Thea geht...

Foto: Images/teutopress
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Thea muss nur noch schnell die Blumen ­gießen. „Bin gleich da!“, ruft sie durch die Balkontür ins Wohnzimmer. Von ihrer ­Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand von Hamburg blickt man in eine Kleingartensiedlung. Als sie in den Raum tritt, lächelt sie. „Ich habe es doch schön hier, oder?“

Thea ist 73. Die blaue Bluse, die sie locker über der Leinenhose trägt, passt gut zu ihrem dunklen Wuschelkopf. In der Vitrine stehen Fotos von den Enkelkindern. Auf dem Tisch warten eine Himbeertorte und ein Schokoladenkuchen. „Bitte“, sagt sie. „Hier ist auch Schlagsahne.“

Thea ist ein Mensch, der es gut mit anderen meint. Sie hat drei Kinder großgezogen, sie hat gearbeitet, bis sie an ihre gesundheitlichen Grenzen stieß. Mit 65 erfüllte sie sich nach 45 Jahren Ehe einen lang gehegten Wunsch: Sie verließ ihren Mann.

Trennung im Alter. Im allgemeinen Bewusstsein sind es die Männer, die den Schritt gehen, um noch einmal mit einer Jüngeren neu anzufangen. Öffentlichkeitswirksam zelebrierte Trennungen von Prominenten scheinen das zu bestätigen. Die Statistiken kommen allerdings zu einem anderen Ergebnis. Danach geht bei späten Scheidungen die Initiative vorrangig von den Frauen aus.

Seit Anfang der 90er-Jahre hat sich die Zahl derjenigen, die nach 25 und mehr Ehejahren die Scheidung einreichen, mehr als verdoppelt. Wie die aktuelle Scheidungsstatistik zeigt, waren 2017 etwa 27.000 aller geschiedenen Paare bereits mindestens im 25. Ehejahr. Das sind 17,5 Prozent. In 49 Prozent der Fälle stellten die Frauen den Antrag, in 43 Prozent waren es die Männer.

Pasqualina Perrig-Chiello, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern, hat in einer sechsjährigen Studie das Phänomen für die Schweiz untersucht. Hier geht in mehr als der Hälfte der Spät-Scheidungen die Initiative von den Frauen aus. Je später die Trennung, desto häufiger. Bei den über 65-Jährigen sind es sogar in zwei Drittel der Fälle die Frauen, die die Ehe beenden.

Dass eine Scheidung kein gesellschaftliches Tabu mehr ist, spielt dabei ebenso eine Rolle wie die zunehmende ökonomische Unabhängigkeit der Frauen.

Pasqualina Perrig-Chiello hat neben 1.000 spät Geschiedenen auch 1.000 lang Verheiratete zwischen 40 und 65 Jahren befragt. Ihre Ergebnisse lassen vermuten, dass die Scheidungsquote bei Älteren noch viel höher wäre, wenn sie sich trauen würden, den Schritt zu gehen: 41 Prozent der Paare, die länger als 30 Jahre verheiratet waren, gaben demnach an, unzufrieden mit ihrer Ehe zu sein.

Insgesamt offenbarte sich in der Studie eine Generation, die auch im Rentenalter noch viel vom Leben will und hohe Ansprüche an das Beziehungsleben stellt. Die steigende Lebenserwartung. stellt Ältere vor die Frage, ob sie ihre Zeit wirklich mit dem Menschen teilen wollen, mit dem sie häufig sonst nicht mehr viel teilen. Die Kinder sind längst aus dem Haus, die Eltern verstorben oder im Altersheim versorgt. Die Familie als Zweckgemeinschaft löst sich auf. Warum nicht noch mal neu anfangen? Ohne den Partner.

Sexuelle Untreue beziehungsweise eine neue Liebe stehen bei Älteren mit 40 Prozent nur an dritter Stelle der Trennungsgründe. Die Unfähigkeit, miteinander auszukommen, ist die zweithäufigste Ursache. Bei mehr als 50 Prozent ist es die Entfremdung. 80 Prozent der Frauen beklagten, dass sie schon lange nicht mehr mit ihren Männern reden konnten.

Dass Männer tendenziell eher an ihrer Kommunikationsfähigkeit arbeiten müssen als Frauen, zeigte ein anderes Ergebnis der Studie. Danach hatte gerade mal einer von fünf Männern angegeben, Probleme in der Beziehung zu thematisieren. Bei den Frauen waren es neun von zehn. Eine andere Studie unter spät Geschiedenen der Jahrgänge 1940 und 1950 befragt hat ergab: Neun von zehn verlassenen Männern reagierten fassungslos – selbst jene, die sich bereits außerehelich vergnügt hatten.

Als Thea ihrem Mann Wolfgang das Eheaus verkündete, fiel der allerdings nicht aus allen Wolken. Sie hatte es schon einmal versucht, war ausgezogen. Mit Mitte 40 war das, in den 80er-Jahren. „Das war eine Katastrophe“, sagt sie. Theas Eltern stellten sich hinter den verlassenen Schwiegersohn, machten ihrer Tochter schwere Vorwürfe. Und die 16-jährige Tochter wollte mit der Mutter nichts mehr zu tun haben. Als Wolfgang ihr in einem langen Gespräch versicherte, er werde sich ändern, kehrte sie nach zwei Monaten zurück. Doch es dauerte nicht lang, und alles fühlte sich an wie zuvor.

Dabei hatte die Ehe so hoffnungsvoll begonnen. Thea war Bürokauffrau. Wolfgang arbeitete als Kfz-Meister in einer Spedition. Als sein Chef eine Nachfolge für den Betrieb in einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt suchte, sagten sie zu. Da waren sie eineinhalb Jahre verheiratet. Das erste Kind war drei Monate alt. Thea nahm den Kleinen mit ins Büro. „Unser Fleiß war unser Kapital“, sagt sie.

Das Geschäft lief gut. Im Abstand von zwei Jahren kamen noch zwei Töchter zur Welt. Kinder und Haushalt meisterte Thea nebenbei, allein. Wenn sie Wolfgang um Hilfe bat, gab es Streit. Manchmal war sie so erschöpft, dass sie kaum die Treppe zum Schlafzimmer hochkam. „Aushalten, durchhalten, Maul halten! Das war meine Devise“, erinnert sie sich. „Ich hätte viel eher die Notbremse ziehen müssen.“ Dachten sie an eine Paartherapie? Thea schüttelt den Kopf. Über Pro­bleme zu reden hätten sie beide nicht gelernt. Man habe sich entweder gestritten oder vertragen.

Irgendwann bekam Thea quasi wöchentlich eine schwere Migräneattacke. Eine schwächelnde Frau, das passte für Wolfgang nicht in das durchgetaktete Leben, in dem jeder funktionieren musste. Auch er verlangte sich zu viel ab. „Er war nur jemand, wenn er was leistete“, sagt Thea. Sie wünschte sich Zeit zum Durchatmen. Und Wolfgang reagierte, buchte ein Wochenende in einem Wellnesshotel an der Nordsee. Thea freute sich auf die Zeit zu zweit. Aber dann mussten sie ­vorzeitig abreisen, weil es ein Problem mit einem Lkw gab. Thea fragte ihn auf der Rückfahrt, was ihnen das ganze Geld nütze, wenn sie keine Zeit hätten, es auszugeben.

Thea setzte immerhin durch, dass sie weniger Stunden im Büro war, mehr Zeit für die Kinder hatte. Sie meldete sich bei einem Literaturkurs an und engagierte sich im Kirchenvorstand. Doch Wolfgang hatte immer neue Ideen, wie man die Firma noch größer machen konnte. Bald saß sie wieder bis spätabends im Büro. „Ich hatte doch auch die Verantwortung für 20 Mitarbeiter.“

Schließlich bekam Thea Herzrhythmusstörungen und chronische Magenschmerzen. Als sie ihn mit 65 anflehte, endlich an eine Nachfolge für den Betrieb zu denken, reagierte er verständnislos. Er war 67 und hatte doch noch so viele Ideen. „Für mich war spätestens jetzt klar, dass ich handeln musste.“ Theas Töchter wohnen in Hamburg mit ihren Familien. Sie beschloss, sich in deren Nähe eine Wohnung zu suchen. „Nachdem ich dort eingezogen war, habe ich erst mal nur geschlafen.“ Am Anfang waren da auch noch Zweifel. Aber ihre Freunde konnten sie verstehen, auch die Kinder akzeptierten nun die Entscheidung.

Wolfgang litt. Sie telefonierten regelmäßig. Wenn er fragte, ob sie nicht zurückkommen wolle, sagte sie Nein. Nach etwa einem halben Jahr sei er mit der Situation zurechtgekommen. Seitdem besuchen sie sich gelegentlich, treffen sich auf Familienfeiern.

Wie die Schweizer Studie herausfand, sind Männer nach Trennungen besonders gefährdet, dauerhaft unter ernsthaften psychischen Problemen zu leiden. Sie seien emotional abhängiger von ihren Frauen als umgekehrt. Für viele Männer sind die Frauen bei persönlichen Schwierigkeiten die wichtigsten Gesprächspartner. Kaum verwunderlich, dass sie größere Probleme damit haben, plötzlich allein zu sein und sich wesentlich schneller als die Frauen in eine neue Beziehung stürzen. Frauen sind dagegen eher bereit, sich professionelle Hilfe zu suchen. Und sie sind meist besser vernetzt.

Auch Thea sagt, dass sie keine Sehnsucht nach einer Partnerschaft habe. Das Alleinleben gehöre zu den schönsten Folgen ihres Ausbruchs aus der Ehe. Sie erinnert sich noch genau an den Moment, in dem sie spürte, wie gut es ihr tat, sich treiben zu lassen, einfach mal nur den eigenen Bedürfnissen zu folgen. Eine Woche nach dem Auszug war das. Sie saß in ihrer kleinen Küche beim Frühstück, im Radio lief ein interessanter Beitrag. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie hier jetzt so lange sitzen und Tee trinken und zuhören konnte, wie sie wollte.
Acht Jahre liegt das zurück.

Im Wanderklub und im Kirchenchor hat sie Frauen kennengelernt, mit denen sie ins Theater geht, Silvester feiert, verreist. Und dann sind da ja auch ihre Töchter, die berufstätig sind und froh über Theas Unterstützung seien. Sie bügelt deren Blusen, backt Kuchen für Schulveranstaltungen der Enkel. „Die Mutter und Großmutter, die sich gerne kümmert, die bin ich nun mal auch.“

Kürzlich wurde sie von einer türkischen Nachbarin eingeladen. Vier Frauen, Thea war die einzige ohne Migrationshintergrund. „Das war ein wunderbarer Nachmittag“, sagt sie.

Vor einiger Zeit war sie mit einer Freundin auf einem Rummelplatz. Sie sind in einem hohen Kettenkarussell durch die Luft geflogen. „Mit Wolfgang habe sie das nie getan.“

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