Sonya Kraus: Die Muddi-Demenz

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Moment, ist morgen wirklich schon die Deadline für meine EMMA Kolumne? Hilfe! Es ist Sonntag, spät nachmittags und ich bin vom Wochenende fix & fertig: Kinderschwimmen, Kicken, Kochen, Hausaufgaben, Wutanfälle, Raufereien … Früher, als ich noch nicht als freiwillige Sklavin tätig war, also ganz früher, in meinem Leben vor den Kindern, zeichnete sich mein Wochenende durch Feiern, Freunde treffen und Faulenzen aus. Mittlerweile schnelle ich auch schon ohne Wecker automatisch um spätesten sieben aus den Federn.

Wenn heute alles gut geht und sich keine größeren Notfälle – Norovirus, Platzwunden, Mittelohr-Entzündung, etc. – ereignen, habe ich in knapp vier Stunden die Jungs im Bett.

Glück gehabt, kurz vor neun war endlich Ruhe in der Hütte. Ich habe das Laptop bereits auf dem Schoß geparkt, das Thema in Gedanken schon ausgearbeitet und will gerade voller Enthusiasmus in die Tasten hauen – als mir siedend heiß einfällt: Der Rucksack! Morgen! Ausflug! Es geht in den Wald …

Ich sause die Treppe runter und sammele gewissenhaft alles zusammen, was ein Vierjähriger für einen Survival-Trip in den Frankfurter Stadtwald eben so braucht: Lupe, Regenhose, ­Mückenspray, Sonnenhut, UV-Schutz, Heftpflaster, Ersatzsocken & Co. werden im Rucksack verstaut. Um den Inhalt der Lunch­box würde ich mich in der frühmorgendlichen Großkampf-Phase kümmern können. Der Vollkorn-Käse-Bagel mit frischen Gurken, Tomatenscheiben und Salat wäre ja sonst bei Verzehr nicht mehr frisch!

Im Vorbeigehen registriere ich, dass meine Topfpflanzen dursteten. Die Wüste Gobi muss selbstverständlich auch noch begossen werden. Gähnend schleppte ich mich gegen zehn die Treppe hoch und schnappe meinen Laptop.

Verdammt, was wollte ich noch mal schreiben?

Irgendwie ist mein Hirn im Sumpf des Alltäglichen mal wieder hops gegangen. Wie so oft in den letzten Jahren …

Wann habe ich eigentlich das letzte Mal eine Tageszeitung tatsächlich gelesen, statt sie nur zu überfliegen? Und selbst das habe ich eingestellt. Heutzutage reißt mir meine Mutter Artikel aus und plakatiert sie mahnend in meinem Sichtfeld. Meist verschwinden sie ungelesen in der Schachtel neben meinem Bett.
Direkt daneben: ein babylonisch hoher Stapel aus Büchern, allesamt gekauft und unangetastet. Wann habe ich das letzte Mal eines davon verschlungen? Wann war ich im Museum? Bei einer Lesung? Seit wann sehe ich, statt knallharter Polit-Thriller, lieber kitschige Fantasy-Serien? Seit wann bin ich um neun Uhr abends müde, um halb zehn komatös?

So wollte ich doch nie werden. Ganz fest hatte ich mir vorgenommen: Aus mir wird keine Klischee-Muddi.

Und wo bin ich gelandet? Hirntod in der Jogginghose, gefangen im Familien-Mikrokosmos!

Darf ich blöde Kuh mich überhaupt darüber beschweren?

Im Gegensatz zu Millionen anderen Müttern habe ich gesunde Kinder und auch nur zwei davon, keine finanziellen Nöte, außerdem den Luxus einer Putzhilfe und sogar einen, gelegentlich ganz brauchbaren, Kerl an meiner Seite.

Wie schaffen das nur die anderen? Der Fehler liegt bestimmt bei mir! Oder ist genau das jetzt wieder typische Muddi-Denke? Der Großteil meiner grauen Zellen ist definitiv in Elternzeit und ausschließlich konditioniert auf Brut- und Nestpflege. Himmel, meine Prioritätenliste müsste dringend überarbeitet werden.

Meine neue Politik zu Hause lautet „Muddi First! Es muss auch mal ohne gehen!“ 

Frage der EMMA-Redaktion: Wieso haben deine Kinder eigentlich nur „gelegentlich“ einen Vater, liebe Sonya?

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