Geschichte geschrieben

© J.L. Cereijido/Agencia EFE/IMAGO
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Nashville, USA, im Juli 2019: Victoria Gray bekommt eine Spritze in den Arm, die ihr Leben verändern wird. Die 34-jährige Mutter von vier Kindern leidet seit ihrer Kindheit unter Sichelzellenanämie, einer angeborenen Krankheit, bei der die roten Blutkörperchen verformt sind. Die Betroffenen, mehrheitlich afrikanischer Herkunft, haben immer wieder unerträglich starke Schmerzen und sterben meist früh. Im Rahmen einer klinischen Studie hat sich Gray Blutstammzellen aus dem Knochenmark entnehmen lassen. Die wurden mit Hilfe eines noch neuen Verfahrens genetisch so verändert, dass sie zu normalen runden Blutkörperchen heranreifen. Die so „redigierten“ Zellen befinden sich in der Spritze, die Gray im Sommer 2019 in Nashville bekommt.

Knapp ein Jahr später, im Juni 2020, zeigt eine Untersuchung, dass sich die neuen Zellen in ihrem Körper durchgesetzt haben: Bereits 81 Prozent ihres Knochenmarks produzieren normal geformte Blutkörperchen. Wie schon im Vorjahr ist ein Radioreporter Zeuge des Geschehens. „Schulabschlüsse, Uni-Examen, Hochzeiten, Enkelkinder – ich dachte, ich würde das alles nie erleben“, sagt die Patientin gerührt in sein Mikrofon. „Jetzt aber werde ich meinen Töchtern bei der Auswahl ihrer Hochzeitskleider helfen können.“

In Berlin hört, ebenfalls gerührt, eine Wissenschaftlerin zu: Emmanuelle Charpentier von der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene. Sie hat das Verfahren mit erfunden, mit dem Victoria Gray in Nashville
behandelt wird. CRISPR/Cas9 heißt es, oft wird es mit CRISPR abgekürzt. CRISPR Therapeutics nennt sich auch das Startup-Unternehmen, das Charpentier 2013 gegründet hat. Es hat die Stammzellentherapie gegen Sichelzellen-Anämie entwickelt. „Als ich Victoria zuhörte, wurde mir klar“, sagt die Wissenschaftlerin „dass das kleine Baby, das ich mit erschaffen habe, das CRISPRVerfahren, bewirkt hat, dass sie nicht länger leiden muss.“

Nur wenige Monate später, im Oktober 2020, bekommt Charpentier einen Anruf aus Stockholm: Sie erfährt, dass sie zusammen mit ihrer Kollegin Jennifer Doudna aus Berkeley, USA, den Chemie-Nobelpreis bekommen wird. Ihr gemeinsames Baby, die CRISPR-Genschere, ist da gerade einmal acht Jahre alt. Doch wie ein Wunderkind hat sie die Welt verändert: In der Welt der Wissenschaft, der Medizin, der Landwirtschaft und der biotechnischen Industrie ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Fast täglich macht CRISPR neue Schlagzeilen. „Tiere mit eingebauter Genschere gezüchtet“, verkündet bild der wissenschaft am 21. April 2021. „Grüne Hoffnung“ verheißt der Spiegel neun Tage später: „Mit neuen Methoden wie CRISPR/Cas9 können Pflanzen erschaffen werden, die von konventionell gezüchteten nicht zu unterscheiden sind.“

Am gleichen Tag verkündet das Max-Delbrück-Centrum in Berlin einen „Meilenstein für die Therapie der Muskeldystrophie“. Erreicht wurde er mit einer Weiterentwicklung der CRISPR-Genschere, dem hochpräzisen Base Editing-Verfahren. „Wir konnten damit erstmals zeigen, dass es möglich ist, kranke Muskelzellen durch gesunde zu ersetzen“, sagt die verantwortliche Medizinerin Simone Spuhler.

Doch nicht nur Hoffnung liegt in der Luft, auch Angst: Bereits 2018 hat He Jiankui, ein chinesischer Kollege von Charpentier und Doudna, ein Tabu gebrochen. Er hat mittels der Genschere menschliche Embryonen verändert, die danach von ihren Müttern ausgetragen und geboren wurden. Die Zwillinge Lula und Nana sowie ein weiteres, anonym gebliebenes Kind werden die Genveränderung, eine Resistenz gegen HIV, an ihre eigenen Kinder weitergeben. Zum ersten Mal haben Menschen in die Evolution des Menschen eingegriffen.

Ist das der Einstieg in ein neues Zeitalter der Menschenzüchtung? Wenn ja, wohin wird es uns führen – in eine „schöne neue Welt“, bevölkert mit perfekten Menschen? Oder zu mehr Ungleichheit und einem „Supermarkt der Gene“?

In der aufgeregten Stimmung, die auf Fachkonferenzen fast körperlich zu spüren ist (nur leicht gedämpft durch Corona und Zoom) richtet ein amerikanischer Buchautor den Schweinwerfer nun auf die handelnden Personen. Walter
Isaacson, Jahrgang 1952, einst Geschäftsführer von CNN und Chef vom Dienst beim Time Magazine, ist fasziniert von Innovatoren: Menschen, die mit ihren Entdeckungen und Erfindungen die Welt verändern. Frühere Biographien von ihm widmeten sich Steve Jobs, Albert Einstein und Leonardo da Vinci. In diese illustre Reihe stellt er zum ersten Mal eine Frau: In seinem breit angelegten Werk „The Code Breaker“ („Die Codeknackerin“) geht es laut Untertitel um „Jennifer Doudna, Genom-Editierung und die Zukunft der Menschheit“. Eine Heldin.

Wird sie dieser Rolle gerecht? Auf den ersten Blick nicht ganz. Selbst Autor Isaacson muss immer wieder feststellen, dass sich die rational argumentierende, zu Reflexion und Selbstkritik neigende Wissenschaftlerin so ganz anders verhält als die „Alpha-Männchen“, mit denen er es sonst zu tun hat. Über weite Strecken agiert sie wie eine typische amerikanische Professorin: überaus tüchtig, gut vernetzt, eine Frau, die zum Teamwork fähig ist und auch Teams aufbauen und führen kann.

Selbst im Privatleben kein Drama, keine Tragik wie etwa bei den Einsteins: Doudnas kurze erste Ehe mit einem Kollegen scheitert, weil sie für die Wissenschaft brennt, während er mit einem Industriejob zufrieden ist und einen gemütlichen Feierabend schätzt. Als zweiten Ehemann wählt sie deshalb nach Erlangung ihrer Professur in Berkeley einen Doktoranden aus ihrem Team, Jamie Cate. Er ist inzwischen selbst Professor, die beiden haben einen Teenager-Sohn, der sich für Roboter und Biotechnologie interessiert. So weit, so normal.

Eine Besonderheit findet der Biograph jedoch in Doudnas Jugend: 1964 geboren, ist sie nicht auf dem amerikanischen Kontinent, sondern auf der Inselkette Hawaii im Zentralpazifik aufgewachsen. Unter den einheimischen Kindern fiel sie auf: groß, blond, ungelenk und mit Haaren auf den Armen. Insbesondere die Jungen verspotteten sie als „haole“ (Weiße). Jennifer musste lernen, sich durchzusetzen und einen Platz für sich zu finden.

Sie ist in der sechsten Klasse, als sie auf ihrem Bett ein Buch findet, ein Geschenk ihres Vaters: „Die Doppelhelix“ von James Watson. Gemeinsam mit Francis Crick hat Watson den Nobelpreis für die Entschlüsselung der DNA-Struktur bekommen. Jennifer Doudna ist fasziniert, aber nicht nur von Watson und Crick. Rosalind Franklin, die bei der Röntgenstrukturanalyse der DNA das entscheidende Foto der Doppelhelix angefertigt hat, hinterlässt einen bleibenden Eindruck bei ihr. „Frauen können Wissenschaftlerinnen sein“, wird dem Mädchen klar. Die Strukturbiologie der Gene wird zu ihrem Lebensthema.

Ein ähnliches Erlebnis hat die fünf Jahre jüngere Emmanuelle Charpentier, die in der Nähe von Paris aufwächst. Doch genügt ihr ein männliches Idol: Louis Pasteur. Gleichzeitig mit seinem deutschen Rivalen Robert Koch hat er im 19. Jahrhundert die Mikrobiologie begründet, die Wissenschaft von den nützlichen und schädlichen Mikroben. „Hier werde ich einmal arbeiten“, verkündet die zwölfjährige Emmanuelle ihrer Mutter bei einem Spaziergang entlang des Pasteur-Instituts in Paris. Und so geschieht es: Charpentier wird Mikrobiologin und verfasst ihre Doktorarbeit am Institut Pasteur.

Die in Deutschland forschende Französin Charpentier spielt in Isaacsons Buch nur eine Nebenrolle, schließlich hat er sich Jennifer Doudna als Heldin ausgesucht. Eine Hauptrolle spielt sie jedoch in der Geschichte der CRISPREntdeckung. Seit die seltsamen Gensequenzen, die der CRISPR-Struktur den Namen geben („Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“) in den 1990er Jahren bei bakterien-ähnlichen Einzellern (Archaeen) entdeckt worden sind, hat Charpentier deren Funktion am tiefsten durchdrungen: Bakterien und Archaeen wehren sich mit ihrer Hilfe gegen Viren. Sie erkennen deren DNA wieder und schneiden sie mit Hilfe von Enzymen (den Cas-Enzymen) entzwei. Auch eine kleine RNA-Sequenz mit Namen „tracr“ muss dabei zu Hilfe kommen, das hat Charpentiers Wiener Master-Studentin Elitza Deltcheva 2011 gezeigt.

2011 ist Charpentier, die von Isaacson als rastlose Wanderin geschildert wird, jedoch noch mit dem Umzug ihres Labors von Wien ins schwedische Umeå beschäftigt. Ihr Team ist in Wien zurückgeblieben, und keiner hat Zeit für den
nächsten Schritt: die Rolle der tracr-RNA im Reagenzglas experimentell genauer zu prüfen. Darum sucht Emmanuelle Charpentier den Kontakt zu Jennifer Doudna. Sie gilt als Expertin für RNA-Strukturen und interessiert sich neuerdings ebenfalls für das CRISPR-System.

Auf einer Mikrobiologen-Konferenz in Puerto Rico spricht Charpentier die Kollegin an. Ob einer ihrer Mitarbeiter aushelfen könne – im Rahmen einer Kooperation? Schnell findet sich ein Team. „Die Zusammenarbeit war wie ein
Modell der Vereinten Nationen“, schreibt Isaacson. „Eine Professorin in Berkeley mit Wurzeln in Hawaii, ihr Postdoc, ein Tscheche, eine Pariser Professorin mit Arbeitsplatz in Schweden und ihr in Polen geborener Postdoc in Wien.“ Tägliche E-Mails und Skype-Telefonate treiben die Laborarbeit rund um die Uhr voran.

Am Ende kann das kleine Team nicht nur zeigen, wie das CRISPR-System in Bakterien funktioniert, sondern auch, wie man aus der bakteriellen Genschere auf einfache Weise ein universelles Präzisionswerkzeug für die Gentechnik anfertigen kann. Am 17. August 2012 erscheint die gemeinsame Arbeit in Science – es ist der Aufsatz, der Charpentier und Doudna den Nobelpreis bringt. Allerdings haben sie zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr allein die Nase vorn. Konkurrierende Teams, vor allem in Boston, haben das Potenzial des CRISPR-Systems erkannt und eigene Experimente gestartet – und zwar gleich an menschlichen Zellen. Es entwickelt sich ein erbitterter Wettkampf um Prioritäten und Patente, der mehrere Jahre im Leben der Akteure und viele Seiten in Isaacsons Biographie füllt. Der Journalist stellt sie alle vor: die Helden und die Schurken im CRISPR-Drama, dessen Ausgang lange offen bleibt.

In dieser hässlichen Zeit der Konkurrenz entfremden sich die beiden Professorinnen voneinander. „Wir haben all unser Material mit dem Labor in Berkeley geteilt“, klagt Emmanuelle Charpentier 2015 gegenüber bild der wissenschaft.
„Damit wurde aus einer europäischen Story eine amerikanische Story. Als ich das letzte Mal zu Besuch in den USA war, schien ich gar nicht mehr dazuzugehören.“ Die Französin konzentriert sich auf ihre Forschung in Deutschland, erst in Braunschweig, seit Ende 2015 in Berlin.

Gleichzeitig wächst Jennifer Doudna in den USA in eine neue Rolle hinein. Sie ist beunruhigt vom rasanten Tempo, mit dem ihre Entdeckung in die Praxis umgesetzt wird, fürchtet Missbrauch und eine neue Eugenik. Im Frühjahr 2014
erscheint ihr im Traum Adolf Hitler. Er hat Block und Stift dabei und will sich über CRISPR informieren. Samuel Sternberg, ein jüngerer Kollege, trifft sich derweil mit einer Unternehmerin aus San Francisco. Unter dem Label „Happy Healthy Baby“ will sie künftig ihren Kunden nur noch genetisch gesunde In-vitro-Embryonen verkaufen – CRISPR soll es möglich machen.

Doudna beginnt zu mobilisieren für eine Selbstregulation der Wissenschaft. Nicht gesetzliche Verbote für die Forschung sind ihr Ziel, jedoch ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, welche Anwendungen erlaubt sein sollen
und welche nicht. Es gelingt ihr sogar, mit Paul Berg und David Baltimore zwei Wortführer einer Bewegung zu reaktivieren, die 1975 in einer berühmten Konferenz im kalifornischen Asilomar den Anstoß zu Sicherheitsregeln in der sich gerade neu entwickelnden Biotechnologie gegeben haben – Regeln, die immer noch gültig sind. Asilomar II findet ebenfalls in Kalifornien statt: Im Januar 2015 treffen sich 20 besorgte Wissenschaftler im Napa Valley. Große Konferenzen in Washington und Hongkong folgen. Mit Samuel Sternberg zusammen schreibt Doudna 2017 ein wegweisendes Buch. Unter dem Titel „Eingriff in die Evolution. Die Macht der CRISPR-Technologie und die Frage, wie wir sie nutzen wollen“ erscheint es ein Jahr später auf Deutsch.

Die Kapitel, in denen Jennifer Doudna als „öffentliche Wissenschaftlerin“ agiert und politisch Strippen zieht für eine verantwortungsvolle Anwendung der neuen Gentechnologie, gehören zu den spannendsten und überzeugendsten in
Isaacsons Biographie. Hier reift die Forscherin wirklich zur Heldin. Auch wenn es ihr nicht gelingt, den chinesischen Kollegen He Jiankui – der Doudna bewundert und immer wieder ihre Nähe sucht – von seinem Coup abzubringen,
genetisch veränderte menschliche Babys zu produzieren – sie hat es wenigstens versucht.

Das Jahr 2020 ist von Corona überschattet. Sowohl Doudna als auch Charpentier beginnen Forschungen zu dem gefährlichen Virus – und wie man ihm mit der Genschere beikommen könnte. Anlässlich einer virtuellen Konferenz, bei
der Isaacson moderiert, an der Charpentier jedoch nicht teilnehmen kann, bringt der Buchautor die beiden Nobelpreisträgerinnen noch einmal miteinander ins Gespräch – in einer separaten Dreierkonferenz. „Sie haben sich voneinander entfremdet, wissenschaftlich und persönlich“, fragt er vorsichtig an. „Vermissen Sie Ihre frühere Freundschaft nicht?“

Er muss nicht lange fragen. Beide werden rasch persönlich, tauschen Fotos und Erinnerungen aus, Doudna nennt Charpentier beim Kosenamen: „Manue“. Sie wollen wieder zusammenarbeiten, beschließen sie. Spätestens 2022 wollen
sie sich Zeit nehmen – für einen Neustart miteinander.

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