Pop-Emanze oder Porno-Queen?

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Mit der Behauptung, Lady Gaga mache da etwas ganz Innovatives und führe die Gesetze der Popwelt ad absurdum, ist es ein bisschen wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Wann, fragt man sich, ruft endlich ein klarsichtiger Musik-Journalist wie das Kind im Märchen: „Aber Lady Gaga ist ja nackt!“ Das ist sie nämlich - im doppelten Sinn. Was Lady Gaga tut, ist nichts als die Neuauflage alter Hüte, die schon Madonna trug.

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Was bitte ist in einer chronisch übersexualisierten Welt so innovativ daran, in fleischfarbenen Bikinis durch die Gegend zu tänzeln? Auch die Insignien der Pornowelt, aus denen sich die platinblonde Lady bedient, stammen aus der Domina-Mottenkiste. Ohne SM ging schon bei Madonna nichts, und so sind auch im aktuellen „Alejandro“-Video Lederriemen und Peitschen die entscheidenden Requisiten. Und auch die Sündennummer – Lady Gaga von mehreren Herren aufs Kreuz gelegt – hat schon Luisa Ciccone nicht nur mit ihrem Künstlernamen bespielt.

Aber es ruft niemand. Jedenfalls niemand von den Journalisten. Im Gegenteil. Seit Stephanie zu Guttenberg die zunehmende Pornografisierung der Pop-Protagonistinnen von Rihanna bis Aguilera – beklagte, muss sich „Latex-Steffi“ (taz) darüber belehren lassen, dass die Kaiserin keinesfalls nackt ist. Sie habe lediglich ihren „Körper zum Kunstwerk erklärt“, erläutert Tobias Rapp im Spiegel. Und folgert: „Lady Gaga ist der Andy Warhol unserer Tage.“ Aber: Hat schon mal jemand Andy Warhol nackt gesehen? Oder zumindest halbnackt, im knappen Latex-Höschen? Nein? Eben.

Zugegeben, Lady Gaga dreht die Geschlechterrollen gelegentlich um, indem sie ihre Brüste via MP zur Waffe macht; und ja, sie penetriert für ein paar Millisekunden selbst das Hinterteil eines Herrn. „Handschellen sind okay, solange ich den Schlüssel dazu habe“, verkündete einst Madonna. Auch Lady Gaga lässt keinen Zweifel daran, dass sie stets Handelnde und sexuelles Subjekt ist. Aber sie ist eben, wie ihre um ein Vierteljahrhundert ältere Kollegin, immer und überall - sexuell. Und das nervt.

Daran ändern auch ihre Fleischkleider und Turmfrisuren nichts. Denn: Die Konkurrenz schläft nicht. Während Madonna Leder, Latex und ein spitzer Gaultier-Bustier als Alleinstellungsmerkmal einst reichten, hebt der heutige MTV-Zuschauer bei solcherlei Kleidung nicht einmal die Augenbraue. Rihanna wickelt sich in Stacheldraht, Christina kriecht als glänzende Latexwurst am Boden. Da muss, wer mit nettem Pop die Königin der Klickzahlen werden will, die Schraube eben eine Runde weiterdrehen. Aber die Währung, in der auch Lady Gaga für die viele Aufmerksamkeit zahlt, ist Sexualisierung.

Nun heißt es in den klugen Feuilletons, Lady Gaga spiele das Sex-Spielchen gar nicht wirklich mit, weil sie bei all dem Getänzel in Latex und Leibchen so kalt und desinteressiert aus der Wäsche guckt. Aber was bitte ist so cool an Kälte? Lady Gaga lässt sich als Nonne im roten Latex-Gewand von mehreren Männern begatten. Hilft es da wirklich weiter, dass sich dabei in ihrem Gesicht gerade mal ihre Lippen bewegen? Oder könnte das doch ein klitzekleines bisschen pornografisiert sein?

Nun könnte man über all das gelangweilt gähnen und beim gefühlten 1.256 Ertönen von „Ale-Ale-Alejandro“ einfach das Radio ausschalten. Aber: Unter der Anhängerschar der Lady Gaga tummelt sich eine nicht unbeträchtliche Zahl Mädchen zwischen acht und 18. Ob die die Steinmimik der Penetrierten (oder Penetrierenden) tatsächlich im Sinne der Feuilletons deuten? Oder ob sie womöglich die Gleichung „Sex = Erfolg“ noch eine Runde weiterdrehen in „Gefühlloser Sex = Erfolg“?

Das ist zugegebenermaßen nicht Stefani Germanottas Problem. Aber vielleicht unseres.

Es mag ja sein, dass die Mädels, die Lady Gaga anschwärmen, diese Art Unberührbarkeit cool oder sogar notwendig finden, um mit dem immer unübersichtlicher werdenden Anforderungsprofil klarzukommen, das die Welt an sie richtet. Aber kann die von Lady Gaga konstant zur Schau gestellte Seelenlosigkeit die Lösung sein? Und wünschen wir uns für unsere Töchter ein Vorbild, das die vollständige Abwesenheit von Gefühl gepaart mit totaler Sexualisierung als Lebens- und Erfolgsmotto transportiert?

Mein begründeter Verdacht lautet folgendermaßen: Lady Gaga tut nur so, als ob sie so täte, als ob sie die Popwelt persifliert. Das eigentliche Täuschungsmanöver ist ein anderes: In Wahrheit tut Stefani Germanotta, die ihre Karriere sehr kühl kalkuliert hat, so, als ob sie ein Freak wäre. Sie spielt das Freaksein, während sie sich gleichzeitig der uralten Mittel bedient, die für Frauen in der Popwelt schon immer zielführend waren - wenn kommerzieller Erfolg um jeden Preis das Ziel ist.

Der kalkulierte Freak (4/10)
Fembots (4/10)
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