Vom Osten lernen!

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Seitdem landauf, landab Personal gesucht wird, erinnert sich die Wirtschaft an eine Geheimwaffe: Die Gleichberechtigung! Die Frauen! Kürzlich veröffentlichte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) einen Zehn-Punkte-Plan für den besseren Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt.

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Das ist überfällig, wenn man bedenkt, dass viele Frauen – vor allem Mütter – am liebsten mehr berufstätig sein würden, aber nicht können, weil sie Kinder oder alte Verwandte betreuen. Laut einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft gehen 69 Prozent der Mütter mit Kindern unter drei Jahren keiner Erwerbsarbeit nach, aber nur 27 Prozent von ihnen wollen das auch so. Bleiben 42 Prozent – ratlos.

Die Arbeitgeber fordern in ihrer To-Do-Liste: die Überwindung von Rollenklischees, die Unterstützung von Frauen bei der Ergreifung naturwissenschaftlicher Berufe, den Ausbau von Kita- und Hortplätzen, die Erhöhung der Vätermonate und die Abschaffung der kostenlosen Mitversicherung von Ehegatten in der Krankenkasse. Auch wenn das Wort „feministisch“ nicht auftaucht, liest es sich doch wie ein feministisches Manifest. Selbst am heiligen Gral des deutschen Konservatismus, dem Ehegattensplitting, wollen sie rütteln: „Die negativen Erwerbsanreize des Ehegattensplittings für Zweitverdienende müssen in den Blick genommen werden.“ Ja, bitte, für den FDP-Finanzminister zum Mitschreiben!

Die Reaktionen der Politik auf den im August 2022 veröffentlichten Plan waren verhalten freundlich. Es sei zu begrüßen, dass die Arbeitgeber viele zentrale Positionen und Anliegen des Bundesfamilienministeriums aufgreife, teilte eine Sprecherin auf Anfrage der EMMA mit. Gleichzeitig wies die Sprecherin auf die vielen Initiativen hin, die es bereits gebe, darunter ein „Aktionsprogramm gegen Rollenklischees“, die gesetzliche Frauenquote (die die Arbeitgeber ablehnen), den Anspruch auf Ganztagsbetreuung, Veränderungen bei den Steuerregeln.

Schön und gut, das reicht offenbar aber nicht. Und es lohnt sich auch, genau hinzuschauen: Laut Bertelsmann Stiftung werden 2023 rund 385.000 Kita-Plätze fehlen. Allein das zusätzlich benötigte Personal würde 4,3 Milliarden Euro kosten. Doch das seit 1958 existierende und seit den 1970er Jahren bekämpfte Ehegattensplitting soll beispielsweise immer noch nicht angetastet werden – obwohl dessen Abschaffung seit Jahrzehnten wiederholt im Parteiprogramm der SPD stand. Dabei würde es dem Staat rund 22 Milliarden Euro pro Jahr sparen. In Anspruch genommen wird es vor allem in den westdeutschen Bundesländern.

Auch die Summe für den Kita-Platzausbau, 5,4 Milliarden Euro, klingt weniger imposant, wenn man bedenkt, dass sie sich auf die Investitionen seit 2008 bezieht. Das Geld wurde zu einem großen Teil nicht in die Verbesserung der Qualität gesteckt, sondern in Gratis-Kitas. 2022 und 2023 unterstützt der Bund mit rund fünf Millionen Euro den Kita-Bau der Kommunen. Auch das klingt gut, und trotzdem herrscht überall Mangel: Im Oktober 2022 warnten 109 Professorinnen und Professoren für frühkindliche Bildung vor einem „Kollaps des Kita-Systems“, weil durch die Corona-Krise die Anforderungen gestiegen seien, während sich zugleich der Fachkräftemangel verschärft habe.

So gut die Vorschläge und Initiativen sein mögen, sie weisen einen fundamentalen Fehler auf. Sie blenden aus, dass wir es nicht mit einem, sondern mit zwei Deutschland zu tun haben: dem Sonderfall Westdeutschland und dem Osten Deutschlands, das bei der Frauenerwerbstätigkeit, Lohnlücken und Betreuungsinfrastruktur eher mit Ländern wie Schweden oder Finnland zu vergleichen ist. Anders gesagt: Wenn man die Frauenerwerbstätigkeit erhöhen will, könnte man vom Osten Deutschlands lernen. Die Frauen im Osten haben eine höhere Erwerbsbeteiligung, die Lohn- und Rentenlücke ist kleiner. „Female Empowerment“ auf ostdeutsch.

Die Frauen im Westen haben zwar in den vergangenen dreißig Jahren stark aufgeholt, was die Erwerbsbeteiligung angeht, seien aber dann auf halber Strecke stehengeblieben. Das sagt Michael Behr, Honorarprofessor an der Westsächsischen Hochschule Zwickau im Gespräch mit EMMA. Er lebt und arbeitet seit 26 Jahren in Thüringen. „Sobald Kinder da sind, schnappt die Falle zu“, fügt er hinzu.

Die Unterschiede zeigen sich vor allem in den ersten drei Jahren nach der Geburt eines Kindes, wie Experte Behr darlegt. Westmütter lassen sich sehr viel mehr Zeit nach der Geburt, bis sie wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren. Während 51 Prozent der Ostmütter bereits 15 Monate nach der Entbindung wieder im Beruf arbeitet, ist es im Westen nur jede Dritte. Ostdeutsche Mütter steigen mit im Schnitt 16 Stunden pro Woche wieder ein, westdeutsche Mütter mit nur 8,5 Stunden. Westdeutsche Frauen kommen kurz vor dem 18. Geburtstag ihres Kindes auf ein Arbeitsvolumen von 22 Wochenstunden – ostdeutsche Frauen erreichen das, wenn ihre Kinder etwa drei Jahre alt sind.

Entsprechend wächst bei westdeutschen Frauen von Jahr zu Jahr die Einkommenslücke im Vergleich zu ihren Männern. Sie werden im Vergleich zu ihrem Partner karrieretechnisch abgehängt. Deshalb ist im Osten auch der Gender Pay Gap geringer, er beträgt laut Statistischem Bundesamt 2021 nur sechs Prozent – im Vergleich zu 19 Prozent im Westen.

Warum? Ostdeutsche Mütter haben eine andere Tradition und andere Vorbilder. Ihre Mütter waren voll berufstätig. Sie haben begriffen, dass es Freiheit bedeutet, sein eigenes Geld zu verdienen. Und sie sind bis heute strukturell im Vorteil: Kitas und Horte mit langen Öffnungszeiten und kostenlosem Mittagessen, die es bereits zu DDR-Zeiten gab, stehen bis heute zur Verfügung. Wenn man sich die Studien anguckt, fällt auf, dass auch der große Personalmangel eher ein Westphänomen ist.

In Ostdeutschland geht zum Beispiel mehr als jedes zweite Kleinkind unter drei Jahren in die Kita, im Westen ist es nur knapp jedes Dritte (Statistisches Bundesamt 2022). Dieser große Unterschied lasse sich nicht nur mit einem Mangel an Angeboten erklären, sagt auch Arbeitsmarktexperte Behr, sondern auch mit einem schwächeren „Nachfragedruck“. Anders gesagt: Die Westdeutschen verlangen weniger. Die Ostdeutschen dagegen haben nach der Wende weiterhin Betreuungsangebote für Kleinkinder gefordert, gerade um auch in schwierigen Zeiten berufstätig sein zu können: „Wir müssen immer zwei Eisen im Feuer haben, um durch diese schwierige Zeit zu kommen“, war eine ganz typische Aussage in den 1990er Jahren, den Zeiten der Arbeitslosigkeit. Im Westen wiederum galt das Prinzip: Ein Kind gehört zur Mutter, nicht in die „Fremdbetreuung“, wie Kitas und Horte oft abschätzig genannt werden. Diesen Merksatz haben westdeutsch sozialisierte Frauen verinnerlicht, auch die Jüngeren, die in den 1980er Jahren groß wurden.

„In Zeiten der Vollbeschäftigung greifen kulturelle und mentale Unterschiede stärker“, sagt auch Behr, der von Düsseldorf über Erlangen nach Jena zog. Er nennt Ostdeutschland „ein gallisches Dorf am Rande des Rabenmütterimperiums“. Beruflich hat er viel mit Rückkehrerinnen aus dem Westen zu tun: Sie berichteten von völlig verschiedenen Arbeitskulturen in den beiden Deutschlands.

Wenn beispielsweise im Osten eine schwangere Frau den Chef informiere, würde er eher sagen: „Ich freu mich für Sie.“ Im Westen heißt es: „Ich dachte, Sie wollten Karriere machen.“ Während sich Frauen im Osten dafür rechtfertigen müssten, wenn sie nicht nach einem Jahr wieder in den Job zurückkommen oder sich die Elternzeit nicht partnerschaftlich aufteilen, sei es im Westen andersherum. Man müsse sich rechtfertigen, wenn die Mutter früh wieder arbeitet. Vielleicht sollten die Westchefs Praktika im Osten absolvieren.

In München kann es einem im Jahr 2022 passieren, dass ein Kinderpsychologe einer Mutter sagt, dass ein Kind die ersten drei Jahre seines Lebens nach Hause gehört. Dieses Denken, dass Mutti die Beste fürs Kind ist, prägte auch die Politik in der Pandemie. Die ökonomische Unabhängigkeit vieler ostdeutscher Frauen trägt auch zu einem größeren Selbstbewusstsein bei. Nach Schätzungen tragen Frauen im Osten etwa 45 Prozent zum Haushaltseinkommen bei, im Westen ist es nur etwa ein Drittel. Diese Unterschiede beeinflussen die Verhandlungspositionen: Wer selbst gut verdient und nicht vom Taschengeld des Mannes abhängig ist, kann auch selbstbewusster zu Hause auftreten und Mitarbeit im Haushalt und bei der Kinderbetreuung direkt einfordern.

Die unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen haben zu einer Art „soziologischem Verhütungsmittel“ geführt, wie es Michael Behr nennt: In Westdeutschland bleiben 20 Prozent der Frauen kinderlos, in Ostdeutschland sind es nur 10 Prozent. Im Westen ist auch das reproduktive Verhalten stärker polarisiert: Mehr Frauen bekommen entweder keine Kinder bzw. mehr Frauen bekommen drei und mehr Kinder. In Ostdeutschland gilt das Prinzip: Ein Kind geht immer, und dann schauen wir mal.

Es ist nicht so, dass es den ostdeutschen Frauen leicht gemacht wurde, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Nach der Vereinigung 1990 verloren zwei Drittel der Frauen in den neuen Bundesländern ihren Job. Das schlug sich in hohen Arbeitslosenzahlen nieder – zum Ärger der männlichen Politiker. Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland ist der „unseligen Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen“ geschuldet, verkündete der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Bei einem „normalen Erwerbsverhalten“ der Frauen wären die Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern ähnlich wie in Westdeutschland. „Zur Verbesserung der Beschäftigungssituation sollen insbesondere Frauen ihre Selbstverwirklichungsbedürfnisse außerhalb der Erwerbsarbeit befriedigen“, empfahl 1996 die bayerisch-sächsische „Zukunftskommission“.

Doch die ostdeutschen Frauen haben sich nicht hinausdrängen lassen. Für sie war Gleichberechtigung und ökonomische Unabhängigkeit nicht nur ein Accessoire für fette Jahre. Sie schulten um oder suchten sich Jobs im Westen.

Sonderbarerweise gibt es in der öffentlichen Debatte kaum Interesse an den Erfolgen ostdeutscher Frauen. Die großen Themen des intersektionellen Feminismus waren körperliche Selbstbestimmung, Rassismus, Mental Load, Care-Arbeit. Bei Veranstaltungen und Tagungen spielt die ostdeutsche Perspektive meistens keine Rolle. Bei den Debatten kreist man oft um sich selbst. Der Jenaer Arbeitsmarktexperte Behr berichtet, dass man sich auf Konferenzen zur Gleichberechtigung eher auf die Erwerbsquote von Frauen in Schweden als Positivmodell bezieht – obwohl sie in Thüringen höher sei.

Immer wieder wird darauf verwiesen, dass die Frauen im Osten auch mehr Hausarbeit übernehmen. Das stimmt für die DDR-Zeit. Aber man kann auch zur Kenntnis nehmen, dass sich durch die Frauen auch die Männer verändert haben: Ostdeutsche Väter nehmen eher Elternzeit (und länger) und sind auch aktiver im Haushalt. Und wenn man erfolgreichen ostdeutschen Frauen zwischen 35 und 60 Jahren zuhört, reden sie irgendwann von ihren berufstätigen Müttern, was für prägende, inspirierende Figuren sie waren. Im Dezember 2022 äußerte sich schließlich sogar Kanzler Olaf Scholz zum Dilemma. Er erklärte, es gebe „Steigerungspotenzial“ bei der Erwerbstätigkeit von Frauen: „Damit das hinhaut, müssen wir aber Ganztagsangebote in Krippen, Kitas und Schulen ausbauen.“ Während im Osten allerdings das Potenzial dank des Modernisierungsvorsprungs praktisch ausgeschöpft ist, gibt es im Westen unter den Müttern noch Reserven. Man müsste nur vom Osten lernen wollen. Und den Ankündigungen auch Taten folgen lassen.

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