hängt kopfüber an der Decke. Über den Boden schlängelt sich eine Klapperschlange. In einer Ecke hat eine Spinne ihr Netz gewoben. Eine Mücke summt durch die Luft. Auf einer Topfsonnenblume sitzt eine Hummel.

Und schließlich fügen wir in unserem hypothetischen Raum noch einen Menschen hinzu. Nennen wir sie Rebecca. Sie ist scharfsichtig, neugierig und (glücklicherweise) tierlieb.

Machen wir uns keine Gedanken darüber, wie sie in das ganze Durcheinander geraten ist, und denken wir auch nicht darüber nach, was all die Tiere in einer Turnhalle zu suchen haben. Sehen wir uns lieber an, wie Rebecca und die übrigen Mitglieder der Menagerie sich gegenseitig wahrnehmen.

Der Elefant hebt den Rüssel wie ein Periskop, die Klapperschlange lässt ihre Zunge heraus schnellen, und die Mücke durchschneidet dieLuft mit ihren Antennen. Alle drei schnuppernrundum und nehmen die schwebenden Düfte auf. Der Elefant riecht nichts Bemerkenswertes. Die Klapperschlange nimmt die Spur der Maus wahr und rollt sich wie in einem Hinterhalt zusammen. Die Mücke registriert das verlockende Kohlen dioxid aus Rebeccas Atemluft und das Aroma ihrer Haut. Sie landet auf ihrem Arm und ist zum Fressen bereit, aber bevor sie stechen kann, schlägt Rebecca sie weg – das Klatschen scheucht die Maus auf. Sie quiekt beunruhigt in einer Ton höhe, die für die  Fledermaus hörbar ist, für den Elefanten ist sie hingegen zu hoch. Der Elefant lässt seinerseits ein tiefes, donnerndes Rumpeln hören, das für die Ohren der Maus oder der Fledermaus zu tief ist, aber von der Klapperschlange  mit ihrem erschütterungsempfindlichen Bauch wahrgenommen wird.

Rebecca bekommt weder vom Ultraschallquieken der Maus noch von dem Infraschallrumpeln des Elefanten etwas mit; sie lauscht stattdessen auf das Rotkehlchen, dessen Gesangsfrequenzen sich besser für ihre Ohren eignen. Aber ihr Gehör sinn ist so langsam, dass er nicht alle komplexen Informationen, die der Vogel in seinem Lied codiert, aufnehmen kann.

Die Brust des Rotkehlchens sieht für Rebecca rot aus, aber nicht für den Elefanten: Seine Augen sind auf Schattierungen von Blau und Gelb beschränkt. Die Hummel sieht ebenfalls kein Rot, ist aber empfänglich für die Ultravioletttöne, die hinter dem anderen Ende des Regenbogens liegen. Die Sonnenblume, auf der sie sitzt, trägt in der Mitte einen ultravioletten Kreis, der die Aufmerksamkeit des Vogels wie auch der Hummel erregt. Rebecca kann den Kreis nicht sehen – für sie ist die Blüte nur gelb. Ihre Augen haben im ganzen Raum den schärfsten Blick: Im Gegensatz zum Elefanten oder zur Hummel kann sie auch die kleine Spinne ausmachen, die in ihrem Netz sitzt.

Als allerdings das Licht im Raum ausgeht, sieht sie so gut wie nichts mehr. Von Dunkelheit umgeben, tappt Rebecca langsam und mit ausgestreckten Armen vorwärts, immer in der Hoffnung, Hindernisse zu bemerken. Das Gleiche tut auch die Maus, allerdings wedelt sie mit den Haaren in ihrem Gesicht jede Sekunde mehrmals hin und her, um so eine Landkarte ihrer Umgebung zu erstellen. Wenn sie zwischen Rebeccas Füßen herumschleicht, sind ihre Schritte für den Menschen zu leise, aber die über ihren Köpfen sitzende Eule hört sie ohne Weiteres.

Der Kranz aus steifen Federn rund um das Gesicht der Eule lenkt Geräusche zu den empfindlichen Ohren, von denen eines ein wenig höher sitzt als das andere. Wegen dieser asymmetrischen Anordnung kann die Eule sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung lokalisieren, woher die Trippelgeräusche der Maus kommen.

Gerade in dem Augenblick, in dem die Maus in Reichweite der wartenden Klapperschlange gerät, stößt sie herab. Die Schlange nimmt mit zwei Gruben am Maul die Infrarotstrahlung wahr, die von warmen Gegenständen ausgeht. Eigentlich sieht sie die Wärme; für sie strahlt der Körper der Maus wie ein Leuchtturm. Die Schlange schießt nach vorn – und kollidiert mit der herabstoßenden Eule.

Die Spinne bekommt von der ganzen Aufregung nichts mit: Sie kann die Beteiligten kaum hören oder sehen. Ihre Welt wird fast ausschließlich durch die Erschütterungen definiert, die durch ihr Netz laufen – eine selbst gebaute Falle, die wie eine Erweiterung ihrer Sinne funktioniert. Verirrt sich die Mücke in die seidenen Fäden, nimmt die Spinne die verräterischen Erschütterungen der strampeln den Beute wahr, nähert sich ihr und bringt sie um.

Während des Angriffs bemerkt sie aber nichts von den hochfrequenten Schallwellen, die auf ihren Körper auftreffen und zu dem Lebewesen zurückgeworfen werden, das sie ausgesendet hat: zur Fledermaus. Das Sonar der Fledermaus arbeitet so präzise, dass sie die Spinne nicht nur in der Dunkelheit findet, sondern sie genau genug lokalisieren kann, um sie aus ihrem Netz zu reißen.

Während die Fledermaus frisst, spürt das Rot kehlchen ein vertrautes Ziehen, das die meisten anderen Tiere nicht fühlen. Die Tage werden kühler, und es ist an der Zeit, in ein wärmeres südliches Klima zu fliegen. Selbst in der geschlossenen Turnhalle nimmt das Rotkehlchen das Magnetfeld der Erde wahr; von seinem inneren Kompass geleitet, schlägt es Richtung Süden ein und entkommt durch ein Fenster.

Es lässt einen Elefanten, eine Fledermaus, eine Hummel, eine Klapperschlange, eine leicht benommene Eule, eine äußerst glückliche Maus und eine Rebecca zurück. Diese sieben Lebewesen teilen sich den gleichen physischen Raum, erleben ihn aber auf wundersame Weise höchst unterschiedlich. Das Gleiche gilt für die Milliarden anderen Tierarten auf der Erde und die unzähligen Individuen dieser Arten.

Auf der Erde wimmelt es von visuellen und haptischen Sinneseindrücken, Geräuschen und Schwingungen, Gerüchen und Geschmack, elektrischen und magnetischen Feldern. Aber jedes Tier kann nur einen kleinen Bruchteil der gesamten Realität anzapfen. Jedes Tier ist in seiner eigenen, einzigartigen Sinnesblase eingeschlossen und nimmt nur einen winzigen Ausschnitt einer ungeheuer großen Welt wahr.

Der Text ist ein Auszug aus: „Die erstaunlichen Sinne der Tiere“ (Kunstmann Verlag)

 

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