Ulrike Guérot: Vor die Wand

Ulrike Guérot wurde von der gefeierten Europa-Expertin zur "Persona non grata". - Foto: Dr. M Burchhardt
Artikel teilen

Sie fühlt sich, als wäre sie „gegen eine Betonwand gerannt“. Und zwar in vollem Lauf. Losgerannt ist Prof. Ulrike Guérot als hochrenommierte Expertin für Europafragen. Für ihre „Verdienste um die europäische Idee“ zeichnete Frankreich 2003 die Politikwissenschaftlerin, die heute an der Uni Bonn lehrt, mit dem Verdienstorden „Ordre National du Mérite“ aus. Als Bundespräsident Joachim Gauck 2013 zum Staatsbesuch nach Frankreich reiste, nahm er Ulrike Guérot in seiner Delegation mit. Ihr Buch „Warum Europa eine Republik werden muss!“ wurde 2016 zum Bestseller und in acht Sprachen übersetzt.

„20 Jahre lang wurde ich in Deutschland als ‚glühende Europäerin‘ gefeiert“, erzählt Guérot im Gespräch mit EMMA. „Wenn ein EU-Gipfel stattfand, rief meistens morgens irgendein ARD-Radio-Studio an und saß ich abends bei Maybritt Illner.“ Dann kam Corona und Ulrike Guérot wurde im November 2021 zum ersten Mal ausgeladen. Warum? Die umtriebige Europa-Professorin ist weder Corona-Leugnerin noch Impfgegnerin. Sie hatte lediglich die „rigiden und zum Teil willkürlichen“ Maßnahmen der Regierung scharf kritisiert. Vor allem aber war ihr aufgestoßen, dass offenbar nur noch eine Meinung als die richtige und sagbare galt.

Dass sie daraufhin auf Twitter Morddrohungen bekam, war das eine. Dass zum Beispiel die Uni Frankfurt sie im Frühjahr 2021 zunächst von einem Podium auslud, auf dem sie über „Europa und Nation“ reden sollte, war das andere. Richtig oder falsch, schwarz oder weiß, gut oder böse? Da scheint es kein Dazwischen mehr zu geben. „Wegen meiner Haltung zu Corona hat sich mein Freundes- und Kollegenkreis von mir abgewandt, die sogenannte ‚Kontaktschuld‘ war greifbar“, bedauert Guérot.

Ulrike Guérot geriet ins Stolpern, rappelte sich aber wieder auf und lief weiter. Als im Februar 2022 der Ukraine-Krieg begann, „wollte ich eigentlich nichts dazu sagen, weil ich gemerkt habe, dass das noch anstrengender wird“. Aber schweigen, wenn sie etwas grundfalsch findet, ist nicht ihre Art. Sie hat gelernt, sich gegen Widerstände durchzusetzen.

„Du glaubst doch nicht, dass du dein Leben mit Politikwissenschaft finanzieren wirst!“, knallte ihr die Mutter an den Kopf und dem Schuldirektor die Tür vor der Nase zu, als der die Eltern davon überzeugen wollte, die Tochter studieren zu lassen. Die aber wusste: „Du hast nur eine Chance, hier rauszukommen: Bildung! Bildung! Bildung!“

Raus aus einem kleinbürgerlichen, bildungsfeindlichen Elternhaus, in dem „noch das Patriarchat regierte und Frauen nichts zu sagen hatten“. Hinter den „Angélique“-Kitschromanen der Mutter entdeckte sie eines Tages Alice Schwarzers „Kleinen Unterschied“. Trotzdem blieb die Mutter im Reihenhaus in Grevenbroich. Tochter Ulrike jedoch ging als Au-pair nach Paris, heiratete mit 25 einen Franzosen, bekam mit ihm zwei Söhne, ließ sich scheiden, wurde alleinerziehende Mutter – und Politikwissenschaftlerin.

Wenn Ulrike Guérot das Gefühl hat, dass jemand sie einengen will, bricht sie aus. Also ging sie im Juni 2022 zu Markus Lanz, um zu erklären, dass „der Ukraine-Krieg nicht am 24. Februar begonnen, sondern sich seit dem Maidan 2014 aufgebaut hat“. Und dass auch die USA dabei eine entscheidende Rolle spielten. Dafür wurde die Europaexpertin derart niedergeschrieen, dass die Berliner Zeitung die Sendung als „Tiefpunkt bei der Erfüllung des Sendeauftrags der Öffentlich-Rechtlichen“ bezeichnete: „Ulrike Guérot war offenbar nur zu einem Zweck eingeladen worden: um ein Exempel an ihr zu statuieren.“

Doch die 58-Jährige ließ sich nicht den Mund verbieten. In nur vier Wochen schrieb sie im September das Buch „Endspiel Europa“ (siehe Auszug S. 16). Seither erlebt sie Cancel Culture im Reinformat. „Kaum war eine Einladung draußen, folgte auch schon die Ausladung.“ Zuguterletzt distanzierte sich ihre eigene Universitätsleitung von ihr. 

Seit Mitte Oktober ist die Politikwissenschaftlerin krankgeschrieben. Denn wenn man gegen eine Betonwand rennt, „dann tut das weh, man prallt ab und fällt um“. Eine „so rigorose Schließung der Diskurskorridore“ habe sie „in der Bundesrepublik noch nie erlebt“, sagt sie. Aber Ulrike Guérot wird zweifellos wieder aufstehen und weiter gegen Denk- und Sprechverbote kämpfen.

Ausgabe bestellen
Anzeige
'
 
Zur Startseite